Literaturtipps 06/25
Von MissyRedaktion

Pathemata
Pathemata mathemata: aus erlebtem Schmerz und Leid lernen. Dieses griechische Sprichwort ist titelgebend für den neuen Essay von Maggie Nelson. Die US-amerikanische Autorin nähert sich fragmentarisch, poetisch und autofiktional der Schmerzgeschichte ihres Mundes. Inmitten der Corona-Pandemie treibt sie zwischen der Sorge um ihr Kind, der Einsamkeit durch die Schutzmaßnahmen, die sie auch von ihrem Partner entfremden, und dem Verlust einer kranken Freundin, von der sie sich pandemiebedingt telefonisch verabschieden muss, in chronischen Schmerzen. Die Passagen lesen sich wie ein Traum: Ihre Mission ist klar, sie möchte dem Auslöser ihrer Kieferschmerzen auf den Grund gehen und sich von ihnen befreien. Dabei gerät sie in Herausforderungen und Horrorszenarien, die das Abenteuer ins Absurde verzerren, bis Fantasie und Realität schwer voneinander zu trennen sind. Vom zähen Stau auf den Straßen von Los Angeles, esoterischen Heilpraktikerinnen, grenzüberschreitenden Ärzten, teuren Behandlungen bis zum Szenario, vor einer Lesung die Vorderzähne zu verlieren, verschmelzen Ängste und reale Hürden chronisch kranker Menschen ineinander. Der Text ist die Suche nach einer Sprache für die Unaussprechlichkeit des Schmerzes. Sprache ist schließlich auch, was das Schreiben und den Mund miteinander verbindet. Nelson erzählt ihre Geschichte gewohnt klug, lyrisch und verletzlich, vor allem wenn es um Verlust geht: „Die Art und Weise, wie C mich kannte, ist mit ihr gestorben; ich werde von jetzt an weniger geliebt sein, weniger gekannt.“ Einzig die Queerness des Originals leidet stellenweise unter der deutschen Übersetzung. Hengameh Yaghoobifarah
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Maggie Nelson „Pathemata. Die Geschichte meines Mundes“ ( Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. Hanser Berlin, 90 S., 22 Euro )

Schwanentage
Mit „Schwanentage“ erscheint erstmals ein Buch von der chinesischen Bestsellerautorin Zhang Yueran auf Deutsch. Ihr vorheriger Roman, auf Englisch veröffentlicht unter dem Titel „Cocoon“, erzählte von einer Generation, deren Eltern die Kulturrevolution der 1960er- und 1970er-Jahre durchlebt hatten. Nun richtet Zhang einen Blick auf die Klassenverhältnisse im China des 21. Jahrhunderts: Erzählt wird aus der Perspektive von Yu Ling, die als Kindermädchen für eine wohlhabende Familie in Beijing arbeitet. Im Zentrum ihrer Fürsorge steht der siebenjährige Kuan Kuan, zu dem sie eine innige Beziehung entwickelt – während die Distanz zu seinen Eltern unüberbrückbar bleibt. In dieser Konstellation spiegelt sich das Spannungsfeld von Intimität und Ausbeutung wider: Nähe, die unweigerlich von ökonomischer Ungleichheit geprägt bleibt. Doch „Schwanentage“ ist mehr als eine soziologische Milieustudie. Zhang Yueran entfaltet ein vielschichtiges Drama mit überraschenden Wendungen und aufschlussreichen Rückblenden, die Parallelen zwischen dem Kindermädchen und Kuan Kuans Mutter offenbaren: Väter wie Partner haben ihre Lebenswege entscheidend geprägt, und dies nicht gerade zum Guten. Ein feministischer Pageturner über die zufälligen Linien, die ein Leben zeichnen. Merle Groneweg
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Zhang Yueran „Schwanentage“ ( Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Ecco, 224 S., 24 Euro )

Mammut
Was machen, wenn man unbedingt schwanger werden will, aber nicht wirklich Bock auf Männer hat? Die Ich-Erzählerin in „Mammut“ hat eine kuriose Idee: Getarnt als Party für ihren 24. Geburtstag organisiert sie eine „Zeugungsfeier“. Allerdings ohne Erfolg. Auch beruflich sieht es nicht besser aus. Sie schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, bis sie, ermüdet von ihrem Alltag, kurzerhand beschließt, Barcelona hinter sich zu lassen und in ein Haus in den Bergen zu ziehen. Sich alle Annehmlichkeiten der Zivilisation zu versagen, auf eine Toilette zu verzichten und als einzigen Nachbarn einen drei Kilometer entfernt wohnenden Schäfer zu haben, gibt ihr neue Kraft. „Einsamkeit macht nicht intelligent, aber findig, sie bringt dich dazu, dich für das Leben zu entscheiden“, erkennt sie. Während die katalanische Autorin Eva Baltasar international bereits große Erfolge feiert (ihr zweiter Roman einer sehr lose zusammenhängenden Trilogie, deren dritter Teil „Mammut“ ist, stand auf der Shortlist des International Booker Prize), ist dies die erste Übersetzung ins Deutsche. Ihre Protagonistin ist getrieben von einem Hunger aufs Leben, der sich auf körperliche Weise äußert – sie möchte schwanger werden, um in sich Leben zu kreieren, nicht, um ein Kind zu haben. „Mammut“ ist ein ungewöhnlicher, dichter Roman über moderne Weiblichkeit, Desillusionierung über ein Mittelschichtsdasein, Gewalt und – ja, auch – queeres Begehren. Isabella Caldart
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Eva Baltasar „Mammut“ ( Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann. Schöffling, 112 S., 20 Euro )

Wir können doch Freunde bleiben
Bücher über romantische Beziehungen gibt es zuhauf, Dating-Apps sprießen weiterhin aus dem Boden und vom erzwungenen Happy-End im Kino müssen wir gar nicht erst sprechen. Aber wie ist das eigentlich, wenn Menschen sich trennen? Auch hierfür gibt es Ratgeber und Retreats, doch wo finden sich die Erzählungen, die Erfahrungsberichte, die Beichten? Nachdem Katja Lewina in „Ex“ über ihre zehn wichtigsten Beziehungen geschrieben hatte, wollte sie irgendwann auch mal von ihren Leser*innen wissen, wie das so bei ihnen war. Und nach anfänglichem Zögern kam – auf Lesungen, am Signiertisch, im Café, auf der Couch, am Telefon, im Zug – eine Geschichte nach der anderen. Eine Auswahl von 29, ergänzt um eigene Texte, führt uns nun durch eine Mischung aus Trennungen am Telefon und Scheidungen mit Kindern, über Jugendlieben, unüberlegtes Zusammenziehen und diverse Betrügereien, bis hin zu Ghosting und Aufenthaltsgenehmigungen. Der Untertitel des Buches lautet zwar „Trennungsgeschichten aus der Hölle“, bereits in der Einleitung wird aber erwähnt, dass es sich nicht um gewaltvolle Geschichten handelt. Bei ein, zwei Storys kann man das zwar anders sehen, an sich handelt es sich hier aber wirklich um, wenn auch teilweise überraschenden, lockeren Kaffeeklatsch. Nicht weltbewegend, aber unterhaltsam. Avan Weis
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Katja Lewina „Wir können doch Freunde bleiben“ ( Dumont, 208 S., 20 Euro )

Im Land der Vergessenen
Zwischen den Bergen und Grenzposten von Darmian, wo Iran und Afghanistan aufeinandertreffen, wächst Aliyeh Ataei als Tochter afghanischer Eltern auf – und macht diese Zwischenwelt zum Ausgangspunkt ihrer Texte über Heimat, Zugehörigkeit und Identität. Ihr Vorwort, datiert auf den 16. November 2022 – Startschuss für die „Frauen, Leben, Freiheit“-Proteste – ist ein Manifest gegen die Sprachlosigkeit von Frauen aus Afghanistan und Iran, die allzu oft pauschal als „unterdrückt“ abgestempelt werden. In neun Erzählungen entfaltet Ataei ein Panorama von vier Jahrzehnten: frühe Verluste – der Tod des Vaters, der ersten großen Liebe – und Schicksalsschläge wie ein rassistischer Übergriff auf eine afghanische Freundin in Teheran. Brutal und schonungslos, dann wieder inspirierend und hoffnungsvoll. Ausgezeichnet mit dem Mehregan-e-Adab-Preis, erzählt sie von Leben im Dazwischen, vom Krieg zerrütteten Familien, Exil, Mut, Zähigkeit und Widerstand. Ein glückliches Exil vergleicht sie mit Zucker, der sich in bitterem Kaffee auflöst, beschreibt aber auch Entfremdung: „(…) als ob die Heimat für den Exilanten nur noch eine Form ohne Inhalt wäre, die er die ganze Zeit zu füllen versuchte“. Scheinbare Widersprüche, die sie zu einem stimmigen Ganzen verdichtet. Es sind Geschichten von Frauen, die Staunen hervorrufen, weil sie den widrigsten Umständen trotzen, statt an ihnen zu zerbrechen. Carina Scherer
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Aliyeh Ataei „Im Land der Vergessenen“ ( Aus dem Persischen von Nuschin Maryam Mameghanian-Prenzlow. Luchterhand Literaturverlag, 192 S., 22 Euro )

Mit Männern leben
„Ich habe es getan, weil ich kein Bewusstsein mehr hatte, ich hatte einen Penis anstelle eines Gehirns“, zitiert Manon Garcia einen der Täter, der die betäubte Gisèle Pelicot vergewaltigt hat. Die französische Moralphilosophin und Professorin an der FU Berlin hat den Prozess in Avignon besucht – und analysiert anhand ihrer Beobachtungen inner- und außerhalb des Gerichts die patriarchalen Mythen und Positionierungen, die diese massenhaften Gewalttaten ermöglicht haben. Männer werden ihr zufolge paradoxal als mächtiger und überlegener als Frauen konstruiert, und gleichzeitig werden ihre Schwächen durch kindliche Unreife oder männliche Triebstrukturen entschuldigt. Frauen hingegen lernen von ihrer Kindheit an, sich als vergewaltigbare Körper wahrzunehmen, als „Vor-Opfer“, während, wenn es tatsächlich dazu kommt, ihre Erfahrung in Zweifel gezogen oder ihnen die Schuld daran gegeben wird. Ihr Fazit ist ähnlich demjenigen von Neige Sinno, die in ihrem autofiktionalen Roman „Trauriger Tiger“ zum nüchternen Schluss kommt, dass Männer vergewaltigen, weil sie es können. In einer Gesellschaft, in der männliche Gewalt normalisiert und naturalisiert wird, ist die chemische Unterwerfung von Gisèle Pelicot kein monströser Einzelfall, sondern traurige Konsequenz. Garcias – zynische oder verzweifelte? – Forderung lautet, dass die Männer die Frauen zumindest ein bisschen lieben sollten, um sie endlich als Subjekte und nicht nur als fantasierte Projektionen wahrzunehmen. Ihr Zorn auf die Verhältnisse ist absolut mitreißend und aufrüttelnd, doch man würde sich dennoch wünschen, dass sie nicht ihrerseits patriarchale Unterwerfung überzeitlich naturalisieren, sondern als Folge historisch-materieller Entwicklungen untersuchen und mit der Benennung ihres Beginns auch die Möglichkeit ihres Endes skizzieren würde. Sonja Eismann
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Manon Garcia „Mit Männern leben. Überlegungen zum Pelicot-Prozess“ ( Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp, 195 S., 20 Euro )

Fair und Nessi
In „Fair und Nessi“ erzählt Regina Feldman (bekannt durch die tolle Vorlesereihe „Kami und Mika“) von einem modernen Märchen, nämlich dem der Chancengleichheit. Bei den Bings entscheidet eine Mütze über den Verlauf des Lebens: Wer eine rote trägt, hat viele Fonnsis. Das liegt mitunter auch daran, dass ihre Vorfahren Fonnsis bei den gelben Mützen geborgt – und nie zurückgegeben – haben. Gelbmützige Bings haben somit nicht so viele Fonnsis – und dadurch ziemlich viele Nachteile. Fonnsis schmecken nicht nur gut, man kann mit ihnen nützliche und unnütze Dinge kaufen. Vor allem sind sie wichtig beim großen Fonnsissprung, mit dem für die Bing-Kinder der Ernst des Lebens beginnt. Nur wer ihn schafft, erhält einen eigenen Fonnsi-Baum. Eines Tages begegnen sich zwei Kinder aus unterschiedlichen Gruppen. Nessi und Fair beginnen, das gewohnte System zu hinterfragen. Sie werden kreativ und finden einen Weg, ihre Welt gerechter zu machen. Am Ende bleibt ein riesiger Haufen Fonnsis übrig, über dessen Verwendung die Leser*innen selbst nachdenken dürfen. Mit diesem Buch gelingt es Regina Feldman, unterhaltsam und klug eine Geschichte über soziale Ungerechtigkeit zu erzählen – und eine Möglichkeit für Gespräche über Fairness und Solidarität mit Kindern zu schaffen. Carla Heher
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Regina Feldman „Fair und Nessi. Das Märchen von der Chancengleichheit“ ( Illustriert von Anna Lisicki-Hehn. Ab 4 Jahren. Buchfink Verlag, 32 S., 20 Euro )

Aufrecht
Ein lächelndes Ehepaar, 1941, Flitterwochen im italienischen Skigebiet. Was wie ein gewöhnliches Familienfoto klingt, ist der Beginn einer persönlichen Forschungsreise. Zwischen Geheimdienstakten und Erinnerungen schreibt Lea Ypi in ihrem neuen autofiktionalen Roman „Aufrecht“ ein Stück Geschichte auf beiden Bedeutungsebenen des Wortes. Nachdem Ypi das besagte Bild ihrer Großeltern in Sozialen Netzwerken mitsamt höhnischen Kommentaren entdeckt, drängen sich für die in Tirana geborene Autorin Fragen auf: Passt das Bild ihrer Großmutter mit der Person zusammen, die sie wirklich war? Wieso war sie mit ihrem Ehemann während eines blutigen Krieges in den Flitterwochen? Wo stand sie politisch, und in Beziehung zu Kommunismus und Faschismus? Ähnlich wie ihr preisgekröntes autobiografisches Sachbuch „Frei“ glänzt auch „Aufrecht“ mit einer authentischen Erzählart. Der politischen Theoretikerin gelingt es, ähnlich wie mit ihrer philosophischen Forschung, tiefergehende Themen für die Öffentlichkeit nicht nur zugänglich, sondern fesselnd aufzubereiten. Da ist zum einen ihre historische Annäherung an Albanien und gleichzeitig die persönliche Auseinandersetzung. Zwischen Erinnerung und Verklärung stellt sie Fragen, die viele auch aus ihren Familien kennen. Wer sind die Menschen, von denen man dachte, sie schon immer zu kennen? Lea Ypis essayistisches Memoir erzählt nicht nur ihre eigene Familiengeschichte, sondern erlaubt es den Leser*innen, auch ihre Familien in ein Verhältnis zu ihrer Erzählung zu setzen. Ein fantastisches Spiel zwischen Wahrheit und Vergangenheit, das Herz und Verstand berührt. L. A. Evans
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Lea Ypi „Aufrecht“ ( Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp, 389 S., 28 Euro )

Der Fluch der Falodun Frauen
Wie prägt uns unsere Familie? Erben wir die Traumata unserer Vorfahr*innen? Kann es sein, dass sich Geschichte wiederholt? Immer wieder und wieder? Die Frauen der Familie Falodun sind sich sicher: ja. Denn es liegt ein Fluch auf ihnen, dass ihnen allen das Herz gebrochen wird. Drei Generationen Frauen leben daher gemeinsam ohne Männer in einem Haus in Lagos, wo Oyinkan Braithwaites neuer Roman spielt. Hier nimmt sich direkt am Anfang die 25-jährige Monife das Leben und am Tag ihrer Beerdigung wird ihre Nichte Eniiyi geboren, die ihrer verstorbenen Tante so ähnlich sieht und ist, dass der Verdacht immer stärker wird, sie könnte eine Reinkarnation sein. Juju und der Einfluss von Geisterwelten – all das spielt eine große Rolle in dem Roman der Bestsellerautorin von „Meine Schwester, die Serienmörderin“. Braithwaite wechselt zwischen den Jahren und den drei Hauptfiguren hin und her, doch die dadurch erzeugte Spannung über die Zusammenhänge kann leider nicht darüber hinweghelfen, dass der Roman vor allem Liebesgeschichten erzählt. Trotz Versuchen der Emanzipation und Selbstbehauptung der Frauen geht es hauptsächlich um die Frage: Werden sie den Mann ihres Lebens finden? Die anderen großen Fragen bleiben unbeantwortet. Ein Roman, der sich so leicht und unterhaltsam liest wie eine Netflix-Serie, die man bingt und dann schnell wieder vergisst. Juliane Streich
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Oyinkan Braithwaite „Der Fluch der Falodun Frauen“ ( Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Blumenbar, 432 S., 24 Euro)

Wachskind
Olga Ravn erzählt in „Wachskind“ aus der Perspektive einer magischen Wachspuppe die Geschichte der unverheirateten Adeligen Christenze Kruckow, die im 17. Jahrhundert in Dänemark zusammen mit ihren Freundinnen als Hexe angeklagt wurde. Es ist eine Geschichte von alternativem Wissen, lesbischer Liebe, Schwesternschaft, kurz: dem Versuch, außerhalb vom Patriarchat zu leben – und davon, wie all das unterdrückt wurde, bis hin zum Mord auf dem Scheiterhaufen. Die Gerichtsszenen, die teilweise aus echten Dokumenten zitieren, weisen dabei erschreckende Ähnlichkeit mit reaktionären Kommentaren der Gegenwart zu #MeToo auf. Dass der Roman ganz und gar nicht gestrig wirkt, liegt aber vor allem auch an Ravns bissig-poetischer Sprache, für die schon ihre beiden ersten Romane „Meine Arbeit“ und „Die Angestellten“ gelobt wurden. In „Wachskind“ verwebt sie historische Dokumente, echte Hexenformeln und Gerichtsprotokolle und erschafft so eine ganz eigene, zeitlose Welt, ein mystisches Hexenreich. Ganz so, als ginge es darum, an eine fast vergessene Parallelwelt zu erinnern. Auf den ersten Seiten mag sie irritieren, doch sobald man drin ist, will man nicht mehr raus. Lea Sauer
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Olga Ravn „Wachskind“ ( Aus dem Dänischen von Alexander Sitzmann. März Verlag, 190 S., 25 Euro )

Love In Exile
Lange Zeit glaubte Shon Faye nicht daran, als trans Frau Aufnahme in die Welt der Hetero-Liebe zu finden. Am Scheitern waren jedoch nicht nur cis Männer schuld, konstatiert sie in ihrem Buch „Love In Exile“, sondern auch die eigene Vorstellung von Liebe, promotet von Rom-Coms und Literatur. Der deutsche Untertitel „Queerness, Sehnsucht und warum Dating harte Arbeit ist“ führt etwas in die Irre, geht es im Buch doch um eine breite Vorstellung von Liebe, die sogar – ewww – Spiritualität umfasst. Für ihre Analyse verknüpft Faye die eigene Datingerfahrung mit Theorie, u. a. von bell hooks und Eva Illouz. Dabei spart sie auch sehr Persönliches wie ihre Suchterkrankung nicht aus. Diese Verletzlichkeit ist zusammen mit Humor und erzählerischem Geschick ein Geschenk an Leser*innen, die sich so, ob cis oder trans, in Fayes Erleben wiederfinden. Liebesprobleme sind gesellschaftlich verfasst, so ihr Befund, und lassen sich daher individuell kaum lösen. Dennoch präsentiert Faye ihre harte Arbeit an sich als praktischen Ausweg und lässt damit die eigene Analyse ein Stück weit im Stich. Weniger als erwartet werden Transfeindlichkeit sowie queere Beziehungskonzepte und Identitäten thematisiert. Das wirkt lückenhaft, entspringt aber vielleicht einfach Fayes eigener Erfahrungswelt. Und gibt es nach all den harten Wahrheiten am Ende Hoffnung für die Liebe? Ja und nein. Immerhin winkt ein Trostpreis, so Faye: die Selbstliebe. Rosen Ferreira
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Shon Faye „Love In Exile“ ( Aus dem Englischen von Desz Debreceni und Anne-Sophie Ritscher. hanserblau, 256 S., 22 Euro )

Pusztagold
Die Autorin arbeitet in Berlin gerade an einer politikwissenschaftlichen Masterarbeit zum Thema Saatgut, als die Pandemie beginnt. Schon zuvor leidet ihr Partner an einer Krankheit, die lange nicht diagnostiziert wird und sich als ME/CFS erweist. Gemeinsam ziehen sie in das Dorf im österreichischen Burgenland, aus dem die Autorin stammt. Dort pflegt sie nicht nur ihren mittlerweile schwerkranken Partner, sondern beginnt auch zu gärtnern und Gemüse zu züchten. In ihrer autofiktionalen essayistischen Erzählung begleiten die Leser*innen Clara Heinrich durch einige Jahre ihres Lebens, und es fühlt sich an – so wird ihr Lektor im Text zitiert –, wie von einem Rabbithole ins nächste zu fallen. Rabbithole Saatgut, Rabbithole Apfelsorten, die so heißen wie adelige Landgüter, Rabbithole Klimakrise, Rabbithole Care, Rabbithole ME/CFS. Vor allem schreibt Heinrich über Fürsorge und Pflege – für Menschen und für Landschaften – mit vielen Referenzen auf feministische und politische Theorie. Doch der Text ist sehr konkret in einem Alltag verhaftet, in dem es darum geht, die Medikamente aus der nächsten Apotheke zu bekommen, um Trockenheit, die die Ernte bedroht, aber auch um das Wiederankommen auf dem Dorf nach einem Leben in Berlin, um die rettende Kraft von Kunst. Schmerzhaft ist das in seiner Gegenwärtigkeit. Ein Text, dem man viele Leser*innen wünscht. Anna Mayrhauser
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Clara Heinrich „Pusztagold“ ( AKI, 288 S., 25 Euro )
Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/25.
