Lady Gaga
„Mayhem“

( Universal Music )

Gaga-Fans haben ihre Lady zurück. Nach jahrelangen Ausflügen in Filmmusik, Jazz, Remixexperimente und künstlerische Kollaborationen erinnert Lady Gagas neues Album „Mayhem“ (deutsch: Chaos) wieder an ihr Debüt „The Fame“ (2008). Nostalgisch werden Millennials nicht nur wegen der pointierten Beats oder Gagas knarziger Stimme – auch thematisch erinnert einiges an ihre 2000er- Hits. Etwa der Song „Perfect Celebrity“, in dem sie, wie damals in „Paparazzi“, den Alltag eines Superstars spiegelt. In insgesamt 14 Songs findet die Italo-New-Yorkerin eine feine Balance aus Balladen, Artsy-Pop und Elektro- Experimenten. Auch zwei Features zeigen die künstlerische Bandbreite: „Die With A Smile“ singt Gaga mit Schnulzkönig Bruno Mars, für „Killah“ kollaboriert sie mit dem französischen DJ Gesaffelstein. Mit „Mayhem“ geht Lady Gaga back to the roots, ohne dass es ein Abklatsch ist. Die Popikone zeigt sich in ihrem neuen Album verletzlich. Vor allem im ersten Song „Disease“ thematisiert sie ihre psychischen Probleme. Sie zeigt ihre Depressionen, Angstzustände und posttraumatische Belastungsstörung gewohnt theatralisch verkleidet im dazugehörenden Musikvideo: als Horror-Cyborg, der in einem trostlosen US-Vorort ihr menschliches Ich vereinnahmt. Laura Helene May

Self Esteem
„A Complicated Woman“
( Universal Music )

„A Complicated Woman“ ist Heilungsprozess und Ermutigung zugleich. Self Esteems drittes Album thematisiert Schmerzhaftes aus der Vergangenheit – und gleichzeitig blickt die britische Künstlerin auch euphorisch in die Zukunft: Immer wieder lässt sie einen Chor aus Freund*innen einfließen, deren Stimmen gemeinsam eine großartige Kraft entwickeln. Es sind Stellen, die mit einer solchen Lebensfreude und Hoffnung aufgeladen sind, dass es beim Zuhören das Herz füllt. Die zwölf Songs tragen vielfältige Klangkostüme, es gibt Balladen mit Klavier oder Streichern, House-Tracks mit Dragqueen-Soundbites und helle, eingängige Pophymnen. Mal lässt Self Esteem ihre Stimme in die Höhe fliegen, mal tauchen Spoken-Word- Passagen auf. Die Lyrics kreisen um queere Lust, kollektive Stärke, auch Diskriminierung, Beharrlichkeit: So schwierig die Umstände sind, Self Esteem bleibt in ihren Songs stolz auf sich und verliert ihren Witz nicht. Das Album ist eine Wucht – es umarmt, bestärkt und stiftet zum Tanzen an. In einem Interview mit Spotify erzählt die Künstlerin, dass es viel Musik von Männern gebe, bei der das ganze Stadion einstimme und Energie freigesetzt werde. Das wünsche sie sich auch für die Girls und Gays – und es ist ihr mit „A Complicated Woman“ wunderbar gelungen. Alisa Fäh

Jessie Reyez
„Paid In Memories“
( Universal Music )

Zuckrig-sweet und voller Überraschungen: Jeder Song von Jessie Reyez’ neuem Album „Paid In Memories“ lässt sich auspacken und genießen wie eine Tüte Bonbons, die Erinnerungen weckt. Sehnsüchtig und sinnlich singt Reyez über verpasste Chancen, schicksalhafte Begegnungen und ungefilterte Intimität. Ihr drittes Album überzeugt nicht nur mit der für sie üblichen Spannung zwischen hauchend-zarter Kopfstimme und soulig-kratziger Bruststimme, sondern auch mit der Vielschichtigkeit ihrer musikalischen Einflüsse. Von tanzbaren Amapiano-Beats zu sanften Salsa-Rhythmen und ruhenden R’n’B-Beats bietet Reyez ein Potpourri verschiedenster Genres, die von ihrem Stimmtalent zusammengehalten werden. Besonders sticht der Song „Psilocybin & Daisies“ hervor, in dem sie die rockigen Klänge der Rockband Smashing Pumpkins in einen neuen musikalischen Kontext setzt. Die verzerrten Gitarren bringen nicht nur eine gewisse Edginess in ihr Werk, die den zum R’n’B tendierenden Stil kontrastiert; gleichzeitig lässt sie damit auch Hinweise auf ihren eigenen Bezug zu Gitarren anklingen; sie lernte das Instrument von ihrem Vater. Sie selbst bezeichnet den gesampelten Song „1979“ der Rockband aus Chicago als zeitlos und stellt nostalgische Bezüge zu Musik vergangener Zeit her. Reyez gelingt es, ein Kopfkino voller Erinnerungen auszulösen, die eine*n gleichzeitig sehnsüchtig in die Zukunft blicken lassen. Luna Afra Evans

Awa Khiwe
„African Women Arise“
( Outhere Records )

Mit ihrem Debütalbum „African Women Arise“ meldet sich Awa Khiwe laut und kraftvoll zu Wort. Die Künstlerin aus Simbabwe vereint auf acht Songs das Persönliche mit dem Politischen. Das Album ist ein musikalischer Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne, zwischen Südafrika, Ghana, Simbabwe und der globalen HipHop-Szene – tanzbar wie bedeutungsvoll. Produziert wurde es vom deutschghanaischen Produzenten Ghanaian Stallion. Awa Khiwe rappt in ihrer Muttersprache Ndebele. Schnell, präzise und voller Energie – ihr Flow erinnert an USRapperinnen wie Nicki Minaj, doch sie setzt ihre ganz eigene Handschrift. Die Beats sind geprägt von Afro Beats, Amapiano-Elementen und klassischem Hip-Hop. Unterstützt von der simbabwischen Band Mokoomba und Bläsern aus Ghana entsteht ein Sound, der international klingt und dabei tief in afrikanischer Identität verwurzelt ist. Awa Khiwe erzählt mit ihrer Musik von ihrem Aufwachsen in ländlichen Gegenden und im Township. Aber auch vom Überleben in einer Gesellschaft, in der Frauen oft strukturell benachteiligt sind. So kritisiert ihr Opener „Zizobuya“ z. B. die traditionelle Praxis der Lobola (Brautpreis) und feiert dabei weibliche Selbstbestimmung. Weitere Songs thematisieren Kinderehen, häusliche Gewalt und wirtschaftliche Notlagen, immer aus weiblicher Perspektive. „African Women Arise“ verspricht nicht nur Empowerment, es wird auch musikalisch umgesetzt. Abena Appiah

Mina Richman
„Past 25“
( Ladies&Ladys )

Was kommt nach der 25? Eine Menge Gutes, wenn man Mina Richman glauben mag. Auf den fünf Songs ihrer EP „Past 25“ reißt die queere Deutsch-Iranerin nicht nur große Themen des neuen Lebensabschnitts an, sondern sprintet auch soundtechnisch auf das nächste Level. Und das will nach einem so großartigen Debüt wie „Grown Up“ aus 2024 schon etwas heißen. Mehr Vielfalt. Mehr on point. Mehr Richman. Der mit Blues getränkte Indie fächert sein buntes Federkleid auf und zeigt sich in recht unerwarteten Farbtönen. „Work“ etwa flirtet mit Funk und Disco, Richman singt dazu so groovy wie nie. „Weak Man“ gehört dramaturgisch absolut in eine Bar-Szene eines feministischen Blockbusters. Und „A. D. H. D.“ präsentiert Richman als vielfältige Storytellerin, die Alltagssituationen auf den Beat genau schreibt. Gemeinsam mit Langzeitproduzenten Tobias Siebert (Juli, Enno Bunger) entstehteine glasklare Produktion mit Background-Chören, die Uptempo noch tanzbarer und die Klimax noch imposanter machen. Die perfekten Voraussetzungen also, um so vielfältige Themen wie Leben in Armut, empathielose Macker, ADHS und Älterwerden umzusetzen. Und gleichzeitig gute Bedingungen, um Richman endgültig als absoluten Gar-nicht-mehrso-Geheimtipp für alle Jahresbestenlisten zu notieren. Julia Köhler

Miso Extra
„Earcandy“
( Transgressive Records )

Eigentlich als spielerisches Hobby gedacht, hat Miso Extra während der Corona-Pandemie durch Zufall den Weg in die professionelle Musikproduktion gefunden. Nun bringt sie nach zwei EPs ihr Debütalbum „Earcandy“ raus. Auf zwölf gemischt japanisch- und englischsprachigen Tracks erzählt sie von Begehren, Vertrauensbrüchen und Empowerment. Das Album bewegt sich auf sphärig-leichten Elektrosounds und -rhythmen und einem 2000er-R’n’B-Pop- Klang, gespickt mit K-Pop-Elementen. Aus dieser Undefinierbarkeit heraus hat Miso Extra das Misoverse begründet: Das ist der Ort, an dem alle Teile ihrer Persönlichkeit ihre uneingeschränkte Daseinsberechtigung haben. Ihren Künstlerinnennamen hat sie dabei bewusst gewählt, als empowerte Antwort auf rassistische Stereotype. Sie darf als Ostasiatin so „extra“ sein, wie sie möchte, sagt sie. Damit will sie sich selbst, aber auch potenzielle Zuhörer*innen empowern. In ihren Musikvideos führt sie uns durch das Misoverse – mal in cyberpunkig angehauchter Manier, mal fröhlich im Gaming-Shop. Dabei ist sie soft und tough zugleich, wechselt fließend zwischen diesen beiden Modi und zeigt, dass diese keinen Widerspruch darstellen müssen. Mehregan Behrouz

Greentea Peng
„Tell Dem It’s Sunny“
( Greentea Peng/AWAL )

Zwischen spiritueller Sinnsuche und realistischer Alltagsbewältigung changiert Aria Wells alias Greentea Pengs neues Album „Tell Dem It’s Sunny“: Vier Jahre nach ihrer hochgelobten Platte „Man Made“ zeigt sich die Südlondonerin einerseits tiefgründig und introspektiv, und gleichzeitig – siehe Albumtitel – sehr dem irdischen Leben zugewandt. Zu Pengs emotionaler Reise gehören Gespräche mit Gott wie im Song „One Foot“, in dem sie verzweifelt immer wieder fragt, „is it too late for me? / have you deserted me?“,
und Variationen über Wiedergeburt im Rock-Dub-Hybrid „I AM (Reborn)“, aber auch gerne mal ein dicker Joint, den man sie in Tracks wie dem tiefenentspannten „Green“ durchziehen hört. Wells kreiert einen basslastigen Flow aus HipHop, Psychedelic, Dub, R’n’B und Reggae, dem ein tiefer, sogartiger Groove zugrunde liegt. Greentea Peng war auf eigenen Wunsch stärker in die Studioarbeit involviert als bei ihren früheren Aufnahmen, was das Album stark und authentisch macht: Hörbar nähert sich die Künstlerin ihren Vorbildern Lauryn Hill und Ms Dynamite an, doch noch offensichtlicher ist es, dass Greentea Peng immer mehr bei sich selbst ankommt. Mit optimistischer Grundhaltung und selbstbewusst wie Neneh Cherry schüttelt sie lässige Hits wie „Nowhere Man“ und „TARDIS (hardest)“ aus dem Ärmel und klingt dabei so tough und zart, wie man es vielleicht nur in Südlondon sein kann. Christina Mohr

Rico Nasty
„LETHAL“
( Fueled by Ramen )

Freiheit gewonnen: Auf ihrem dritten Album „LETHAL“ – dem ersten unter neuem Label – klingt Rico Nasty vielseitiger und verspielter als zuvor. Die 27-jährige Rapperin und Sängerin aus Washington D. C. hat sich nach kreativen Disputen nicht nur von Atlantic Records getrennt, sondern auch von ihrem Team, das sie seit ihrem 19. Lebensjahr begleitete. Eine bessere Work-Life-Balance und mehr Experimentierfreude prägen die in Zusammenarbeit mit Produzent Imad Royal entstandene Platte. Vor allem das gewachsene Vertrauen in die eigene Stimme ist Rico Nasty deutlich anzuhören. Mehr denn je verwischt sie mit grobem Pinsel die Genregrenzen zwischen Rap, Hyperpop, Metal und Punk. Dabei lässt sie eine größere Vielfalt an Gefühlen zu als die nach wie vor herrlich ansteckende Rage, für die sie bekannt ist. Die erste Single „TEETHSUCKER (YEA3x)“ ist wütend, kratzig und dreckig; bei „ON THE LOW“ wird’s dagegen poppig-überdreht. Kurze Songs mit brutalen Beats, bretternden Gitarrensoli und eingängigen Refrains machen „LETHAL“ zu einer Tour de Force, die überraschend in Sanftheit mündet: Auf eine Abrechnung mit allen, denen sie „zu verrückt“ ist („YOU COULD NEVER“), folgt mit „SMILE“ ein Tribut an Elternschaft und Selbstliebe. Bei aller Kantigkeit klingt das Album sonniger und leichter als die Vorgänger, ohne an Biss einzubüßen. Eva Szulkowski

Annahstasia
„Tether“
( drink sum wtr, VÖ: 13.06. )

Liebe – ein großes Wort, ein großes Gefühl, das besungen wird, seit Menschen singen. Und dann gibt es „Tether“ von Annahstasia. Ein Album, das die Perspektive auf die Liebe dreht,
mit so viel Wucht, so vielen Fragen, dass man bei jedem Hören neue Antworten und neue Fragen findet. Vom ersten Song an, in dem sie zugibt, „I never learned to be kind“, seziert sie unnachgiebig den Schmerz in ihrem Innersten. Dabei ist sie nicht kitschig, sondern unfassbar ehrlich. Sie fragt sich in „Slow“, wo dieses Leben eigentlich hinführt, sinniert aber im Anschluss sofort, dass es gar nicht unsere Aufgabe sein kann, es zu wissen. Sie zwingt die Zuhörer*innen, ihrem tiefen und oft sehr zarten Gesang ganz genau zu lauschen. Sie fühlt sich, als würde sie von außen dabei zuschauen, wie die Welt zerbricht, dabei sucht sie nach Verbindung und Zugehörigkeit. „All Is. Will Be. As It Was.“ ist pure vertonte Lyrik, „Believer“ setzt als poetischer Rocksong das Ende und lässt uns mit „I’m A Better Dreamer Than A Friend Sometimes“ zurück. Dabei singt sie von der Schwierigkeit, in dieser Welt(lage) als Freundin stets ihr Bestes geben zu wollen, und fragt: „Can I be lonely here with you?“ Die Antwort ist: „Ja.“ Avan Weis

Little Simz

„Lotus“

( Little Simz/AWAL )

Während Simbiatu Ajikawo mit ihren beiden vergangenen Alben endlich die verdiente Aufmerksamkeit samt Mercury Prize zuteilwurde und sie als Kuratorin für das diesjährige Londoner Meltdown-Festival ernannt wurde (u. a. in den Fußstapfen von Yoko Ono, Patti Smith und Grace Jones), beschlich sie bei der Arbeit am neuen Album „Lotus“ das Impostor-Syndrom: „I was lonely making an album / Attempted it four times / Lost my confidence and you wouldn’t believe why“, rappt sie auf„Lonely“, begleitet voneinem souligen Unterbau – engelhaften Streichern, sanfter Bassline und dezenten Percussions. „Lotus“ entfaltet sich durch verschiedenste Stimmungen Simz’: düster-abrechnender Post-Punk auf „Thief“ („You talk about god when you have a god complex“), basslastiger Dance-Punk auf „Young“, der sowohl an ESG als mit seinen Zeilen auch an Lily Allens cheeky Charme erinnert. Oder sanft orchestrierter Jazz und Soul auf „Free“, einer Meditation über Liebe und Angst als zwei Seiten derselben Medaille. Little Simz’ sechstes Album „Lotus“ vertont sich dabei wie ein scharf observierendes Tagebuch der Rapperin mit einer weiten Bandbreite an Genreeinflüssen und Feature-Partner*innen – von Moses Sumney über Moonchild Sanelly bis hin zu Sampha. Sophie Boche

Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/25.