Literaturtipps 04/25
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Stag Dance
Torrey Peters ist eine Meisterin des World Buildings und der Figurenzeichnung. Das bewies die US-amerikanische Schriftstellerin nicht nur in ihrem erfolgreichen Romandebüt „Detransition, Baby“, sondern jüngst in „Stag Dance“, einer Sammlung von vier Novellen. Die vier Geschichten unterscheiden sich sprachlich und genremäßig stark voneinander, die Spannbreite reicht von der Liebeserzählung zwischen zwei Teenagern auf einem Quäker-Internat, einem Western über ein Herrencamp, eine Horrorstory mit einem maskierten Fetischisten bis zur Science Fiction über eine Pandemie, die alle Menschen abhängig von geschlechtsaffirmierenden Hormontherapien macht. Den Bogen über die vier Storys, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind, spannt Peters mit dem Blick auf die unangenehmen Aspekte ihrer fortlaufenden Transition. Was der Debatte, der Sprache an sich nicht gelingt, schafft die Literatur: partikulare Erfahrungen so spürbar zu machen, dass das Universelle in ihnen greifbar wird. Ein Teil dieser Kraft kann darin liegen, dass Peters mit den Konflikten, dem Jargon und der Lebensrealität queerer Communitys vertraut ist – ihr schriftstellerisches Talent lässt sich jedoch nicht darauf herunterbrechen. Denn die eigentliche Magie bergen ihr Humor, ihre genaue Beobachtungsgabe, das Begehren im Text und die intellektuelle Fähigkeit, im Transsein im Spezifischen das Menschsein im Allgemeinen zu erzählen. Dies macht ihre Geschichten zu einem Geschenk für uns alle. Hengameh Yaghoobifarah
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Torrey Peters „Stag Dance“ ( Aus dem Englischen von Frank Sievers. Ullstein, 352 S., 24 Euro )

Die Probe
Wie gut kann man die Menschen in seinem Umfeld überhaupt kennen? Ein junger Mann tritt in Katie Kitamuras Roman „Die Probe“ ins Leben der namenlosen Ich-Erzählerin. Er sei ihr einst zur Adoption freigegebener Sohn, sagt er, sie wiederum weist diese Überzeugung vehement von sich. Als er anfängt, bei dem Theaterstück mitzuarbeiten, in dem sie die Hauptrolle spielt, ist sie gezwungen, sich täglich mit ihm auseinanderzusetzen. Bis plötzlich jede Gewissheit verschwindet und wir uns fragen müssen: Wer spielt tatsächlich eine Rolle? Kitamura, die in den USA weitaus bekannter ist als bisher in Deutschland, beweist in „Die Probe“ ihr Talent für das Unheimliche im Alltag. Ihre Protagonistin ist beobachtend (wenngleich nie passiv) und sucht in den Aussagen und Handlungen anderer stetig nach leichten Bedeutungsverschiebungen. Es wird hinterfragt, justiert, es werden doppelte Böden in den Intentionen aufgedeckt – oder sind diese am Ende doch nur Produkte ihrer Imagination? Ab der Hälfte bricht die fragile Realität auf und geht über in eine andere Wirklichkeit mit einem so leicht modifizierten Szenario, dass die Frage im Raum steht, ob die Welt sich verändert hat oder nur der Blickwinkel auf sie. Dank Kitamuras literarischen Könnens ist „Die Probe“ ein dichter, sich jeder Eindeutigkeit verweigernder Roman, der eine*n mit einem beklemmenden Gefühl und mit dem Wissen zurücklässt: Wir sind uns alle Fremde. Isabella Caldart
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Katie Kitamura „Die Probe“ ( Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Hanser, 176 S., 23 Euro, VÖ: 22.07. )

Im Leben nebenan
Was wäre gewesen, wenn? Die Frage treibt viele um. Auch in Bezug auf Kinder. Wie sähe ein Leben mit Kind aus? Wie ohne? In ihrem Romandebüt „Im Leben nebenan“ denkt Anne Sauer beide Optionen weiter. Toni lebt in der Stadt: Sie hat ihr Dorf hinter sich gelassen, arbeitet in einer Agentur und führt gemeinsam mit Freund Jakob ein Bohemeleben. Antonia wiederum ist geblieben, verheiratet mit ihrer Jugendliebe, Mutter. Zwei Frauen, zwei Wege? Nicht ganz. Denn Toni ist Antonia. Eines Morgens wacht sie in einem Haus in ihrem Heimatdorf auf. Neben ihr: ein Baby. Ihr Körper erinnert sich an Schwangerschaft und Mutterschaft. Ihr Geist nicht. Sie sehnt sich nach ihrem alten Alltag. Doch gibt es – einmal in der Parallelwelt gelandet – ein Zurück? Mit bildhafter Sprache und ungeschöntem Blick führt Sauer, bekannt durch ihre popfeministische Auseinandersetzung mit dem Swift-Phänomen, durch die Fallstricke und Sinnkrisen beider Identitätsentwürfe. Anfangs verwirrend, entfaltet die Geschichte schnell einen Sog, der bis zur letzten Seite trägt. Ein unterhaltsamer Roman über Wahlmöglichkeiten, Erwartungen und das Erstaunen darüber, wie sich ein Leben anfühlen kann, das nicht das eigene ist – oder doch? Eva-Lena Lörzer
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Anne Sauer „Im Leben nebenan“ ( dtv, 272 S., 23 Euro )

Furye
Ein sehnlich erwarteter Anruf, der jedoch nicht die erhoffte, positive Nachricht bringt, lässt ihr Leben in sich zusammenfallen. Ein nach außen vermeintlich perfektes Leben: rasanter Aufstieg zur einflussreichen Musikmanagerin mit 38, trotz des erschwerenden Umstands, das Kind von Einwander*innen aus einfachen Verhältnissen zu sein. Doch die Wahrheit ist eine andere. Sie hat schon lange vergessen, wie es sich anfühlt, glücklich zu sein, und hat Angst, ihr leeres Leben nicht mehr ertragen zu können. Die bisher namenlose Erzählerin fährt zurück in die Stadt am Meer, in der sie einst als Alec mit Meg und Tess – benannt nach den drei Furien – ihr Held*innenepos schreiben wollte. Und wo sie mit 17 ihre einzige Liebe mit Romain erlebte. Doch nun begegnen sich die beiden dort wieder und längst vergessen geglaubte Erinnerungen kommen ans Licht. Kat Eryn Rubik erzählt in zwei Zeitebenen von ihrer Protagonistin, ihren Wunden, Schmerzen und dem Sommer, der ihr Leben für immer verändert. Es ist eine mitreißende, spannende Geschichte, zwischen Jugend – mit all ihren Emotionen, Wünschen, aber auch Opfern – und dem Leben als Erwachsene, die versucht, mit den Wunden des Lebens zurechtzukommen. Rubik gelingt es, die inneren Konflikte der Protagonistin eindrucksvoll darzustellen und die Leser*innen in ihren Bann zu ziehen. Mit wachsendem Tempo steuert die Erzählung auf ein Ende zu, das zwischen Hoffnung und Verzweiflung oszilliert. Nicole Hoffmann
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Kat Eryn Rubik „Furye“ ( Dumont, 352 S., 24 Euro )

Eingesperrt und ausgegrenzt
Die Wissenschaftshistorikerin Edna Bonhomme zeigt hier auf, wie eng Gesellschaft und Gesundheit miteinander verknüpft sind. Marginalisierte Gruppen haben ein höheres Risiko bei gesundheitlichen Krisen. Cholera traf auch andere Klassen, jedoch gab es so gut wie keine Gesundheitsversorgung für die Menschen, die versklavt wurden. Bonhomme berichtet auf Basis von Archivmaterial über die deutsche Kolonialgeschichte und die Versuche Robert Kochs, in Ostafrika ein Heilmittel für die Schlafkrankheit zu finden. Dafür verabreichte er das tödliche Mittel Atoxil und ließ Krankenlager einrichten, die Bonhomme als Konzentrationslager bezeichnet. Wie AIDS zu einem Stigma für ganze Bevölkerungsgruppen wird, erzählt Bonhomme aus persönlicher Sicht, denn sie kommt selbst aus einer kreolischen Familie aus Miami, wo das Virus im Viertel Little Haiti viele Menschen betraf. AIDS, Cholera, Grippe, Ebola oder Covid-19 – gesundheitliche Krisen wie Epidemien zeigen auf, woran eine Gesellschaft innerlich krankt: Diskriminierung, Kolonialismus und Rassismus verschärfen Krankheitsausbrüche und fordern mehr Opfer. Bonhomme zeigt, dass Bakterien und Viren in puncto Race keine Unterschiede machen, die politischen Maßnahmen dagegen aber schon. Julia Tautz
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Edna Bonhomme „Eingesperrt und ausgegrenzt. Armut, Ausbeutung und Rassismus – eine andere Geschichte der Medizin“ ( Aus dem Englischen von Anna von Rath. Propyläen Verlag, 384 S., 26 Euro )

Single Mom Supper Club
Der „Single Mom Supper Club“ besteht aus drei in Berlin lebenden Britinnen und Antje aus Ostdeutschland. Die alleinerziehenden Frauen treffen auf eine Gruppe jüngerer Single-Mütter, die „Cocaine Moms“. Die koksenden Momfluencerinnen mit Rich-Bitch-Lifestyle drängen dazu, die Abendessen ihrer beiden Cliquen zu fusionieren. Bedingung sind anspruchsvolle Rezepte, keine cis Männer und Drogen erst nach Schlafenszeit der Kinder. Die Londoner Autorin und Wahl-Berlinerin Jacinta Nandi lässt in ihrem Roman unzählige Kontraste aufeinandertreffen. „Single Mom Supper Club“ ist eine episodisch erzählte wilde Achterbahnfahrt durch Familienkonstellationen, Sex, Gewalterfahrungen, Suchtmittel, Rassismus, Körperbilder und Mutterliebe. In kurzen Kapiteln erhält der*die Leser*in nach und nach tieferen Einblick in die Innenwelt der Alleinerziehenden. Anstatt wegen Care-Arbeit und Überbelastung zu weinen, stecken sie Traumata und Existenzsorgen weg. Muttersein ist Basis ihrer solidarischen Gemeinschaft, in der sie mit rührender Selbstverständlichkeit die Kinder der anderen hüten. Den Berliner Alltag und das Leben in Deutschland kommentieren die Erzählerinnen mit britischem Humor. Sex mit dem Klassenlehrer, Steuerhinterziehung und Kleinkriminalität – Nandi empowert ihre Protagonistinnen, ohne zu bewerten. Amelie Persson
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Jacinta Nandi „Single Mom Supper Club“ ( Rowohlt, 320 S., 24 Euro )

Endzeitgemäß
Grauer Beton und Plastikpflanzen versus Selbstverwirklichung und Potenzial: Die dystopische Welt in „Endzeitgemäß“ teilt sich seit dem „Wandel“ in das funktionale Transit auf der einen und das verheißungsvolle Ideal auf der anderen Seite. Für die Bürger*innen ist ein Wechsel zwischen diesen beiden Zonen nicht einfach so möglich. Durch die Augen der Transit-Protagonistin Merve zeigt dieses Romandebüt, dass der Wunsch nach dem sozialen Aufstieg in ein vermeintlich besseres Leben nicht eindimensional ist. Im Herzen pocht die Frage nach dem eigenen Platz in Systemen, die beide auf ihre Weise scheitern. Helena Kühnemann geht das World Building ungemein klug an: Nicht nur die Charaktere wie Merves Vater, der sich in Weltuntergangserzählungen verliert, oder Merves Hochschul-Freundeskreis „zwischen Kimchi und Konsens“ sind treffend und tragisch erzählt, auch die Umwelt wird im Kopfkino zur detaillierten Kulisse. Die Dualität aus tristen, gedeckten Grautönen auf der einen und hellen, instagrammable Filtern auf der anderen Seite erzeugt einen krassen Kontrast – und wird im Laufe der Zeit doch ad absurdum geführt. Der Roman lässt sich auf vielen Ebenen lesen: als Systemkritik am westlichen Kapitalismus, aber auch als Sinnsuche in einer komplexen Gegenwart. Ob Merve Antworten auf ihre Fragen findet, bleibt bis zum Ende spannend. Julia Köhler
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Helena Kühnemann „Endzeitgemäß“ ( Ullstein, 288 S., 23 Euro )

Onigiri
Aki erinnert sich, weil ihre Mutter Keiko es nicht mehr kann. Inzwischen erwachsen und selbst Mutter erzählt Aki von einer Kindheit zwischen Alltagsrassismus und dem Wohlstand der deutschen Großeltern. Von einem Aufwachsen im ständigen Vergleich zu katholischen Mitschüler*innen, dem Grünen Zimmer, wo man „laut und lange weinen (muss), bis endlich jemand kommt“, und einer Mutter ohne Führerschein. Keiko konnte noch nie für sich selbst einstehen – umso rebellischer war Akis Jugend. Klar, dass die rotweinliebende Gesine und Ludwig, der nicht „Opa“ genannt werden will, Akis Piercing nicht gutheißen. „Onigiri“ beschreibt drei Generationen von Frauen aus der Sicht der jüngsten, mit mehr oder weniger präsenten Partnern. Und was passiert, wenn Demenz das Leben auffrisst. Früher ist Keiko als Schnäppchenjägerin aufgeblüht, hat gerne genäht. Heute ist sie so gut wie verschwunden. Als Akis Großmutter Yasuko verstirbt, ohne dass die beiden es in Deutschland merken, beschließt sie mit Keiko nach Japan zu reisen. Ihre Hoffnung: „(D)iese Zeit in ihrem Elternhaus, das Hören und Sprechen ihrer Muttersprache, (…) werden etwas in meiner Mutter öffnen können“. Yuko Kuhns Beschreibungen sind intensiv und fesselnd. Und überraschend wie die Füllung des zum Dreieck geformten Reissnacks – „Onigiri“. Simone Bauer
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Yuko Kuhn „Onigiri“ ( Hanser, 208 S., 23 Euro, VÖ: 22.07. )

Vom Herzasthma des Exils
„Das Herz geht kaputt, der Atem stockt“: So beschrieb Ursula Krechel in einem Vortrag den Zustand des Exils nach Thomas Mann. In ihrem neuen Buch begibt sie sich nun auf die Spuren politischer Heimat(losigkeit). Sie untersucht die fein verschlungenen Zusammenhänge von Flucht, Migration und Exil. In den Sphären des Kulturhistorischen zeichnet Krechel Geschichten nach: von unzähligen Verfolgten im Nationalsozialismus über die Kolonisierten Irlands zu Flüchtenden auf dem Mittelmeer heute. Ihr Schreibstil ist nüchtern und mitreißend, die Struktur fragmentarisch und abwechslungsreich. Mit einem Blick in das Vergangene und einem Fokus auf das Gegenwärtige schafft Krechel interessante Perspektiven, Fragen und Beobachtungen: über das Unmenschliche in der Sprache, die Illegalisierung von Menschenleben, die Verfolgung derer, die als anders markiert werden. Und über Widersprüche. Wie verhält es sich mit jenen, die unterdrückt wurden und dann selbst unterdrücken, wie es im Siedlerkolonialismus der Vereinigten Staaten geschah? Was sind praktische Perspektiven in einer Welt, die von menschengemachten Grenzen ebenso regiert wird wie vom Pass an sich, dem „edelsten Teil des Menschen“ nach Bertolt Brecht? Eine politische Analyse von seltener Schärfe, die in faschistisch-aufdrängenden Zeiten von besonderer Bedeutung ist. Luna Afra Evans
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Ursula Krechel „Vom Herzasthma des Exils“ ( Klett Cotta, 176 S., 18 Euro )

Das Beste sind die Augen
„Sie bringen Glück“, sagt Umma, Jiwons Mutter, nimmt die Fischaugen zwischen zwei Stäbchen und steckt sie sich in den Mund. Glück kann die koreanische Familie in Kalifornien jetzt gebrauchen, denn der Vater hat sie für eine neue Frau verlassen und so das Leben der jungen Studentin Jiwon auf den Kopf gestellt. Doch schon drei Monate später hat Umma einen neuen Freund: George platziert sich mit breitem Grinsen und einem Fetisch für asiatische Frauen an den Esstisch der Familie und bekommt Fischaugen serviert. Sein aufdringlicher Blick verfolgt Jiwon in ihre Träume, wo sie plötzlich riesige blaue Augen anstarren. In ihr wächst das absurde Verlangen, sich die Augen in den Mund zu stecken und zu kosten. Schicht für Schicht legt Monika Kim in ihrem Debütroman Misogynie und antiasiatischen Rassismus in seiner perfidesten Form frei: als unreflektierte Faszination für das „Exotische“. Klug, skurril und mit gekonnter Dramaturgie lässt sie aus Tausenden von Augen eine bizarre Wahnidee entstehen, die die Protagonistin Jiwon immer mehr einnimmt, bis alles blutbesudelt ist. Gegen ihren weißen Retter und patriarchale Strukturen muss sie sich den Male Gaze selbst einverleiben – im wahrsten Sinne des Wortes. Auch wenn einige Stellen konstruiert wirken, schafft Kim eine feministische Schauergeschichte, die ihresgleichen sucht. Julia Tautz
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Monika Kim „Das Beste sind die Augen“ ( Aus dem Englischen von Jasmin Humburg. kiwi sphere, 352 S., 23 Euro )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/25.