Armut im Überfluss
Von
Interview: Sabine Nuss

Die Vorstellungen davon, was „Armut“ bedeutet, sind historisch, gesellschaftlich, aber auch individuell sehr unterschiedlich. Das Statistische Bundesamt bezeichnet Menschen in Deutschland dann als „armutsgefährdet“, wenn sie weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Was bedeutet das?
Armut wird hier als relative Größe betrachtet. Sie wird ins Verhältnis zum Medianeinkommen in Deutschland gesetzt. Das heißt, es wird der Betrag ermittelt, der das Einkommen in Deutschland teilt: Die Hälfte der hier lebenden Beschäftigten verdient mehr als diesen Betrag, die andere Hälfte weniger. Alle, die mit ihrem Einkommen unterhalb von sechzig Prozent dieser Schwelle liegen, gelten als armutsgefährdet. Um es plastisch zu machen: Bezogen auf einen Ein-Personen-Haushalt galt man im Jahr 2024 unter einem Nettoeinkommen von 1378 Euro pro Monat als armutsgefährdet. Es gibt jedoch eine breite Debatte darüber, ob Armut relativ oder absolut gemessen werden soll. Misst man sie absolut, würde das bedeuten, zu sagen, dass ein Mensch eine bestimmte Summe braucht, um ein würdiges Leben führen zu können, unabhängig von der Einkommensverteilung in der Gesellschaft. Wie man Armut
definiert, ist also hoch politisch, weil sich daraus natürlich Forderungen an die Politik ableiten lassen.
Und wie definierst du Armut?
Ich würde eher damit beginnen, was eine Gesellschaft tatsächlich in der Lage ist zu produzieren. Die Tafeln werden überrannt von hungrigen Menschen, während die Supermärkte randvoll sind mit Lebensmitteln, wobei das, was sich nicht verkauft, im Hinterhof in Containern entsorgt wird. Es wäre genug für alle da, das gilt sogar global. Nimmt man das zum Maßstab, wird sichtbar, dass der gesellschaftliche Modus von Produktion und Verteilung höchst dysfunktional ist. Der Kapitalismus – erst einige wenige Hundert Jahre alt – ist mit seinem Wachstumszwang eine regelrechte „Produktionspeitsche“. Wir kennen die Bilder von Butterbergen, Industriehalden oder das Phänomen, dass es zu viel Milch gibt, die dann die Bauern zwingt, unter ihrem Produktionspreis zu verkaufen, wodurch sie Gefahr laufen, pleitezugehen. In früheren Gesellschaften gab es Krisen, weil …