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An Hour From The Middle Of Nowhere
Das Immigration Detention Center bei Lumpkin, Georgia, befindet sich nicht nur mitten im Nirgendwo, sondern sogar „An Hour From The Middle Of Nowhere“. Laut Asylanwalt Marty Rosenbluth, Protagonist der gleichnamigen Doku, ist das Absicht: Für die Inhaftierten des größten Abschiebegefungnisses der USA soll es besonders schwierig sein, rechtlichen Beistand oder Familienbesuch zu bekommen. Um ihnen zu helfen, zog Rosenbluth einst von North Carolina nach Georgia und kämpft als einziger Migrationsanwalt im Umkreis von zweihundert Kilometern für die Menschen, denen Abschiebung droht. Seinen Arbeitsalltag und die zahlreichen Struggles, denen seine Klient*innen begegnen, dokumentieren die deutschen Regisseur*innen Kathrin Seward und Ole Elfenkaemper. Diese Aufnahmen, die nur wenige Jahre alt sind, heute zu schauen, fühlt sich auf merkwürdige Weise veraltet und zugleich hochaktuell an. Kaum ein Thema ist derzeit dringlicher in den USA als das rassistische Vorgehen der Regierung gegen nicht-weiße Menschen – und zu sehen, mit welcher Straflosigkeit die Einwanderungsbehörde ICE bereits unter Biden illegale Mittel anwendete, entsetzt. Zugleich guckt man die Doku im Jahr 2025 mit dem Wissen, dass alles nun viel schlimmer ist. Bei all der Düsternis gibt es in „An Hour …“ auch Lichtblicke – nicht zuletzt wegen Rosenbluths unermüdlichen Einsatzes. Er weiß, dass er nicht vielen helfen kann, „aber die Menschen, die wir retten können, darum geht es“. Was wird jetzt aus ihnen? Isabella Caldart

„An Hour From The Middle Of Nowhere“ DE/US 2024 ( Regie: Kathrin Seward, Ole Elfenkaemper. 83 Min., Start: 12.06. )

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Oslo Stories: Träume
Johanne (Ella Øverbye) ist zum ersten Mal verliebt: in ihre Lehrerin Johanna (Selome Emnetu). Als die 17-Jährige die Sehnsucht nach ihrer Lehrerin irgendwann nicht mehr aushält, macht sie sich auf den Weg zu deren Wohnung. Was sie an diesem Abend und in den Wochen darauf erlebt, möchte Johanne nie wieder vergessen – also beginnt sie, ihre Erfahrungen aufzuschreiben. Daraus entstehen 95 Seiten voller Sehnsucht, unglücklicher Liebe und Sex. Ein Jahr später zeigt sie das Dokument ihrer Mutter und Großmutter. Die zwei sind erst schockiert, dann begeistert. Sie sehen in dem Text gro.es literarisches Talent und  diskutieren über eine mögliche Veröffentlichung. Trotzdem bleibt eine Frage offen: Ist Johannes Text eine Autofiktion? Den Film „Träume“ zu sehen, erinnert an heimliche Crushes, Pubertät und Träume, nach denen man sich am nächsten Morgen fürs eigene Unterbewusstsein schämt. Regisseur Dag Johan Haugerud greift in seinem Film nur zweitrangig die problematische Hierarchie zwischen Lehrerin und Schülerin auf, geht dafür aber umso liebevoller auf die Dynamik zwischen Mutter, Tochter und Großmutter ein. Neben großartiger Filmmusik ist es besonders schön, wie selbstverständlich das sapphische Begehren der Teenagerin dargestellt wird: Sexuelle Labels oder Coming-out spielen in „Träume“ keine Rolle. Nele Cumart

„Oslo Stories: Träume“ NOR 2024 ( Regie: Dag Johan Haugerud. Mit Ella Øverbye, Selome Emnetu, Ane Dahl Torp, Anne Marit Jacobsen u. a., 110 Min. )

© 2025 – Filmwelt Verleihagentur

Agent Of Happiness
Das dokumentarische Roadmovie spielt in Bhutan, einem südasiatischen Königreich, in dem die Politik stark auf das Glück der Menschen ausgerichtet ist. Nach dem „Bruttonationalglück“ orientiert sich vieles. Um herauszufinden, was Glück sein kann, werden Amber Kumar Gurung und seine Kolleg*innen auf Reisen geschickt, um die Menschen in dem Land im Himalaya danach zu fragen, was ihnen persönlich Glück beschert. Auf die standardisierten Fragebögen geben die Menschen ganz verschiedene Antworten und sprechen darüber, was sie persönlich glücklich macht und was nicht. Dabei wird auch Gurungs Geschichte beleuchtet: Gurung ist Nepalese und wie vielen anderen Nepales*innen wurde ihm Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre die bhutanische Staatszugehörigkeit entzogen. Gurung lebt somit als Staatenloser in Bhutan – eine Sache, die ihn unglücklich macht. „Agent Of Happiness“ ist eine Doku ohne Sprecher*in. Das macht den Film ruhiger und lässt eine*n selbst herausfinden, was man vom Glück der anderen hält. Der Film gibt einen interessanten Einblick in das individuelle Glücksempfinden der Menschen, die nicht verschiedener sein könnten. Und vielleicht entzündet er auch eine gewisse Sehnsucht – nicht nur in die Ferne (beim Anblick der schönen Bilder aus dem Himalaya-Königreich mit wehenden Gebetsfahnen und Bergpanorama), sondern auch nach einer Politik, in der das Glück an erster Stelle steht. Katrin Börsch

„Agent Of Happiness – unterwegs im Auftrag des Glücks“ BTN/HUN 2025 ( Regie: Arun Bhattarai, Dorottya Zurbó. 93 Min., Start: 03.07. )

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Moria Six
Sechs Jugendliche werden im Jahr 2020 auf der griechischen Insel Lesbos der Brandstiftung bezichtigt und anschließend verurteilt. Sie sollen dafür verantwortlich gewesen sein, das Geflüchtetencamp Moria, in dem zu diesem Zeitpunkt knapp 13.000 Menschen lebten, in Brand gesetzt zu haben. Hassan, einer der verhafteten Jugendlichen, kommt über einen Briefaustausch in Kontakt mit Regisseurin Jennifer Mallmann und erzählt ihr, wie er binnen weniger Tage hinter Gittern für ein Verbrechen saß, von dem er behauptet, selbst dessen Opfer zu sein. Mallmann greift die Geschichte der vergessenen, gar ignorierten „Moria Six“ auf und bewegt sich dafür auf eine Insel, die zum Brennkessel für illegale Pushbacks, fragwürdige juristische Verfahren und Repressionen wird. Sie kratzt dabei nüchtern an der Fassade europ.ischer Grundwerte, enttarnt sie als marode Strukturen und h.lt in ihrem Dokumentarfilm den Ausbau der menschenunwürdigen Festung Europa fest. Menschlichkeit kommt allein dann zum Ausdruck, wenn engagierte Anwält*innen oder erschöpfte Menschen in ihren Asylprozessen zu Wort kommen und in antrainiert resilienter Art über die geplatzten Träume sprechen, die ihnen das System genommen hat. Aleyna Dilan Karakurt

„Moria Six“ DE 2024 ( Regie: Jennifer Mallmann. 82 Min., Start: 22.05. )

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Blindgänger
Inmitten des Hamburger Großstadtalltags wird eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Für die Entschärfung soll das Gebiet drumherum großzügig evakuiert werden. In diesem Setting folgt der Film „Blindgänger“ verschiedenen Protagonist*innen, die durch die Geschehnisse rund um die Bombe betroffen sind und sich teilweise auf unerwartete Weise begegnen: ein junger Geflüchteter und eine ältere, weiß-deutsche Dame; eine unter psychischem Druck stehende Bombenentschärferin, die sich in ihre psychologische Gutachterin verliebt; zwei Männer mittleren Alters, die sich gemeinsam schminken und dann abtauchen in eine queere Partynacht. Die Gefahr einer Explosion spitzt sich zu, parallel dazu verdichtet sich das Drama im Leben der verschiedenen Figuren. Die werden im Film sinnbildlich zu vielen kleinen, stark unter Anspannung stehenden Blindgängern, die hier und da zu explodieren drohen. Visuell wird die Erzählung in grau-regnerische Szenen und symmetrische Stadtbilder eingebettet, die einen ästhetischen Kontrast zum feinfühlig dargestellten Innenleben der Protagonist*innen darstellen. Kerstin Polte gelingt es, ein vielschichtiges Bild von zärtlichen Begegnungen inmitten von Entfremdung und Einsamkeit zu zeichnen – nicht ganz ohne Kitsch, aber dafür mit viel Tiefgang. Mehregan Behrouz

„Blindgänger“ DE/CH 2024 ( Regie: Kerstin Polte. Mit Anne Ratte-Polle, Haley Louise Jones, Lukas von Horbatschewsky, Thelma Buabeng u. a., 90 Min., Start: 29.05. )

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Hot Milk
Sofias (Emma Mackey) Leben wird seit ihrer Kindheit durch die Krankheit ihrer Mutter (Fiona Shaw) bestimmt: Rose hat gelähmte Beine und ständig Schmerzen. Keine Behandlung hat geholfen, ihre letzte Hoffnung ist ein Spezialarzt mit psychosomatischem Ansatz, zu dem sie in ein spanisches Fischerdorf reisen. Während der Arzt die Ursprünge für Roses Zustand in ihrer Kindheit sucht, wird zunehmend deutlich, wie stark sie ihre Tochter, die ihr Anthropologiestudium für die Pflege pausiert hat, einengt und kontrolliert. Zwar verbringt Sofia immer mehr Zeit mit Ingrid (Vicky Krieps), in die sie sich sofort verliebt, als sie am Strand auf einem Pferd vor ihr auftaucht – doch auch in dieser neuen Beziehung gerät Sofia immer wieder in die Rolle der Kümmernden, denn Ingrid kämpft mit ihrer Vergangenheit. Der Film fängt die beklemmende Atmosphäre der gleichnamigen Romanvorlage von Deborah Levy gelungen ein, etwa durch den Einschub traumartiger Sequenzen, in denen Sofia bewegungsunfähig unter Wasser in einem Rollstuhl sitzt. Während man im Roman jedoch durch die Ich-Perspektive einen permanenten Einblick in Sofias Gedanken hat, fehlt der Protagonistin im Film die Tiefe. Auch die anderen Charaktere bleiben schwer zu greifen; häufig wechselt die Szene, bevor Emotionen aufkommen k.nnen. Dennoch lohnt sich der Film für die Darstellung einer komplexen Mutter-Tochter-Beziehung und einer Emanzipation – auch vom Selbstbild und den Vorstellungen anderer. Emma Rotermund

„Hot Milk“ UK 2025 ( Regie: Rebecca Lenkiewicz. Mit Emma Mackey, Fiona Shaw, Vicky Krieps u. a., 93 Min., Start: 03.07. )

© Lukasz Bak/Capelight Pictures OHG



The Ugly Stepsister

Bei den Gebrüdern Grimm hacken sich die Stiefschwestern Ferse und Zeh ab, um in Aschenputtels Tanzschuh zu passen. Doch das fiese Verhalten der beiden lässt im Märchen wenig Raum für Empathie. Die blutige Neuverfilmung „The Ugly Stepsister“ will das ändern, indem sie den Weg der Stiefschwester Elvira (Lea Myren) zur Selbstverstümmelung nachzeichnet. Diese ist eine Romantikerin in einer Welt, in der Frauen gut aussehen müssen, um durch eine Heirat sozial abgesichert zu sein. Das geringe Selbstwertgefühl der 18-Jährigen, die von ihrer Mutter Rebekka (Ane Dahl Torp) dazu angehalten wird, wegen ihrer Zahnspange nicht zu lächeln, führt Elvira in den OP von Dr. Esthétique (Adam Lundgren). Dieser soll ihren Marktwert mit Mei.el und Nadel steigern. Wie in „The Substance“ sind es ekelerregende Bilder, die dem Publikum einhämmern, wie drastisch der Sch.nheitsdruck in einem Frauenleben ist. Anders als in Coralie Fargeats gefeiertem Bodyhorror sind hier weibliche Vorbilder wie Mutter und Schulleiterin für den aufkeimenden Wahnsinn der Hauptfigur mitverantwortlich – sie legen sogar selbst Hand an, damit Elvira den Prinzen heiraten kann. Das Debüt der norwegischen Regisseurin Emilie Blichfeldt besticht durch erzählerische Ausgewogenheit: Elviras Motive werden nachvollziehbarer, doch wie in der Vorlage verhält sie sich Aschenputtel (Thea Sofie Loch N.ss) gegenüber schändlich, es gibt also keine unrealistische Täter-Opfer-Umkehr. Und am Ende tun nicht nur die Füße weh. Yuki Schubert

„The Ugly Stepsister“ NOR/DNK/ROU/POL/SWE 2025 (Regie: Emilie Blichfeldt. Mit Lea Myren, Thea Sofie Loch Næss, Ane Dahl Torp u. a., 110 Min., Start: 05.06. )

Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/25.