Es gibt vier BIPoC Menschen, die äußeren sitzen auf Stühlen und schauen in ihre Handys, die beiden in der Mitte hocken und machen Rope Play. Über der Illustration steht: „Wenn mensch genauer hinschaut und Aseggsualität als ein Spektrum betrachtet, dann macht es mehr als Sinn, dass Aces k1nky sind.“
Asexuell und kinky sein – geht das denn zusammen? Unser*e Kolumnist*in sagt klar ja. Wie das aussehen kann, thematisiert Hà Phương Nguyễn in der neusten Kolumne. © Bär Kittelmann

Beziehungsweise queer und Việt Kiều: Über das Dazwischenliegen, innere Zerrissenheit, Finden eines Zuhauses, Mehrdimensionalität, Lieben und Trauern, Hinterfragen und Neugierigbleiben.

Die Komplexität des Ace-Seins

Während eines Workshops über Kink habe ich die Erfahrung gemacht, dass Personen betonen wollten, dass asexuelle Personen auch kinky sein können. Ich habe mich gefragt, wieso diese Hervorhebung im Vergleich zu allosexuellen Personen nicht so vorkommt. Im Nachgang an ein Gespräch mit einer befreundeten Person, die auch ace (asexuell) ist, meinte sie: „Ace und kinky sein macht so viel Sinn.” Meine Gedanken kreisten weiter um den Workshop und ich hatte das Bedürfnis, diesen Widerspruch, der für viele nicht-Aces klar ist, aufzuheben. Übrigens: Asexuelle Menschen und Communities benutzen „ace” als Abkürzung und Label, ähnlich wie nicht-binäre Personen “enby” verwenden.

Die Vorstellung, dass asexuelle Menschen auf eine bestimmte Art und Weise prüde auftreten ist nicht nur stereotypisierend, sondern schränkt auch unsere Sicht auf und unser Verständnis von zwischenmenschlichen Beziehungen und das Ausleben von Intimität ein. 

Wie kannst du asexuell sein und dich gleichzeitig für Sex und Sexualität interessieren? Kann eine asexuelle Person sich sexy bewegen, auf Sexparties gehen und sie genießen, Pornos schauen, auf Dating-Apps unterwegs oder selbst Erotik-Model sein, kinky sein, Vorlieben haben und/oder Intimität wollen?

Es gibt Sexarbeiter*innen, die als Escort arbeiten und/oder in der Porno-Industrie tätig sind, die ace sind und/oder sich auf dem asexuellen Spektrum bewegen. Sexarbeit ist ein Oberbegriff, der verschiedene Dienstleistungen umfasst: von Dominatrix, Erotik-Massagen bis hin zu Kuschel-Service und emotionaler Arbeit ist alles dabei. Und natürlich gibt es Sexarbeiter*innen, die in Liebesbeziehungen sind (ob mono, poly, single, solo poly, verheiratet, usw.) und keinen Sex mit ihren Partner*innen haben, aber Sex mit ihren Klient*innen, weil sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen.
Aces sind alle individuell. Manche finden Sex eklig und können nicht nachvollziehen wieso Menschen Sex genießen und wollen. Andere stehen Sex neutral gegenüber und sehen Sex als eine Aktivität, wie Karten spielen oder ins Museum gehen, zwischen Personen. Es gibt Ace, die gar nicht mastubieren, die manchmal mastubieren oder die oft mastubieren, die selten oder gar keinen Sex haben. Manche interessieren sich für Sex, andere gar nicht.
Auch in sexpositiven und liberalen feministischen Kreisen herrscht noch immer Verwirrung darüber, wie Asexualität und Kink miteinander zusammenhängen können – vor allem wenn es darum geht, dass Kink sich allein auf sexuelle Praktiken und Dynamiken bezieht.
Viele fragen sich dabei: Ist das denn nicht widersprüchlich? Nein. Es gibt nämlich mehr kinky Aces als mensch meint zu wissen.

Das Spektrum von Kink 

Was ist Kink eigentlich und wer bestimmt was kinky Sex überhaupt ist? Die Mehrheit der Gesellschaft wird mit dem Begriff „Kink“ wohl Dinge wie BDSM und Fetisch, Bordell, Swinger-Clubs, ungeschützter Sex, Leder, Gangbangs und Grenzüberschreitungen assoziieren. Weil Kink und BDSM (Bondage, discipline/dominance, submission/sadism, masochism) sowie das öffentliche Sprechen über Sexualität und sexuelle Fantasien immer tabuisiert und mit Scham behaftet werden, bietet diese Stigmatisierung den Nährboden für Mythen, Vorurteile, falsche Annahmen und Projektionen. Deshalb wird in der Gesellschaft unterschieden, was „richtiger und normaler“ Sex ist, indem sexuelle Szenarien oder Praktiken aus dem BDSM-Bereich als „pervers” oder „eklig” gelabelt werden und traditioneller Zwei-Personen-Sex zu Hause im Bett als „normal“ gilt. Historisch gesehen wurde BDSM pathologisiert: Eine weit verbreitete Vorstellung ist, dass Kink aus sexuellem Trauma und emotionalen, physischen, psychologischen und sexuellen Missbrauch stammt. Der berühmte Psychologe Sigmund Freud stellte zum Beispiel mit seiner Sexualtheorie die These, dass die Entstehung von Sadismus und Masochismus eine Störung der frühkindlichen Sexualität sei. 

In der Tat bemühen sich BDSM-, Kink-, Queer- und Polyamorie-Communities darin sich aktiv mit dem Konzept des Konsens auseinanderzusetzen und zu praktizieren – nicht nur für Sex, sondern in Liebesbeziehungen, Beziehungsmodellen, Machtdynamiken und Community-Arbeit. Die Basis von Kink ist Vertrauen, Konsens, Kommunikation über Grenzen, Vorlieben, Safe Words und Sicherheit – und vor allem Spaß für alle involvierten Personen.
Kink ist ein Oberbegriff, der alle einvernehmlichen Aktivitäten, die power play (das Spielen mit, Wechseln und Erkunden von verschiedenen Machtdynamiken) implizieren, die sich außerhalb der traditionellen, vanilla-sex (normaler, langweiliger, gewöhnlicher Sex unabhängig davon ob es cis-heterosexueller oder queerer Sex ist), mononormativen sexuellen Praktiken bewegt.

Kink ist nicht immer sexuell. Für manche Menschen gehen Kink und Sex Hand in Hand, für andere nicht. Kink ist nämlich nicht nur persönlich, sondern im gesellschaftlichen Kontext auch immer im Wandel: Was heute in der Mehrheitsgesellschaft als kinky gilt, kann in 5 Jahren Normalität sein. Was für dich kinky ist, kann für eine andere Person nicht-kinky sein. Für manche Menschen ist penetrativer Sex oder kuscheln kinky, für manche ist das Sich-unterwerfen einer dominanten Person (submissive sein) und Kontrolle abzugeben nicht kinky. Was im Westen als Kink gelabelt und konstruiert wird, kann und muss in anderen Kulturen nicht unbedingt als Kink gelten, sondern kann da die Norm sein. Was im Westen hypersexualisiert wird, wie zum Beispiel Sprache, Tanzrichtungen- bzw. bewegungen und Kleidung, muss in anderen Kulturen nicht kinky sein.

Kink kann Dinge umfassen wie Age Play (Altersrollenspiel), Wax Play (Wachs-Spiel), Dominant/Submission-Dynamiken (Rollenspiele, der eine Person die dominante Rolle übernimmt und sich die andere Person unterwirft), Sadomasochismus (Schmerz und Bestrafung für sexuelle Erregung), Voyeurismus (Zuschauen von sexuellen Handlungen), Exhibitionismus (Zeigen von sexuellen Handlungen), Bondage (das Fesseln einer anderen Person für sexuelle Erregung) und vieles mehr.

Es ist ein Match!

Jede Person, unabhängig von ihrer Sexualität und ihrem Gender, hat eine einzigartige und vielfältige Bandbreite von sexuellen Vorlieben und Abneigungen. So wie Intitmität ohne Sex und Sex ohne Intimität für Menschen existieren kann, kann auch Kink ohne Sex und Sex ohne Kink existieren. Und auch wenn es für viele Menschen zunächst unvorstellbar scheint: Asexualität und Kink sind ein gutes Match.

Während beispielsweise die Vorstellung vorherrscht, dass BDSM sich allein auf Leder, Schmerz und Bestrafung bezieht, umfasst BDSM viele verschiedene Level, die alle auch auf eine nicht-sexuelle Art genossen und praktiziert werden können. BDSM umfasst sensuelle, sexuelle, physische, emotionale und psychische Aspekte. Es kann eine körperliche Ebene einnehmen, aber BDSM kann sich auch im Alltag zeigen. Ein konkretes Beispiel: Es gibt einvernehmliche Dynamiken, bei der eine Person die Finanzen der anderen Person verwaltet und kontrolliert.

Asexuelle Menschen haben ein besseres (Fein-)Gefühl für verschiedene Formen von Intimitäten und Begierden, weil sie sich aufgrund ihrer Sexualität mehr mit den Differenzierungen und Überschneidungen auseinandersetzen.  

Asexuelle Menschen haben ein besseres (Fein-)Gefühl für verschiedene Formen von Intimitäten und Begierden, weil sie sich aufgrund ihrer Sexualität mehr mit den Differenzierungen und Überschneidungen auseinandersetzen.  Wenn Mainstream-Medien Themen zu Kink und Asexualität behandeln, dann verschmelzen die Grenzen zwischen sensuellen und sexuellen Erfahrungen. Sensuelle Erfahrungen (sanftes Streicheln, Sinne, Massage, Gerüche, Geschmäcke, Geräusche, usw.) sind nicht zwangsläufig sexuell. Sie können entspannen und einen meditativen Charakter haben. Sexuelle Erfahrungen hingegen machen horny, feucht, hart und Lust auf Sex. Ein Zungenkuss kann Teil des sexuellen Vorspiels sein, während es für eine andere Person einfach nur ein intensiver Kuss ist. Während ein Streicheln am Po ein schönes Gefühl für eine Person ist, kann es  eine  andere Person geil auf Sex machen. Für manche Menschen ist Rope Play gar nicht sexuell, während es für andere eine Form des erotischen Vorspiels sein kann. Manche Personen agieren in Rope Play aus sensuellen Gründen, weil sie das Gefühl des Reibens der Seile auf der Haut mögen und den psychologischen Aspekt genießen, wenn sie gefesselt werden. 

Die Grenze zwischen sensuell und sexuell variiert von Person zu Person. Viele Aces mögen BDSM aufgrund des psychologischen Aspekts: die Übernahme oder Abgabe von Kontrolle und das Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen. Wenn mensch also genauer hinschaut und Asexualität als ein Spektrum betrachtet, das sich außerhalb von und parallel zu Allosexualität und normativen Vorstellungen von Sex und Intimität bewegt, dann macht es mehr als Sinn, dass Aces kinky sein können.

Eine Person sitzt deprimiert und allein im Dunkeln und wird von einem Handybildschirm angestrahlt. Überhalb der Illustration steht: "Derzeit sind viele Menschen auf der Suche nach jüdischen, arabischen oder muslimischen Stimmen, um sie zu tokenisieren, instrumentalisieren und sich selbst zu bestätigen."
Einsamkeit und abnehmende Resilienz: die aktuelle politische Lage schlaucht nicht nur unter Linken

Hypertext von Zain Salam Assaad

„Hypertext“ ist das Produkt aller möglichen Memes und Sad Songs des letzten Jahrhunderts. In dieser Kolumne beschreibt Zain Salam Assaad mal satirisch, mal ganz ernst, wie sich Exil, Popkultur und Weltgeschehen zwischen dem Mainstream und am Rand der Gesellschaft bewegen – zwischen Pass und Smash. Dazu teilt Zain Memes oder eigene Mood-Playlists.

Am 07. Oktober 2023 griff die islamistische Terrororganisation Hamas Israel an, woraufhin Israel eine umfangreiche Militäroperation im Gazastreifen startete. Nach offiziellen Angaben gab es bisher in Israel über 1.400 Todesopfer und mehr als zweihundert Menschen wurden von der Hamas als Geiseln genommen. Hierbei wird von „dem tödlichsten Angriff auf jüdische Menschen seit dem Holocaust“ gesprochen. Gleichzeitig verzeichnet die UN „die tödlichste Eskalation im Gazastreifen seit 2006“. Das Gesundheitsministerium in Gaza meldete mehr als 8000 Todesopfer, darunter über 3000 Kinder.

Die Entwicklungen sind vor allem eins: tragisch und entsetzlich. Infolge des Angriffs werden zahlreiche Tweets, Kacheln in sozialen Medien, Aufrufe zu Demonstrationen und politische Stellungnahmen geteilt. Dabei werden zeitgleich antisemitische wie rassistische Äußerungen verbreitet und prägen einen bedeutsamen Wendepunkt im deutschen Diskurs über Israel-Palästina, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Medienlandschaft. Dieser Diskurs spaltet sich in unterschiedliche Richtungen, auch in linkspolitischen Kreisen. Offen bleiben die Fragen: Wie kann man sich überhaupt zum Krieg und Terror positionieren? Und vor allem: Wie gut kann man das tun, wenn bereits vorgefasste Annahmen im Spiel sind?

Peak of Gaslighting

Aktuell sind viele Menschen auf der Suche nach den „richtigen“ jüdischen, arabischen oder muslimischen Stimmen, um sie zu tokenisieren, instrumentalisieren und sich selbst zu bestätigen. Für diese Menschen ist dann alles falsch, was die vorausgesetzte Homogenität herausfordert. Argumente, wie das Zusammenführen verschiedener Realitäten, gelten für sie als zu einseitig oder relativierend. Die eine richtige Stimme, die die einzige Realität widerspiegelt, gibt es nicht. Es sind verschiedene Meinungen und Perspektiven und sie existieren in diesem Kontext parallel zueinander. Ich höre von vielen arabischen und jüdischen Bekannten, dass sie momentan zögern, sich offen zu äußern. Denn alles, was gesagt wird, wird entweder in einem sehr kritischen Licht betrachtet oder ist bereits stark von antisemitischen oder islamfeindlichen sowie antiarabischen und rassistischen Äußerungen geprägt. Was beim Sich-Anfeinden, Outcallen und Labeln aber untergeht: Zivilist*innen in Gaza und Menschen im Westjordanland (auch West Bank) sowie in Israel werden getötet. In Deutschland wird währenddessen darüber debattiert, wessen Tod gerechtfertigt ist. Denn jede*r interpretiert die Geschichte des sogenannten Nahen Ostens aus der eigenen Perspektive. Anstatt in gesellschaftlichen Debatten über konstruktive politische Lösungen zu sprechen, steht die Frage nach der eigenen, meist performativen Positionierung verstärkt im Vordergrund, sowohl auf individueller als auch auf staatlicher Ebene. Rhetorische und oft überzogene Gleichsetzungen zwischen Religion, Zivilist*innen, Staat und Terrorismus schüren diese Stimmung. Damit wird ein neuer „Peak of Gaslighting“ gegenüber den Betroffenen vor Ort erreicht und bleibt nur wenig Raum für gemeinsames Trauern und Mitgefühl, sowohl für jüdische als auch palästinensische Menschen.

Ist es möglich, sich nicht zu positionieren?

Ab welchem Punkt wird ein Verhalten als eindeutiger Hinweis oder klare Stellungnahme betrachtet? Welche Signale weisen in der Kommunikation auf Menschenverachtung hin und welche auf Solidarität? Diese Fragen sind in theoretischen Überlegungen schwer zu beantworten. Zwar sind digitale Räume ohne Zweifel Orte der Kommunikation, jedoch berichten aktuell viele junge Menschen in meinem Umfeld, dass derzeit jede Form der Kommunikation dort als Positionierung interpretiert wird. Sie äußern ein starkes Gefühl der gegenseitigen Überwachung: Alle warten darauf, was andere posten und wie sie sich positionieren, um daraus politische Standpunkte abzuleiten. Dadurch soll beurteilt werden, wie Personen zu Themen, wie der Verharmlosung antisemitischer Angriffe, Rassismus oder der Tötung von Israelis und Palästinenser*innen, stehen. Dieser Druck dringt immer tiefer in innerdeutsche und innerlinke Konflikte sowie in zwischenmenschliche Beziehungen ein. Viele haben sich bis vor Kurzem nie besonders zu politischen Themen positioniert oder suchen sich in den sozialen Medien Vorbilder aus, um sich ihr eigenes Wissen und ihre eigenen gesellschaftskritischen Ansichten zu bilden. Manche haben Angst, zu radikal zu sein, während andere fürchten, nicht radikal genug zu sein oder als „neoliberale Opportunist*innen“ gesehen zu werden. Die Kreise spalten sich nun. Es genügt in der heutigen Zeit, Wörter wie „Israel“ oder „Palästina“ auszusprechen, um in eine Kategorie gesteckt zu werden, die dann oft mit Verharmlosung von Mord und Gewalt in Verbindung gebracht wird.

Dekonstruktive Diskussionen auf Social Media, die eine Hierarchisierung zwischen Unterdrückungsformen konstruieren, schaffen nicht nur ein falsches Verständnis von Rassismus und Antisemitismus, sie lenken den Diskurs ebenfalls auf eine Ebene, die schnell von Rechtspopulist*innen instrumentalisiert wird. Der Hass kommt plötzlich an die Oberfläche und Menschen leben ihre rassistischen und antisemitischen Träume in der Öffentlichkeit aus. Wie können wir diesen Teufelskreis durchbrechen? Ein Anfang wäre, wenn wir die Lage in Gaza nicht relativieren und uns gegen rassistische Dehumanisierung stellen würden. Und wenn wir Drohungen und Angriffe auf Israelis und jüdisches Leben nicht verharmlosen würden. Sonst spielen wir Ereignisse und Lebensrealitäten gegeneinander aus.

„Im Trüben fischen“

„Im Trüben fischen“ bedeutet auf Arabisch, Unordnung abzuwarten und von Konfliktsituationen zu profitieren. Deutsche Politiker*innen scheinen sich der Situation bewusst zu sein und nutzen sie, um innerdeutsche Probleme nach außen zu verlagern. Wenn es brenzlig wird, ruft Deutschland gleich nach der altbekannten rechten Tradition „A*sländer raus“ aus. Das wirft Fragen auf, die nur zur Provokation dienen: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Migrant*innen oder die gesellschaftlichen und politischen Probleme? Rassismus oder Antisemitismus?

Der sogenannte Nahost-Konflikt wird nicht gelöst, solange Probleme immer bei „den Anderen“ verortet werden. Die Wurzel allen Übels, sei es Antisemitismus oder allgemeine Gewaltbereitschaft, wird oft als „importiert“ angesehen und hat angeblich nichts mit der deutschen Gesellschaft oder mit ihrer Geschichte zu tun. Diese Annahme ignoriert die Tatsache, dass sowohl Rassismus als auch Antisemitismus als globale Strukturen in verschiedenen Zeiten, Formen, Kulturen und an verschiedenen Orten präsent sind. Diese Annahme knüpft am besten an rechte Ideologien, die gerade in Deutschland an Stärke gewinnen. Diese Ideologien sind im Übrigen kein rein deutsches Phänomen und finden auch in Teilen migrantischer Communitys Anklang.

Seit dem Hamas-Angriff haben viele jüdische Menschen weltweit Angst, auf die Straße zu gehen. Jüdische Einrichtungen werden bedroht und angegriffen. Die unabhängige Recherche- und Informationsstelle „Rias“ verzeichnet einen deutlichen Anstieg von antisemitischen Angriffen in Deutschland (im Vergleich zum Vorjahr), unter anderem auch bei Demonstrationen in Solidarität mit Palästina. Die deutsche Reaktion darauf: Abschiebedebatte, Racial Profiling, Pauschalvorverurteilungen oder Verbote von propalästinensischen Demonstrationen und Symbolen. Diese können nicht die Lösung sein, um nachhaltigen Schutz vor Antisemitismus hierzulande zu gewährleisten. Rechte und islamistische Gruppierungen versuchen, diese Proteste für sich zu vereinnahmen, und durch solche Verbote erlangen sie Macht und Popularität.

Es ist wichtig, den islamistischen Terrorismus und seine Quellen in der Region, wie z. B. die Hamas, zu verurteilen sowie diesem Terror entgegenzutreten. Es ist ebenfalls wichtig anzuerkennen, dass Vertreter*innen dieses Terrors international agieren. Menschen in Gaza sind nicht der Terror. Zivilist*innen sind nicht der Terror. Die israelischen Geiseln sind nicht der Terror. Geflüchtete aus der Region sind nicht der Terror. Sie leiden unter den Konsequenzen. Der Terror ist nicht neu. Er stärkte sich in den letzten Jahren nach jeder solchen Auseinandersetzung. Denn die Lage verschärft sich nicht zum ersten Mal und steht ernsthaften überregionalen Gefahren gegenüber.

Der Diskurs der Leerstellen

Positionen zu verlangen, ohne die globalen Zusammenhänge und das Weltgeschehen zu berücksichtigen, ist selektiv und trägt zur Entstehung von diskriminierenden Verallgemeinerungen bei. Es ist schwierig, einen ausgewogenen Diskurs zu führen, wenn selbst progressive Stimmen nicht miteinander auskommen. Geht es um Ideologiekritik, Cliquenrivalitäten oder das Sichtbarmachen von Leerstellen postkolonialer oder intersektionaler Standpunkte?

Wir müssen unsere internalisierten Feindbilder überwinden, die von Weltverschwörungsmythen bis hin zum Überlegenheitskomplex reichen. Jetzt sollten wir als Gesellschaft und politische Menschen Trauer und Protest nicht den Rechten oder Islamisten überlassen. Sie dürfen nicht unsere Solidarität definieren oder die Grenzen unserer Empathie und Wahrnehmung bestimmen. Die Hoffnung ist, dass in den kommenden Wochen die Stimmen der Vernunft lauter werden und die Kriegslust leiser wird, sowohl im Diskurs als auch vor Ort in Israel und Palästina.

Triple Water 💦 von Evan Tepest und Selma Kay Matter

zwei Personen liegen nackt und  eng umschlungen auf einem Bett. Darüber steht der Satz: Hey Boy, ich würde dich gerne wiedersehen. Aber ich bin chronisch Krank und würde mir wünschen, dass unser nächstes Treffen möglichst accesible ist.
Aron und Gianni sind total verknallt. Die beiden denken aber immer wieder an Sexpausen,
damit Gianni sich nicht überanstrengt. © Bär Kittelmann

Sex ist immer schon etwas anderes als es selbst. Müssen wir verstehen, was wir begehren? Wo fängt die Lust an und wer entscheidet, was wir hot finden? Von PMS-Sex bis Porn-Gifs, über die juicy Texte der 70er-Jahre Radikalfeminist*innen bis hin zu queeren Heteros – in Triple Water wird es lesbisch, lebensfroh und nur ein kleines bisschen verklemmt.

Evans Kolumne macht auf Paarberatung – für Aron und Gianni. Das queere Couple hat sich an „Triple Water“ gewendet und gefragt: Dating zwischen chronisch kranker und able-bodied Person – wie soll das gehen? Um das zu beantworten, hat Evan sich Selma Kay Matter ins Boot geholt.

Aron und Gianni lernen sich bei einem Konzert von Tami T kennen. Sie bonden sofort über ihre Hobbys (Gewichtstraining und Reality-TV), ihre geteilte Transness und ihre Liebe für queere Memoiren. Beim Song „Ultimate Syndrome” schauen sie sich ganz tief in die Augen und verdrücken beide eine Träne. Gianni fragt Aaron: „Darf ich dich küssen?” und Aron lacht und sagt: „Ich dachte schon, du fragst nie.” 

Was Aron noch nicht weiß: Gianni kämpft schon seit der Kindheit mit verschiedenen Formen chronischer Erkrankung: mit Neurodermitis, Unverträglichkeiten und Allergien. Mit Migräne und Depression. Und seit einem Jahr lebt Gianni mit CFS (Chronic Fatigue Syndrome) als Folge von Covid-19 – wie schon vor der Pandemie rund 250.000 Menschen in Deutschland.

Nach dem ersten Kuss der beiden liegt Gianni vor Erschöpfung eine Woche lang fast nur im Bett. Gianni ist verknallt, und leider kann sein Nervensystem den Hormoncocktail an Dopamin, Adrenalin und Serotonin nicht so gut verarbeiten: Ein Hauptsymptom von CFS ist die sogenannte Belastungsintoleranz, die dazu führt, dass Gianni auf jede Art von Aufregung oder Anstrengung mit einer Verschlechterung der Symptome reagiert. Schließlich schreibt Gianni Aron auf TikTok: „Hey Boy, ich würde dich gerne wiedersehen. Aber ich bin chronisch krank und würde mir wünschen, dass unser nächstes Treffen möglichst accessible ist. Hier ein paar Quellen, wäre richtig cool, wenn du dich da einliest.” Arons Herz setzt einen Schlag aus.

Dey will Gianni so gerne einen Booty Call geben. Aber wie?

Aron sollte erst mal staubsaugen, vor allem unter dem Bett. Dann sollte dey für das Date keine volle und verrauchte Kneipe raussuchen, sondern lieber für einen gluten- und laktosefreien Mitternachtssnack einkaufen. Dey sollte von Gianni nicht erwarten, U-Bahn oder Fahrrad zu fahren, sondern könnte vorschlagen, eine Fahrt in einer App zu buchen und die Kosten zu teilen. Oder, noch besser: sich zu Gianni einladen und Essen mitbringen (die Rhetorik ist hier wichtig – nicht „SOLL ich was für dich einkaufen?”, sondern: „WAS soll ich für dich einkaufen?”) und wenn Gianni sagt, „Nichts”, trotzdem glutenfreie Cornflakes und ein paar Basics mitbringen. Aron sollte grundsätzlich nicht sofort glauben, wenn Gianni sagt, „Nein, schon okay” oder „Nicht so schlimm, wenn ich einmal Gluten esse”, sondern misstrauisch bleiben gegenüber Giannis „sweet little lies”. Behauptungen wie „Das ist nicht so schlimm” können nämlich ein angelernter Mechanismus sein, um das Machtgefälle zwischen einer dominanten Position (hier: able-bodied) gegenüber einer marginalisierten Position (hier: behindert/chronisch krank) zumindest ein bisschen auszugleichen. 

Wenn Gianni bei Aron ankommt oder umgekehrt, sollte Aron schließlich nicht sofort Sex erwarten von Gianni – oder das, was dey darunter versteht. Stattdessen könnte dey Gianni erst mal die Füße massieren und mit ihm kuscheln. Das beruhigt nicht nur das Nervensystem, sondern lässt auch Aron, dessen Mental Health nicht in Bestform ist, Vertrauen zu Gianni aufbauen. Win win.

Nach dem ersten Übernachtungsdate sind Aron und Gianni nicht nur beide endgültig bis über beide Segelohren verknallt, sondern haben auch extrem viel Lust aufeinander. Es war richtig schön, sich langsam näherzukommen, und nun fühlen sich beide so sicher miteinander, dass sie gerne zur Sache kommen würden – zumal Gianni sich, seitdem er mit Testosteron angefangen hat, wie ein horny Teenager fühlt, und Aron kurz vor dem Eisprung ist. Doch Gianni weiß, dass Sex, wenn er so abläuft wie auf dem Bildschirm – ausgiebig, körperbetont und mit mindestens einem Orgasmus am Ende – für ihn nur um einen hohen Preis zu haben ist. Auch wenn er sich wünscht, die ganze Nacht durchzumachen und sich in akrobatischen Positionen mit Aron zu vereinen, brauchen die beiden Liebenden also eine Alternative. 

Nach der Sex-Care ist vor der After-Sex-Care

Anstatt dass Aron sich sofort vor Gianni hinkniet, der gerade zur Tür reingekommen ist und noch in Schuhen und Jacke im Flur steht, um ihm die Hose aufzuknöpfen und ihm an Ort und Stelle einen Blowjob zu geben, könnte dey Gianni die Jacke ausziehen, die Schnürsenkel aufmachen und ihn mit deren starken Armen ins Bett tragen. Dann könnte dey Gianni vorschlagen, einen Timer zu stellen und gemeinsam an Sexpausen zu denken, damit Gianni sich nicht überanstrengt. Praktischerweise sind sie beide so switchy, wie es nur geht – ihre sexuellen Rollen sind flexibel. Aron muss sich nicht von Gianni toppen lassen, der vielleicht k.o. ist von der Fahrt, sondern kann seinem Pillow Prince erst mal ganz langsam Hoodie und Hose ausziehen. Vielleicht fragt Aron noch mal nach, wie Giannis Energielevel gerade ist. Wie sich sein Körper anfühlt und ob er Schmerzen hat. Es ist auch clever, abzuchecken, ob Giannis Schmerzlevel gerade dazu führt, dass er es besonders hot findet, gespankt zu werden, oder ob er sich so empfindlich fühlt, dass alles ganz soft sein muss. Wenn der Wecker klingelt, sollte Aron mit dem aufhören, was dey gerade tut, es sei denn, Gianni besteht wiederholt darauf, seine eigenen körperlichen Grenzen zu überschreiten: Dann sollte Aron das respektieren und Giannis Entscheidung mittragen. Im Idealfall sind beide einverstanden mit einer Pause, in der Aron Gianni z. B. küssen könnte oder über Giannis hotten Bartflaum streichen, der gerade wächst, oder ihm etwas vorlesen oder ihm eine Portion glutenfreie Spaghetti kochen.

Wow, wow, wow. Die Liebenden sind richtig geflasht davon, dass Sex nicht einem gängigen Skript folgen muss und trotzdem so hot und intim sein kann. Aber: Nach der Sex-Care ist vor der After-Sex-Care. Nachdem Gianni mit dem Taxi zurück nach Hause gefahren ist und die Tür zu seiner winzigen Einzimmerwohnung aufgeschlossen hat, fühlt er sich auf einmal ganz lost. Die Wohnung ist chaotisch, der Kühlschrank ist leer und Aron fühlt sich ganz weit weg an. Prompt bricht Gianni in Tränen aus und schickt Aron ein Selfie von seinem von Tränen und Ausschlag geröteten Gesicht. Dann löscht er es wieder. Aber weil Aron immer auf Nachrichten von Gianni wartet, hat dey es natürlich davor schon gesehen.

Aron hat ein schlechtes Gewissen. Dey hat doch versucht, alles richtig zu machen. Dey hat Gianni ein Taxi bestellt und ihm die Hälfte des Geldes überwiesen. Dey hat extra eingekauft. Dey hat Gianni eine Wärmflasche gemacht und Tee und ihn davon abgehalten, beim Spülen zu helfen. Aron ist tragisch zumute: Ist die interabled Beziehung zwischen demm und Gianni zum Scheitern verurteilt?

In der Begegnung mit Menschen, die Marginalisierung erfahren, die wir nicht nachempfinden können, geht es nicht darum, alles richtig zu machen. Sondern darum, Verfehlungen zu erkennen. Dem Gegenüber zuzuhören und zu versuchen, das, was schiefgegangen ist, nachträglich so gut wie möglich einzufangen und beim nächsten Mal besser zu machen. Also, Aron: erst mal tief durchatmen, eine Runde meditieren und nicht auf deiner eigenen gekränkten Perspektive hängen bleiben. Du kriegst das hin.

Trick Nummer eins für able-bodied Allys im Umgang mit chronisch kranken Personen ist: Fragen stellen. Respektvolle Fragen, natürlich, die dazu beitragen, in Erfahrung zu bringen, wie 1 das Gegenüber bestmöglich unterstützen kann. Aron schreibt: „Babe. Was brauchst du gerade?” Gianni antwortet: „1. Cuddles, 2. Essen, 3. Ablenkung”. Aron ist ein bisschen gestresst. Muss dey jetzt die 10 km zu Gianni fahren und für ihn kochen und ihn kuscheln? Aron checkt, dass er Gianni einfach vorher schon hätte fragen können: „Was brauchst du, damit du dich auch nach unserem Treffen okay fühlst?” Die Date-Planung sollte nämlich nicht nur bis zu dem Punkt gehen, wo die beiden fertig sind mit Sexhaben, sondern mit Gianni, der so happy wie möglich und versorgt in seinem Bett angekommen ist.

Okay. Das ist nicht optimal gelaufen. Aber Aron hat ein paar Ideen. Erst mal schickt dey Gianni deren Zugangsdaten für drei verschiedene Streaming-Seiten und sagt ihm, welche queeren Coming-of-Age-Feelgood-Serien er sich anschauen soll. Dey bestellt Gianni Snacks und eine Suppe, die sich Gianni nur warm machen muss. Dann schreibt Aron ihm:

„Ok, wenn ich Yara und unseren Polycule texte und checke, wer in der Nähe ist?”

Eine Stunde später liegt Gianni mit seiner besten Freundin und seiner anderen Beziehungsperson im Bett und schaut zum zweiten Mal „Heartstopper“. Er macht ein Foto von Charlie und Nick und schickt es Aron:

„Ich freue mich schon darauf, wenn UNSERE Bromance weitergeht.“

#ThrowbackFeminism von Hêlîn Dirik

Eine Gruppe von Menschen demonstriert kämpferisch. Unterhalb der Illustration steht: „Wir müssen unsere Befreiung aktiv, kollektiv und global von unten erkämpfen.“
© Bär Kittelmann. Von Errungenschaften lernen.

#ThrowbackFeminism behandelt geschichtliche und philosophische Themen aus feministischer Perspektive und stellt die Frage in den Fokus, welche Erkenntnisse wir daraus für aktuelle Kämpfe gegen Patriarchat und Kapitalismus gewinnen können.

Meine heutige Kolumne liest sich vielleicht ein bisschen wie eine Rede für eine Demo. Eigentlich wollte ich diesen Text für den 25. November, den internationalen Kampftag gegen Gewalt gegen Frauen schreiben. Dann dachte ich: Warum eigentlich? Wir müssen nicht auf einen Anlass warten, um über patriarchale Gewalt zu sprechen, denn sie passiert täglich – in Partnerschaften, in der Familie, in unserem Bekanntenkreis, in unseren Nachbarschaften, auf den Straßen, in Knästen, im Krieg, durch Staaten, durch Polizei und Militär. Jährlich steigt die Anzahl der Opfer von Femi(ni)ziden und sogenannter Partnerschaftsgewalt, jährlich häufen sich queerfeindliche Angriffe. Also lasst uns über diese allgegenwärtige Gewalt reden. Aber auch über Befreiung und über Selbstbestimmung. Reden wir über Selbstorganisierung und Praxis und darüber, warum wir uns nicht auf staatliche Institutionen verlassen können, um geschützt zu sein.

Während sich in Deutschland angesichts der katastrophalen Unterfinanzierung und Lücken im Hilfesystem viele Diskussionen (vollkommen berechtigt) um den Mangel an Hilfestrukturen und die Verantwortung des Staates drehen, richten sich viele revolutionäre feministische Kämpfe auf der Welt explizit gegen den Staat und verdeutlichen die inhärent patriarchalen Strukturen von Staat, Polizei und Justiz. Der Begriff „Feminizid“ ist angelehnt an den Begriff feminicidio, der von Feminist*innen in Mexiko geprägt wurde, und verweist, anders als „Femizid“, auf die Rolle des Staates in der Tötung von Frauen – ob durch die Straflosigkeit der Täter oder die aktive Mittäterschaft. In diesem Rahmen werden Morde an Frauen mitunter auch als Staatsverbrechen angesehen, die auf Grundlage einer tief verankerten „Staatsmisogynie“ durchgeführt werden. Zweifellos ist es richtig, als Feminist*innen den mangelnden Zugang zu Schutz und die Rolle des Staates zu diskutieren und zu kritisieren. Die lebhaftesten und erkenntnisreichsten Diskussionen, die ich in der politischen Arbeit bisher hatte, drehten sich jedoch immer um die Frage, wie und warum wir uns autonom und unabhängig vom Staat gegen patriarchale Gewalt organisieren sollten. Denn es hat sich in den letzten Jahren immer und immer wieder bestätigt, dass wir uns im Kampf gegen patriarchale Gewalt nicht auf Staaten verlassen können. Im Gegenteil: Staaten treiben in dem patriarchalen und kapitalistischen System, in dem wir leben, oft eine Politik voran, die sich aktiv gegen die Selbstbestimmung von Frauen und queeren Menschen wendet. Die Türkei etwa, die 2021 über Nacht aus der Istanbul-Konvention austrat, lässt jedes Jahr die Polizei auf brutale Weise feministische Märsche niederschlagen und greift derzeit erneut die Frauenrevolution in Rojava an; der Supreme Court in den USA kippte 2022 das verfassungsrechtlich garantierte Abtreibungsrecht; in Iran greift das Regime Tag für Tag die „Jîna-Revolution“ an und tötet Frauen, die für ihre Freiheit kämpfen; im Sudan sind Frauen und Mädchen seit Beginn der Gefechte zwischen den sudanesischen Streitkräften und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) zunehmend (sexualisierter) Gewalt ausgesetzt; und in Polen wurde 2021 ein nahezu vollständiges Abtreibungsverbot durchgesetzt, das schon jetzt vielen Betroffenen das Leben gekostet hat.

„Darauf zu warten, dass staatliche Einrichtungen Schutzmaßnahmen ergreifen, ist nicht genug.“

Die Liste ist lang, doch das Problem geht über einzelne Staaten hinaus: Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, dass wir in grundlegend patriarchalen und ausbeuterischen Strukturen leben, die ständig jeden Aspekt unseres Lebens bedrohen. Der Staat kann Maßnahmen wie die Istanbul-Konvention als reformistischen Ansatz zwar noch so wirkungsvoll umsetzen; wirkliche Befreiung können diese kapitalistische Staaten und das System, in dem wir leben, jedoch nicht geben. Denken wir bspw. an eines der wirkungsvollsten Instrumente patriarchaler Gewalt: die Isolation von Gewaltbetroffenen. Keine staatliche Institution kann von oben kommen und die Isolation für uns durchbrechen – das können nur wir, indem wir uns organisieren und von unten ein Netz spinnen, das Betroffene auffängt, schützt und stärkt. Darauf zu warten, dass staatliche Einrichtungen Schutzmaßnahmen ergreifen, ist nicht genug. Wir müssen unsere Befreiung selbst in die Hand nehmen und darauf vorbereitet sein, dass uns Rechte, die ein Staat heute gewährt, morgen wieder genommen werden können, dass unsere Selbstbestimmung jederzeit angegriffen werden kann, wenn wir sie nicht jeden Tag aufs Neue kollektiv verteidigen.

Kritik an Regierungen und Staaten muss formuliert werden. Aktivist*innen und Expert*innen leisten wichtige Arbeit, indem sie die Lücken im Hilfesystem dokumentieren und auf die Umsetzung von Schutzmaßnahmen beharren. Aber ich glaube, dass nichts so wirkungsvoll und mächtig ist, wie unsere eigenen Netzwerke und unsere kämpferische Haltung. Und ich kann mir keinen besseren Rahmen vorstellen, um diese kämpferische Haltung zu bewahren, als die autonome Selbstorganisierung. Die kurdische Frauenbewegung spricht von der „Loslösungstheorie“ – die Idee, dass wir uns nur in autonomen Räumen von den Einflüssen des patriarchalen, kapitalistischen Systems befreien können und sich dadurch radikalere Strategien herausbilden können, um sich gegen Gewalt zu wehren. Angesichts des alarmierenden Anstiegs von patriarchaler und rechter Gewalt und queerfeindlichen Hassverbrechen dürfen wir uns nicht mit Krümeln und kleinen Zugeständnissen zufriedengeben. Wir sollten das Ausmaß unserer Kämpfe und unserer Befreiung selbst bestimmen, anstatt uns von oben vorgeben zu lassen, wie viel wir kämpfen dürfen, bevor uns Kriminalisierung und Repressionen drohen. Ich wünsche mir, dass wir uns globale revolutionäre feministische Befreiungskämpfe zum Beispiel nehmen, einander verteidigen und unsere Befreiung aktiv, kollektiv und global von unten erkämpfen, anstatt uns Veränderung von oben zu erhoffen.