© SMayank Austen Soofi

Um zu verstehen, wie Arundhati Roy zu der Schriftstellerin geworden ist, die sie ist, muss man ihre Mutter kennenlernen. In „Meine Zuflucht und mein Sturm“ schreibt Roy gewohnt essayistisch, literarisch, poetisch – dieses Mal über ihr eigenes Leben. Sie erinnert sich an ebenjene 2022 verstorbene Mutter und beschäftigt sich mit der jüngeren politischen Geschichte Indiens, die wegen ihres Aktivismus und der darauffolgenden Repression mit ihrem persönlichen Leben verflochten ist. Vieles, was Roy über ihre Kindheit schreibt, erinnert an ihren ersten, mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „Der Gott der kleinen Dinge“.

Die Mutter und Lehrerin, Main Character und von der Autorin meist „Mrs Roy“ genannt, entzieht sich dem Klischee der liebevollen, aufopfernden Mama. Hier bringen Tochter und Sohn die Opfer und werden für alles verantwortlich gemacht, was schiefläuft – von der eigenen Existenz bis zum Asthma ihrer Mutter. „Ich versuchte, für sie zu atmen. Ich wurde zu ihrer Lunge“, schreibt Roy.

Mrs Roy trennt sich von ihrem missbräuchlichen Ehemann, als ihre Tochter zwei Jahre alt ist, zieht mit beiden Kindern in ein altes Haus, das im Besitz ihrer Familie ist – und wird von dieser rausgeworfen, weil Töchter laut dem Travancore Succession Act von 1916 kein Anrecht auf Erbe hatten. 

Sie baut „Stein für Stein“ eine Schule für die syrisch-christliche Community, setzt sich verbissen und fürsorglich für ihre Schüler*innen ein und reformiert als Frauenrechtsaktivistin das Erbschaftsrecht für syrisch-christliche Frauen am indischen Supreme Court. In ihren persönlichen Beziehungen und ihren Kindern gegenüber bleibt Mrs Roy durchgehend unberechenbar. Grausamkeit, die von liebevollen Momenten durchbrochen wird. Und trotzdem wird sie genauso sehr geliebt, wie sie gefürchtet wird. Um ihrer Mutter zu entkommen, flieht Roy mit 18 Jahren nach Delhi, erst in ihren Dreißigern beginnt sie, „Der Gott der kleinen Dinge“ zu schreiben, obwohl sie die ganze Zeit weiß, dass sie Schriftstellerin sein will. 

Nach ihrem ersten Romanerfolg reist Roy durch Indien, schreibt über indigene Bewegungen, gegen die Umweltzerstörung durch Staudämme, die indische militärische Besatzung Kaschmirs, die hindunationalistischen Progrome gegen Muslim*innen in Gujarat und begleitet später die naxalitische Guerilla in ihrem bewaffneten Kampf gegen Bergbauunternehmen. Arundhati Roy wird zu einer der schärfsten Kritiker*innen der rechtsextremen BJP in Indien – lange bevor Narendra Modi, indischer Premierminister seit 2014, sein Amt antritt. 

Trotz der belastenden Beziehung scheint Roy ihrer Mutter für vieles dankbar zu sein: nicht zuletzt für ihre frühe Ermutigung zum Schreiben und die stille Unterstützung, als Roy für ihre politischen Essays von Politik, Medien und Gerichten denunziert wird. „Politisches“ und „literarisches“ Schreiben sind in Roys Werk untrennbar: Berührend und unmittelbar hebt sie die Grenzen abermals auf.

Arundhati Roy „Meine Zuflucht und mein Sturm“ – Aus dem Englischen von Anette Grube. S. Fischer Verlag, 368 S., 26 Euro

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/25.