Filmtipps 04/25
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Wilma will mehr
Wilma (Fritzi Haberlandt) reicht es: In ihrem Job im Baumarkt wurde sie gekündigt, ihr Mann betrügt sie mit ihrer Freundin. Als ein alter Freund die Mittevierzigjährige nach Wien einlädt, ergreift sie fluchtartig die Chance und steigt mit einer Tasche voller Zertifikate in den Reisebus – raus aus ihrer Heimat, einem Braunkohlerevier in der Lausitz. In Wien schlägt sie sich mit Gelegenheitsjobs durch: Sie arbeitet in einem Baumarkt, als Handwerkerin und Elektrikerin und als Assistentin eines Tanzlehrers. Einen Kulturschock erlebt Wilma, als sie gefragt wird, ob sie sich nicht etwas Leichteres hätte aussuchen können, „so als Frau“. Jeden ihrer Jobs übt sie mit Ehrgeiz und Präzision aus – auch wenn ihre Augen selten so leuchten, wie wenn sie von ihrer früheren Arbeit als Maschinistin im Kraftwerk Sonne erzählt, das nach der Wende geschlossen wurde. Nachdem sie sich zunächst von Schlafplatz zu Schlafplatz hangelt, kommt sie in einer WG unter, in der sie von ihren linken Mitbewohner*innen aufgefordert wird, von der „urspannenden“ Revolution in der DDR zu erzählen. Wilma scheut mit ihrer ernsthaften Art keine Diskussion und lässt es sich nicht nehmen, ihre Professorinnenmitbewohnerin über gelebte Gleichberechtigung zu belehren. Der bodenständigen und liebenswerten Protagonistin bei ihrer Entwicklung und der Suche nach Freiheit zuzusehen, ist berührend und dazu sehr unterhaltsam. Emma Rotermund
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„Wilma will mehr“ DE 2025 ( Regie: Maren-Kea Freese. Mit Fritzi Haberlandt, Meret Engelhardt, Thomas Gerber u. a., 112 Min., Start: 31.07. )

Leonora im Morgenlicht
Kann Ästhetik heilen? Kann die Schönheit von Kunst und Natur über Krankheit, Krieg und Einsamkeit hinweghelfen? Für die britische Künstlerin Leonora Carrington würde die Antwort Ja lauten. Geboren 1917 in England, starb sie 2011 in Mexiko, wo sie 1942 Zuflucht fand – nach turbulenten Jahren: nach einem Leben unter den Surrealist*innen in Paris, ihrer Beziehung zum Maler Max Ernst, der 1940 in Frankreich interniert wurde, nach Elektroschocks in einer psychischen Heilanstalt und ihrer Flucht nach Lissabon. Regieduo Thor Klein und Lena Vurma machen durch die Bildsprache ihrer filmischen Biografie das Potenzial der Träume sichtbar, das Carrington (Olivia Vinall) in surreale Malerei umwandelt. Dabei wirken die Aufnahmen des Filmes wie der direkte Weg in Carringtons Psyche. Das Biopic zeigt Rebellion und Depression im Leben einer Ausnahmemalerin. Es mischen sich graue Bilder des Zweiten Weltkriegs mit den satten Farben des mexikanischen Dschungels. Feiner Sound, kontrastreiche Schattierungen und reichlich mythische Symbolik bringen die Kunst der Surrealismus-Ikone filmisch zum Ausdruck. Zwischen erzählerischen Zeitsprüngen, Ländergrenzen und Beziehungen ist es dabei teils anspruchsvoll, den Faden nicht zu verlieren. Laura Helene May
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„Leonora im Morgenlicht“ DE/MX/UK/RO 2025 ( Regie: Thor Klein, Lena Vurma. Mit Olivia Vinall, Alexander Scheer u. a., 103 Min., Start: 17.07. )

Monk In Pieces
Meredith Monk ließ sich von nichts beirren: Die Stimme als universales Sprachrohr für Emotionen zu nutzen – das ist die Mission der heute 82-jährigen Künstlerin und Pionierin der vokalen Performance. Ihr unglaublicher Weg, angefangen als für verrückt erklärte Künstlerin in den 1960er- und 1970er-Jahren in New York bis zur gefeierten National-Medal-of-Arts-Trägerin, wird nun collagenartig im Dokumentarfilm „Monk In Pieces“ aufgezeigt. Der Film von Billy Shebar und David Roberts, der auf der diesjährigen Berlinale seine Premiere hatte, zeigt mit Zeitzeug*innen und Musiker*innen wie David Byrne oder Björk, welchen Einfluss Monks interdisziplinäres Werk aus Musik, Schauspiel, Performance und Tanz hat. Dazwischen sieht man die Wärme-ausstrahlende Monk, wie sie am Anfang ohne Budget mit anderen Künstler*innen zusammenarbeitete und sich nicht durch negative Pressestimmen ablenken ließ. Auch ihre Kindheit mit einer abwesenden Mutter, die Radio-Jingles sang, oder die Jahre mit ihren Lebenspartner*innen Ping Chong und Mieke van Hoek werden beleuchtet. Trotz Höhen und persönlicher Tiefen machte sie stets mit einem starken Bewusstsein für ihr Werk weiter. Dass man gen Ende sieht, wie sie ihre Rolle als Performerin an eine jüngere Generation abgibt, zeigt umso mehr Monks Verpflichtung zu ihrer künstlerischen Vision, die im Film aufrichtig dargestellt wird. Lorina Speder
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„Monk In Pieces“ USA/DE/FR 2025 ( Regie: Billy Shebar, David Roberts. 94 Min., Start: 21.08. )

Viet und Nam
Viet (Đào Duy Bảo Định) und Nam (Phạm Thanh Hải) sind nicht nur Minenarbeiter, Weggefährten und ein Liebespaar. Ihre Namen sind auch Abkürzungen für Nord- und Südvietnam, die einst Feinde waren. So sprechen die beiden Protagonisten auch den jeweiligen Dialekt: der eine süd-, der andere nordvietnamesisch. Während wir von Viets Familie nicht viel erfahren, erhalten wir einen Einblick in Nams Zuhause und lernen seine Eltern kennen: seinen Vater, der als Soldat im US-amerikanischen Krieg in Vietnam starb; seine Mutter, die ihm später gesteht, dass sein Vater nicht von ihm wusste, als sie schwanger war. Zwischen beeindruckenden Landschaften und den Geistern der Vergangenheit geht es in dem fiktionalen Film im dokumentarischen Stil um die geheime homosexuelle Beziehung zwischen Viet und Nam. Und darum, dass Nam, nach einer besseren Zukunft strebend, das Land verlassen möchte. Bevor er jedoch gehen kann, will er mehr über seinen Vater wissen – wie seine Mutter, die den Verstorbenen auch nicht ruhen lassen kann. Zusammen mit Viet und dem Veteranennachbar und ehemaligen Freund des Vaters begeben sie sich auf eine bewegende Reise in den Süden des Landes. Gespickt mit Bildern aus dem Untergrund, Fantasien und der Hoffnung nach einer besseren Zukunft, erzählt Regisseur Trương Minh Quý auf poetische Weise nicht nur eine berührende Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Männern, sondern bietet auch eine spannende Perspektive auf Vietnam, die sowohl aktuelle als auch vergangene Themen verhandelt. Thị Minh Huyền Nguyễn
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„Viet und Nam“ VN/CH/FR/LI 2024 ( Regie: Trương Minh Quý. Mit Phạm Thanh Hải, Đào Duy Bảo Định, Nguyen Thi Nga Hoa, Daniel Le Viet Tung u. a., 129 Min., Start 07.08. )

Mädchen Mädchen!
Ein Remake der gleichnamigen Teenie-Komödie „Mädchen, Mädchen“ aus dem Jahr 2001: Inken, Vicky und Lena machen sich auf die Suche nach ihrem ersten Orgasmus. Die nostalgische Begeisterung verfliegt leider schnell. Denn schon die schauspielerischen Leistungen – insbesondere der Nebendarsteller*innen – werfen viele Fragen auf, vor allem: Wurde hier nach Instagram-Reichweite statt nach schauspielerischem Talent gecastet?! Noch viel irritierender ist es allerdings, dass sich drei 17-jährige Mädchen 2025 kichernd gegenseitig fragen: „Hattet ihr schon mal einen Orgasmus?“, das O-Wort dabei kaum aussprechen können und dann Antworten kommen wie: „Hihihi, nee, aber ich bin immer gern reiten gegangen.“ Der tief verankerte männliche Blick auf weibliche Sexualität – der unterstellt, junge Frauen würden garantiert nie an sich selbst herumspielen und der Orgasmus sei für Menschen mit Vulva ohnehin ein schwieriges Unterfangen – hätte ruhig im Jahr 2001 bleiben können. Ja, der Film bemüht sich um Diversität, doch die pseudo-woke Aufmachung geht nicht auf, wenn es bereits an der angemessenen Aktualisierung offensichtlich veralteter Inhalte scheitert. Im Kino haben vor allem die drei halbglatzigen Ü45-Männer vor mir gelacht und ich sag mal so: Es passt ins Bild. Lucie Andritzki
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„Mädchen Mädchen!“ DE/AT 2025 ( Regie: Martina Plura. Mit Kya-Celina Barucki, Julia Novohradsky, Nhung Hong, Annette Frier u. a., 90 Min. )

Die zärtliche Revolution
„Wie hätte die Welt für dich sein müssen, damit du nicht als einzigen Ausweg siehst, von ihr zu verschwinden?“, fragt Regisseurin Annelie Boros zu Beginn ihrer Dokumentation. Die Frage richtet sie an ihre enge Freundin, die sich suizidierte. Auf der Suche nach Antworten begleitet sie Menschen, die entweder Care-Arbeit leisten oder selbst von dieser abhängig sind: Arnold, der sich um seinen behinderten Sohn Nico kümmert; Bożena, die aus Polen kommt und unter großen persönlichen Opfern in der deutschen Pflege arbeitet; Samuel, der durch einen Unfall querschnittsgelähmt ist und ein inklusives Wohnprojekt aufbauen möchte – und Medizinerin Amanda, deren Fürsorge darin besteht, sich um die Erde zu kümmern, die Grundlage des Lebens und der Gesundheit aller. Mit ihren Protagonist*innen tauscht Boros Briefe aus, die im Laufe des Filmes von diesen selbst eingesprochen werden. So entsteht eine Collage aus Erfahrungen, Sorgen, Kämpfen, Wünschen und Forderungen. Angetrieben von ihrer Wut über den geringen gesellschaftlichen Stellenwert von Care-Arbeit und über das System, das nicht das Wohlergehen aller, sondern die Profitmaximierung weniger zum Ziel hat, setzen sich Arnold, Bożena, Samuel und Amanda für eine Welt ein, in der gegenseitige Fürsorge oberste Priorität hat. Boros stellt immer wieder den Bezug zu ihrer bipolaren Freundin her, die stellvertretend für eine ganze Gesellschaft steht, der es an Care mangelt. Ihr ist eine sehr berührende und persönliche Doku gelungen, die große, sozial hochrelevante Fragen stellt und eine*n echte Veränderung herbeisehnen lässt. Rayén Garance Feil
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„Die zärtliche Revolution“ DE 2024 ( Regie: Annelie Boros. 93 Min., Start: 14.08. )

Das Deutsche Volk
Es ist einer dieser Dokumentarfilme, die hoffentlich bald in jedem deutschen Lehrplan auftauchen. Es ist die wohl wichtigste Doku über den rassistischen Anschlag von Hanau in der Nacht des 19. Februars 2020: weil sie uns über mehrere Jahre hinweg ganz nah an die Menschen bringt, deren Leben durch den Anschlag von Grund auf erschüttert wurden. Marcin Wierzchowski hat die Angehörigen der neun Opfer und Überlebenden in den vier Jahren nach dem 19. Februar begleitet. In „Das Deutsche Volk“ dokumentiert er ihre Trauer, ihren Kampf um Gerechtigkeit und gegen Rassismus. Wierzchowski nimmt die Zuschauer*innen mit auf Beerdigungen, mit in die Arena Bar, sogar mit nach Rumänien und in die Türkei zu den Familien von Vili Viorel Păun und Gökhan Gültekin. Die Aufnahmen sind in Schwarz-Weiß, sie bleiben unkommentiert und roh aneinandergeschnitten: Es gibt keine Erzählstimme aus dem Off und keine Einblendungen. Was sollte ein*e Erzähler*in auch groß hinzufügen, wenn Niculescu Păun die blutige Kleidung seines verstorbenen Sohnes in die Kamera hält und erklärt, er könne sie seit Jahren nicht waschen? Oder wenn er erzählt, wie er am Morgen nach dem Anschlag zur Arbeit fuhr, weil die Polizei es versäumte, ihn über den Tod seines Sohnes zu informieren? Die szenische Doku ist radikal ehrlich. Ohne Verharmlosungen bildet sie ab, wie die Angehörigen keine Ruhe finden können – nicht einmal vier Jahre nach dem Anschlag. Nele Cumart
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„Das Deutsche Volk“ DE 2025 ( Regie: Marcin Wierzchowski. 132 Min., Start: 04.09. )

Oxana
Oksana Schatschkos Biografie eigenet sich wirklich für eine Verfilmung: Zwischen ihrer Jugend in der Ukraine und ihrem Suizid in Frankreich kämpfte die Femen-Aktivistin unerschrocken gegen Kirche, KGB und Konservatismus. Sie durchlebte Gefängnis, Folter und Exil. Im Filmporträt „Oxana“ der französischen Regisseurin Charlène Favier wird ihr radikaler Kampf von Kinopathetik überdeckt. Es wirkt in vielen Szenen wie ein makelloser Streifen europäischer Filmtradition, aber nie wie die Realität einer revolutionären ukrainischen Künstlerin, die ihren Körper als Protestobjekt gegen Autokraten wie Alexander Lukaschenko in Belarus oder Wladimir Putin in Russland gestellt hat. Die spannendste Szene des Filmes ist jene, in der Oxana (Albina Korzh) einer Beamtin in Frankreich ihre Geschichte selbst erzählt, um sie von ihrem Fluchtstatus zu überzeugen – hier findet Schatschkos tragische Geschichte Raum, hier spricht politischer Kampf ohne Geschnörkel. Doch in den meisten Szenen bleiben sowohl der Antrieb der Protagonistin als auch der Realitätsgehalt des Spielfilms unklar: Warum hat Oxana spontan Sex in der Umkleidekabine eines Schwimmbads? Was ist ihr Motor? Warum begeht sie Suizid? Die Kampfansage von Oxana bleibt nach dem Film trotzdem hängen: „Unsere Mission: Rebellion. Unser Gott: Die Frau.“ Laura Helene May
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„Oxana“ FR 2024 ( Regie: Charlène Favier. Mit Albina Korzh, Maryna Koshkina u. a., 104 Min., Start: 24.07. )

In die Sonne schauen
Was ist wohl in diesen Zimmern passiert, in denen wir heute leben? Wer war vor uns hier? Diese Fragen beschäftigten die Regisseurin Mascha Schilinski, die in einer Altbauwohnung aufwuchs, schon als Kind. Und sie kamen wieder auf, als sie mit Louise Peter auf einem Bauernhof in der Altmark in Sachsen-Anhalt an Drehbüchern arbeitete. Auf diesem alten Hof entstand die Idee für „In die Sonne schauen“ und er wurde zum Schauplatz des Spielfilms, dessen Geschichte Schilinski und Peter gemeinsam entwickelten. Vier Sommer, vier Generationen und vier Mädchenschicksale, die mit vielen weiteren Personen verknüpft sind, zeigt dieses in nur 34 Drehtagen entstandene Meisterwerk, das diesjährig in Cannes mit dem Preis der Jury geehrt wurde. Es geht um Traumata und Erinnerungen, die vererbt werden, sich wie Phantomschmerzen in Körper einschreiben und auch in die Wände des alten Hofes. Zeit und auch Identitäten lässt der Film wie in einem Traum verschwimmen. Der Raum bleibt zwar gleich, doch auch er verändert sich im Laufe der Jahrzehnte, die keiner Chronologie folgen. Auch die Kamera nimmt mal die Perspektive der Protagonist*innen ein, mal wirkt sie im Beobachten fast geisterhaft losgelöst. So ist eine Vielzahl an Bildern entstanden, die Sogwirkung entfalten, manchmal schwer zu ertragen sind – und auf jeden Fall lange nachwirken werden. Ana Maria März
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„In die Sonne schauen“ DE 2025 ( Regie: Mascha Schilinski. Mit Lena Urzendowsky, Luise Heyer, Laeni Geiseler, Susanne Wuest u. a., 149 Min., Start: 28.08. )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/25.