© Clarity Haynes Studio; LYZ oil on canvas ,22″ x 22″

Omnipräsente Bezüge im Kosmos Stillen sind unsere Ursprünge, unsere Urzeit und unsere Säugetiergeschichte. Stillen wird als naturgegebene Fähigkeit betrachtet, angeboren qua Natur. Als eine „natürliche Gabe, die für Säuglinge lebenswichtig ist“ und „zum Muttersein dazugehört“. Jede Mutter kann stillen, weil Stillen natürlich ist, so die Logik. Mal sind es dreihundert Millionen Jahre, mal zweihundert Millionen Jahre, in denen Babys aller Säugetiere ausschließlich mit der Milch ihrer Mutter ernährt worden sein sollen. Eine Urgeschichte, an die Frauen noch immer anknüpfen können. Die Autorin und Stillaktivistin Gabrielle Palmer etwa schreibt: „Die Menschheit betreibt erst seit 12.000 bis 15.000 Jahren Landwirtschaft und Weidewirtschaft, also gerade einmal ein Prozent unserer Zeit auf der Erde, (…) also hat der Mensch 99 Prozent seiner Existenz ohne andere Milch als Muttermilch überlebt.“ In einer historischen Studie aus den 1980er-Jahren heißt es: „Fast zwei Millionen Jahre lang wurden Säuglinge erfolgreich gestillt.“ Auch die La Leche Liga, die größte internationale NGO zur Stillberatung, schreibt: „Sie können Ihr Baby stillen. Seit Urzeiten haben Mütter ihre Kinder erfolgreich gestillt.“ Die Message wird klar: Kein Produkt ist so bewährt wie Muttermilch. 

Nun ist das mit diesem schon immer schon immer so eine Sache gewesen. So viel man über schon immer weiß, weiß man auch, dass es schon immer andere Wege für Frauen gegeben hat, Babys ohne ihre Brüste zu ernähren. Sei es mit der Milch einer anderen Frau oder der Milch eines Säugetieres. Zu den frühen Formen gehört etwa, dass Kinder direkt an den Zitzen und Eutern von Eseln, Ziegen, Schafen, Kühen oder Rehen gesaugt haben. Die Frage ist warum. Schriften aus der Zeit um 1500 vor Christus legen nahe, dass Frauen schon damals mit ebenjenen Dingen zu kämpfen hatten, die auch Frauen im Jahr 2026 nach Christus noch beschäftigen, etwa dass ihre Brüste nicht genügend Milch machen. Man empfahl den Frauen ihrerzeit, die Knochen eines Schwertfisches in Öl zu erhitzen und das Öl auf ihrem Rücken zu verreiben. Alternativ könne die Frau auch ihre Beine überkreuzen und einen Dip aus Mohnsamen auf einem Hirsebrot essen. 

Im antiken Rom attestierten Politiker Frauen eine gewisse „Stillmüdigkeit“, der sie mit einer Stillprämie entgegenwirken wollten. Die Bibel erzählt nicht nur von der stillenden Maria, sie erzählt auch von Debora, der Amme der Rebekka. Und davon, dass für Moses eine Amme gesucht wurde, und davon, dass auch Königssohn Joasch eine Amme hatte. 

Auch Versuche, Babys mit der Flasche zu füttern, gab es, lange bevor industriell hergestellte Babymilch auf den Markt gekommen ist. Archäologische Funde legen nahe, dass Menschen bereits in der jüngeren Steinzeit Gefäße benutzt haben, um Kleinkinder zu füttern. Aus dem antiken Griechenland und Römischen Reich weiß man, dass Menschen Schnabeltassen und Gefäße mit einem Saugaufsatz nutzten. Das heißt nicht, dass unsere Vorfahren damit erfolgreich waren. Das heißt nur, dass sie andere Wege brauchten und durch Versuch und Irrtum auf der Suche nach einer sicheren Alternative zum Stillen waren. 

Im späten Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nutzen Menschen sogenannte Saughörner. Sie banden dem Saughorn jedoch einfach eine abgeschnittene Zitze eines Kuheuters auf, um den Babys das Saugen zu erleichtern. Was sie nicht bedachten, war, dass dieses tote Gewebe dort langsam vor sich hin schimmelte. Bis um 1800 erstmals Sauggeräte aus Glas auf den Markt kamen, war Füttern aus einer Flasche oder einer anderen Saugvorrichtung also meist sehr unhygienisch. Im Nachhinein vermutet man darin eine der Ursachen dafür, dass viele nicht gestillte Babys starben. Ab 1870 kamen immerhin Gummisauger auf den Markt. Beim Inhalt der Gefäße war jedoch weiterhin viel Versuch und Irrtum am Werk. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein bestanden die Alternativen aus dem, was Menschen in ihrer Not selbst zusammenmischten oder zur Verfügung hatten. Fleischbrühen, Pampen aus Mehl und Wasser, manchmal auch aus tierischer Milch und einem Getreide oder Milch mit Honig, Reis in Brühe, vorgekauter Reis mit gequetschter Banane, Zucker, gezuckerte Kondensmilch oder Rooibos-Tee. 

Darüber, wie Frauen in Europa vor dem 20. Jahrhundert stillten, gibt es kaum Aufzeichnungen. Die historische Stillforschung nimmt an, dass in manchen Regionen über mehrere Jahrhunderte hinweg nahezu überhaupt nicht gestillt wurde. So zum Beispiel in Südbayern, Tirol, in der Lausitz und in Böhmen. Dazu kommt, dass die weibliche Brust schon immer schamhaft besetzt ist. So hat es eine Erzählung über eine aus Norddeutschland nach Oberbayern eingewanderte Frau in die Stillhistorie geschafft, die beim Versuch, ihr Baby zu stillen, als „schweinisch und unflätig beschimpft“ wird, sodass ihr Ehemann ihr droht, „er werde nichts mehr von ihrer Hand gekochtes essen, wenn sie diese Schweinerei nicht aufgebe“. Dieses Tier. Der Mann? Die Frau? Wer danach verhungerte – der Ehemann? Das Baby? –, ist nicht überliefert. 

Festzuhalten ist also, dass es für Frauen schon immer verschiedene Gründe dafür gab, Babys nicht zu stillen. Die Geschichte des Stillens bis zu den Anfängen der La Leche Liga lässt sich eher so zusammenfassen: Frauen haben manchmal keine Lust aufs Stillen, ihnen ist es zu anstrengend, viele haben keine Zeit dazu, manche wollen keine Kuh sein, Frauen wollen auch nicht als Schwein beschimpft werden, die einen wollen lieber eine Position in der Öffentlichkeit einnehmen, andere sind zu erschöpft von der Arbeit, die sie sonst noch zu erledigen haben. Die österreichische Journalistin Ina Freudenschuß hält 2012 in einem einschlägigen Beitrag fest: „Zu allen Zeiten entschieden sich Mütter gegen das Stillen, sei es aus ökonomischen Gründen, aus gesundheitlichen, aus persönlichen oder aus Gründen der sozialen Distinktion.“ 

Wenn Stillen natürlich ist – ist Nicht-Stillen dann unnatürlich? Warum wird Müttern im 21. Jahrhundert nicht genauso plakativ erzählt, dass sie mit dem Nicht-Stillen ebenfalls einer Tradition folgen, die zum Menschsein dazugehört? Vielleicht sogar zu ihrem Säugetiererbe? Alles andere wäre auch schlichtweg nicht plausibel. Mit dem Verweis auf die Natürlichkeit des Stillens wird ebenjene Logik bedient, die schon die Aufklärer nutzten, um zu argumentieren, dass der Platz von Frauen zu Hause sein soll. Der Glaube an eine vermeintlich natürliche, quasi gottgewollte Ordnung, die unabhängig davon, wie sich Menschen entwickeln, was sie denken, was sie verändern, wie sie leben, überdauert. 

Mit dem natürlichen Stillen wird Brusternährung als anthropologische Konstante gerahmt. Als etwas, was Menschen schon immer so gemacht haben, weil sie Menschen sind. Dabei zeigt der Blick in unsere Säugetiergeschichte, dass Stillen vielmehr eine kulturell variierende Ernährungsform ist. Und übrigens: Wenn die Tierwelt schon unser Spiegel sein soll, sei doch zumindest erwähnt, dass auch Tiere vielfältige Rollen- und Lebensmodelle leben. Tamarinen etwa, das sind Primaten, leben im Familienkollektiv, in dem mehrere Weibchen mit mehreren Männchen zusammen sind und sich auch die Männchen um den Nachwuchs kümmern. Beobachtungen zeigen, dass auch Affen mal nicht wissen, wie sie ihre Babys säugen sollen. Auch bei Stuten kommt es vor, dass sie ihre Fohlen nicht säugen wollen. 

Wenn man schon die Natur bemüht, um Frauen und Queers das Stillen zu verkaufen, sei darauf hingewiesen, dass auch Biologie durch Überzeugungen geprägt ist. Die britische Zoologin und Filmemacherin Lucy Cooke schreibt in ihrem Buch „Bitch“: „Der größte Erkenntnisschritt in der Biologie, ja vielleicht in der gesamten Naturwissenschaft, wurde von einer Gruppe Männer Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen, und dementsprechend finden sich darin bestimmte Annahmen bezüglich der Natur von sozialem und biologischem Geschlecht.“ Schon bei Charles Darwins Versuch, die Entstehung der Arten nicht als biblische Schöpfungsidee, sondern als einen Entwicklungsprozess der Selektion zu erklären, beschränke er Frauen fast ausschließlich auf ihre Bestimmung zur Mutterschaft. In seinem Werk „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ steht: „Die Frau scheint vom Manne in Bezug auf geistige Anlagen hauptsächlich in ihrer größeren Zartheit und der geringeren Selbstsucht verschieden zu sein (…). In Folge ihrer mütterlichen Instincte entfaltet die Frau diese Eigenschaften gegen ihre Kinder in einem außerordentlichen Grade. Es ist daher wahrscheinlich, dass sie dieselben häufig gegen ihre Mitgeschöpfe ausdehnen wird.“ 

Kurzum: Frauen sind einfach netter als Männer, deshalb sind sie auch die besseren Versorgerinnen. 

„Stillen. Eine radikale Neubetrachtung“ erscheint im Januar 2026 im Aufbau Verlag.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/25.