Loud’n Jewcy von Debora Antmann
Illustration: Anna Beil

Jüdisch ist keine Sprache. Or is it? Zu fragen „sprichst Du Jüdisch?“ ist ungefähr so, wie zu fragen „sprichst Du Lesbisch?“. Und um ehrlich zu sein: ja tu ich. Ich nehme also meine gebetsmühlenartige Antwort „Jüdisch ist keine Sprache“ – die meisten Menschen meinen entweder Hebräisch oder Jiddisch, aber meistens Hebräisch – zurück! Ich spreche Jüdisch! Und die meisten anderen jüdischen Menschen, die ich kenne auch. Jüdisch ist die Sprache, die jede*r von uns gerade spricht, ergänzt oder vielleicht eher transformiert durch verschiedene Schichten von „Insidern“. Bewusste und unbewusste Kommunikations- und Sprachwelten, die welche Sprache wir auch immer gerade sprechen verwandeln – in Jüdisch. „Insider“ auch deswegen, weil nichts davon passiert für andere, oft nicht mal für andere sichtbar. Es ist von uns, an uns, manchmal in uns.

Es ist das Zusammenziehen unserer Muskeln, wenn jemand einen antisemitischen Witz macht und alles lacht, das Bände auf Jüdisch spricht. Das etwas dagegen Sagen, genauso wie das Nichts-Sagen, das Auflösen in der Unsichtbarkeit, tun wir auf Jüdisch. Unsere Eltern und Großeltern schweigen auf Jüdisch. Sie bringen uns auf Jüdisch bei nicht zu erzählen wer wir sind, was wir sind. Das große Geheimnis um unser Jüdisch-Sein auf Jüdisch. Wir streiten uns auf Jüdisch. Vielleicht bemerken andere den Unterschied nicht. Ich kann ihn hören, sehen, fast schmecken. Wir entschuldigen uns auf Jüdisch. Für unsere Existenz. Für Bedürfnisse. Für Scheitern. Vielleicht interessiert andere der Unterschied nicht. Ich kann ihn spüren. Wir bitten auf Jüdisch. Vielleicht ist es für andere selbstverständlich. Ich kann es nicht mehr ertragen.

© Anna Beil

In meinem Fall ist Jüdisch meine Muttersprache. Mein Vater spricht Deutsch. Sehr sehr Deutsch. Auch wenn diese Aussage sein linkes Selbstverständnis kränken würde. Jüdisch ist meine Muttersprache. Meine Mutter hat Jüdisch gesprochen. Mit ihr wurde Jüdisch gesprochen. Generationen sprechen Jüdisch miteinander. Geben die Sprache, die keine ist, die aus Worten und Konsonanten besteht, weiter. Vielleicht ohne es zu merken. Die meisten kann ich nicht mehr fragen. Mütterlicherseits kenne ich nur die Frauen in meiner Familie. Sie alle sprechen Jüdisch. Haben Jüdisch gesprochen. Vielleicht wissen sie, dass sie Jüdisch sprechen. Sprachen. Wenn sie mir Gutenachtgeschichten erzählt haben. Wenn sie mir die Haare gekämmt oder die Schuhe zugebunden haben. Wenn sie mir erzählt haben, was ich zu tun und zu lassen habe. Alles auf Jüdisch. Sie haben sich für einander verantwortlich gefühlt und waren von einander enttäuscht. Beides in lautstarkem Jüdisch. Jüdisch hat unterschiedliche Dialekte. Dass wir Jüdisch sprechen, heißt nicht, dass wir uns immer alle verstehen. Ich träume auf Jüdisch. Ich denke auf Jüdisch. Ich schreibe auf Jüdisch. Dieser Text ist auf Jüdisch. Vielleicht erkennen andere den Unterschied nicht. Aber wir, wir schon. Lesen auf Jüdisch. Fühlen auf Jüdisch.

Es ist meine letzte Kolumne auf Jüdisch für Missy.
Wundervolle 5 Jahre.
Vielleicht geht es irgendwann wo anders weiter. Auf Jüdisch. Aus Liebe für Euch und (m)eine Muttersprache.

Loud’n Jewcy von Debora Antmann

Ich habe vor ein paar Wochen ein Schreiben vom Finanzamt erhalten, das mir mitteilte, ich wäre ihnen Kirchensteuer schuldig, weil ich seit 2021 evangelisch sei. Wait what?! Ich hatte keine Ahnung! Mit dabei ein Formular, in dem sie tausend Dinge von mir wissen wollten: Wann wurde ich getauft? Wo wurde ich getauft? Wie war meine Wohnanschrift zum Zeitpunkt der Taufe UND zum Zeitpunkt meiner Geburt (fühlt sich an wie eine Fangfrage)? Bin ich ausgetreten und wenn ja wann (Nachweise bitte beifügen). Als hätte ich Zeit, das alles auszufüllen! Mit dem Fakt, dass ich offensichtlich seit einem Jahr Evangelin bin, kommt ein ganzer Rattenschwanz an To-dos.

  1. Meine Kolumne

Ich kann ja schlecht bei dem Namen Loud’n Jewcy bleiben, jetzt wo meine Seele der heiligen Dreifaltigkeit gehört … Wäre ich Katholikin geworden (hier hätte ich nach vier Jahren katholischer Privatschule immerhin das Know-how gehabt!), hätte ich meine Kolumne einfach in „Ab(er)bitte“ umbenannt. Wie viele protestantische Wortspiele kann es schon geben?! Nach reichlicher Überlegung habe ich mich jetzt für „99 Thesen, but a witch ain’t one“ entschieden. Seht ihr, wie verzweifelt ich bin? Andererseits ist der neue Titel ein Beweis für meine Lernfähigkeit. Man sollte meinen, dass dieser ganze relativierende „Aber die Hexenverbrennung“-Bullshit seit den Neunzigern nicht mehr en vogue ist, aber mir begegnen immer noch regelmäßig Personen, die mir erzählen, jemand hätte ihnen an den Kopf geworfen, früher hätte man Frauen wie sie als Hexen verbrannt. Ich glaube ja, dass das die letzte Bastion der Opression-Olympics ist, aber als neue Evangelin nehme ich die Herausforderung gerne an!

  1. Rausfinden: Welche Art Evangelin bin ich überhaupt?

Hätten die nicht etwas spezifischer sein können? Ich hätte dafür gerne einen „Bravo“-Psychotest: Welcher Protestantismus passt zu dir?  Als Lutheranerin könnte all mein Wissen über Luthers Antisemitismus ganz neue Anwendung finden. Andererseits würde das nicht einfach als rebellischer Akt gewertet? Ich könnte Reformerin sein. So als Gegenzug zu jenen, die permanent glauben, „das Judentum“ besser machen, es reformieren zu müssen. Gleichzeitig: Wie viel wird da tatsächlich noch reformiert? Es gäbe die Freikirchen, aber wie groß ist hier die Gefahr, in irgendwelchen Sekten zu landen?! Und ich schätze Freikirchen sind das Letzte, was sich das Finanzamt wünscht. Oder gerade, weil weniger Aufwand? Protestantismus ist wirklich nicht so einfach, wie man glaubt!

  1. Judenschweine meißeln lernen

Als echtes evangelisches Mitglied werde ich ab jetzt Judenschweine nicht mehr in Anführungszeichen setzen. Aber Teufel noch eins … Muskelgedächtnis macht mir die Sache nicht leicht. Dennoch ist das sehr wichtig, weil man Geschichte ja nicht einfach umschreiben kann, richtig? Deswegen ist es von immenser Bedeutung, dass Judenschweine gut sichtbar dort bleiben, wo sie sind. Doch was ist, wenn irgendwann alle Judenschweine kaputtgehen? Dann weiß niemand mehr, wie antisemitisch die Vergangenheit war und wie wunderbar wir in der Gegenwart sind. Deshalb ist es so wichtig, dass jemand für Nachschub sorgt. Ich werde mich dieser Aufgabe annehmen.

  1. Jesus lieben lernen

That’s a hard one … Ich mein, ich kenn ihn nicht persönlich. Es ist wirklich schwer, da Liebe zu entwickeln. Ist ein bisschen so, wie wenn dir jemand erzählt, dass es diese super cute Person gibt, und dir stundenlang vorschwärmt, warum die Person so wunderbar ist. Und trotzdem keine Schmetterlinge hier … Und hat irgendjemand mal über den Datingplattform-Effekt nachgedacht? Du liest, was eine Person messaged, und denkst „okay Crush“ und dann trefft ihr euch und du stellst fest, alles, was du als Sarkasmus gelesen hast, war keiner und es ist kein trockener Humor, sondern nur trocken? Wir verlassen uns bei unserer Jesus-Liebe auf die Texting-Eigenschaften von Typen. Das kommt mir risky vor … Ich meine, wäre ich über Nacht Katholikin geworden, wäre immerhin Marienverehrung eine Option gewesen. Das ist ein Kink, mit dem ich mich zur Not hätte arrangieren können.

5. Random Bibelverse auswendig lernen

Es ist mir sehr peinlich, dass ich schon seit einem Jahr Evangelin bin und nicht zu jedem Gespräch einen Bibelvers beitragen kann. Besonders in den Sozialen Medien ist das Gold wert. Ich meine, wer liebt das nicht? Man scrollt durch Kommentarspalten und dann gibt es diese wunderbare Person, die unbestechbar alle Argumente mit einem Jünger-Zitat beiseitefegt. Deswegen: „Diese Leute sind nicht betrunken, wie Sie meinen, denn es ist erst neun Uhr morgens.“ Apostelgeschichte 2:15

Es ist so. Viel. Zu. Tun. Ich frage mich, wie das Finanzamt bei dieser umfangreichen To-do-Liste (und ich bin mir sicher, ich habe die Hälfte vergessen) von mir erwarten kann, dass ich mal eben rausfinde, wann ich letztes Jahr versehentlich in Weihwasser geraten bin. Eine unbeabsichtigte Taufe nachzuvollziehen, ist nicht so einfach. Vor allem ein Jahr später! Und mir ist auch immer noch nicht so ganz klar, wie das überhaupt passiert sein könnte. Ich war ja pandemiebedingt kaum draußen. Wer also plausible (oder unterhaltsame) Theorien hat oder gegebenenfalls sogar Zeug*in meiner versehentlichen Taufe war, ich freu mich über sachdienliche Hinweise.

Herzliche Segensgrüße,
Debora

Edit der Autorin: Einen Tag nach Abgabe der Kolumne kam der Steuerbescheid: immer noch evangelisch. Trotz Telefonat mit dem Finanzamt, trotz eines Schreibens. Auch im Poststapel: Weihnachtsgrüße des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Schätze, jetzt gibt es wirklich kein Zurück mehr …

Loud’n Jewcy von Debora Antmann

Ich sitze vor dem leeren Dokument und kann mich nicht entscheiden, ob ich meine Kolumne dieses Monat zum Thema jüdisches Overachievement oder zur Ausradierung von Jüd*innen und ihren Geschichten aus Film und Fernsehen schreiben soll. Und während ich so darüber nachgrüble, fange ich an, mich zu fragen, ob das überhaupt zwei unterschiedliche Texte sind. Gehen ständige Unsichtbarmachung und der Gedanke, unsere Geschichten seien als jüdische Geschichten nichts wert, nicht Hand in Hand? Verbinden sie sich nicht in dem Gefühl, nicht nur gut sein zu müssen, sondern herausragend, um in unserem Jüdischsein geschätzt zu werden und mit der eigenen Existenz von Bedeutung zu sein? Ist der Perfektionismus in unseren Adern nicht auch eine Folge davon, dass unsere Existenz nur in der Exzellenz nicht umgeschrieben wird?

Es gibt viele Gründe, warum für Jüd*innen Übererfüllung die eigene Normalität ist. Jahrtausendealte Überlebensstrategie ist eine davon. Die Narrative, in denen wir existieren, und antisemitische Stereotype sind ein anderer Teil. Für viele mischt sich eine ebenso fordernde Exsowjetmentalität dazu. Entweder die eigene oder die der Eltern. Es ist so selbstverständlich, dass wir oft gar nicht infrage stellen, ob es eine Alternative zu dem Druck und der ständigen Qual des Besserseins, des Erfolgreichseins gibt – gar nicht unbedingt materiell oder beruflich, sondern einfach in allem, was wir tun. Wir erleben es in der Schule, wenn unsere Erfolge in den Augen der ein oder anderen Lehrkraft irgendwie ein bisschen weniger wert zu sein scheinen, weil sie ja nicht unserer Arbeit, unserem Fleiß, unserer Anstrengung entspringen, sondern einfach unserem Jüdischsein. Deswegen müssen wir immer ein bisschen mehr leisten, ein bisschen besser sein, um diesen vermeintlichen (unfairen) Vorteil im Leistungsvergleich auszugleichen. Und so bestätigen sich alle bewussten und unbewussten Vorurteile von selbst. Es ist die Scheu, mit dem kulturellen Bild der großen, begabten Jüd*innen zu brechen und etwas in die Welt zu geben, was banal, albern, unfertig oder einfach nicht gut ist. Nicht gut kann auch bedeuten, keine Diskussion wert, nicht provokativ genug, nicht neu, nicht alt, nicht innovativ, nicht klassisch genug. Vielleicht etwas, das wir aus dem simplen Grund geschaffen haben, weil es uns Freude macht, nicht, weil wir Meister*innen darin sind: für einige nicht vorstellbar, für andere ein innerer Kampf zwischen Gelerntem, Erwartetem und neu entdeckten Bedürfnissen.

© Bär Kittelmann

Ironischerweise sind es die jüdischen Praxen selbst, die uns in Form von Riten Tools an die Hand geben, um einen besseren Umgang, ein Ventil für diesen Wahnsinn zu finden. Wenn das Problem des jüdischen Overachievements so alt ist, dass in unseren Kulturpraxen aktiv versucht wird, Gegenmaßnahmen zu ergreifen (ob nun Schabbat, die Havdalah, Mitzwot, die unseren Tag strukturieren, oder andere Rituale), dann würde ich sagen: „The struggle is real!“

Wenn zu dem konstanten über Jahrtausende anhaltenden Leistungsrauschen dann noch der Umstand kommt, dass nur die Einsteins und Else Lasker-Schülers in ihrer Genialität ihre jüdischen Geschichten behalten dürfen, aber bei Geschichten jüdischer (Alltags-)Held*innen, die nicht von „Genius“ geprägt sind, das Jüdische „wegreduziert“ wird, dann steigt der Leistungsdruck ins Unendliche. Bspw. Tim Burton liefert immer wieder exzellentes Anschauungsmaterial, um das handfest vor Augen zu führen. Der Film „Corps Bride“ beruht auf dem jüdischen Volksmärchen „Der Finger“ und wurde von Burton adaptiert und „universalisiert“. In seinem Fall bedeutet das, er hat alles Jüdische rausgenommen, um es „relatable“ zu machen. Es ist nicht so, als ob Burton auf jegliche kulturelle Referenz (als wäre das möglich) oder Religion verzichtet hätte, er hat sie einfach durch christliche ersetzt. Der Rabbi wird zum Priester, die Hochzeit wird zu einer christlichen gemacht usw. Und das ist nicht das einzige Mal, das Tim Burton beschlossen hat, jüdische Geschichte(n) unsichtbar zu machen. Auch in „Die Insel der besonderen Kinder“ („Miss Peregrine’s Home For Peculiar Children“) hat Tim Burton die jüdische Familiengeschichte, die im Originalbuch von Ransom Riggs die Wurzel des übernatürlichen Konflikts widerspiegelt, bewusst komplett weggelassen. Das geht so weit, dass er sogar Namen geändert hat. Doch es ist nicht nur Tim Burton. Ein Beispiel, das mich besonders getroffen hat, war die Serienadaption von „Batwoman“. Die Superheldin wurde von den originären jüdischen Autoren der Comics explizit als jüdische Lesbe geschrieben. Zumindest in der ersten Staffel der Serie war von dem Jüdischen nichts geblieben. Erst nach viel Druck und Kritik erklärte Produzentin Caroline Dries 2019 CW’s[1]„Kate Kane is a Jewish woman“, also auch die Serienversion sei jüdisch, betonte jedoch auch: „Wir versuchen, das unterzubringen, ohne dass es ein großes Ding in der Story wird.“ Immerhin die Beerdigung der totgeglaubten Batwoman war dann jüdisch … Was für eine Ironie.

Das sind nur einige Beispiele von vielen, von einer Kultur, in der „das Jüdische“ nur von Bedeutung ist, wenn es Exzellenz untermalt oder das Böse versinnbildlicht (z. B. Harry Potter). Ist es nicht naheliegend, dass in einer Realität in der Popkultur so prägend für unser Empfinden von Normalität und Relevanz ist, diese Kultur des kontinuierlichen Rausschreibens „nicht relevanter“ jüdischer Geschichte(n), die Praxis von Erasure von allem jenseits jüdischer Exzellenz (abgesehen von der Verkörperung des Bösen und Unheimlichen) unser jüdisches Selbstbild beeinflusst? Wie soll bei diesem Ausblick unser jahrtausendealter Übererfüllungsimperativ nicht wie auf Stereoiden sein?! Overachievement ist eine Überlebensstrategie und wir sehen all die jüdischen Erzählleichen an uns vorbeiflimmern. Tag für Tag. Bekommen unsere Irrelevanz vorgehalten, gezeigt, wie verzichtbar wir sind. Es ist nicht der Tim-Burton-Film, der mich nachts wach liegen lässt, weil ich nach 14 Stunden Arbeit immer noch das Gefühl habe, nicht genug geleistet zu haben. Nicht gut genug zu sein. Dass die Erfolge nicht erfolgreich genug waren. Es ist das, wofür er steht.

Ich schätze, zu guter Letzt waren beide Themen der gleiche Text. Fragmente vom gleichen Schmerz. Womit der eine Text aber vielleicht gestartet wäre und was hier vielleicht etwas random erscheint, aber trotzdem geschrieben gehört: Wir alle kennen Erschöpfung und trotzdem ist es okay, als Jüd*innen die jüdische Komponente darin zu sehen. Wir alle wissen, wie es ist, ausgebrannt zu sein, und trotzdem ist es wichtig, als Jüd*innen die jüdische Komponente darin anzuerkennen. Wir Jüd*innen dürfen einen Zusammenhang zwischen unserer Erschöpfung, den Ansprüchen, die an uns gestellt werden, und unserem Jüdischsein herstellen. Das schmälert die Erschöpfung und das Recht, erschöpft zu sein, von niemand anderem!

Wir Jüd*innen dürfen einen Zusammenhang zwischen Antisemitismus, jüdischen Leistungsmantren und unseren zerreibenden Selbstansprüchen aussprechen, ohne rechtfertigen zu müssen, warum auch andere erschöpft, zerrieben und selbstkritisch sind. Mit unserer Realität nehmen wir niemandem die Legitimität, erschöpft zu sein, wir schaffen nur weitere.

[1] CW ist der Sender, auf dem „Batwoman“ läuft. CW steht für die beiden Unternehmen, denen der Sender gehört: CBS und Warner Bros.

Loud’n Jewcy von Debora Antmann

Regelmäßig bekomme ich Anfragen, die „xy und Religion“ im Titel haben, und jedes Mal frage ich mich, ob Journalist*innen und Medienmacher*innen eigentlich nicht mal mehr fünf Minuten Recherche investieren, bevor sie Anfragen versenden, oder ob ich doch einfach zu diskret bin. Deswegen nun dieser Text, in der Hoffnung, dass alle zukünftigen Anfragenden darüber stolpern und es hier ganz klar ausgeschrieben sehen: Ich, Debora Antmann, alias Debs, bin eine säkulare Jüdin. Bitte sehr.

Eigentlich gehe ich davon aus, dass das sehr deutlich wird in allem, was ich tue und sage und schreibe und veröffentliche und selbst, wenn man keinen der Texte gelesen hat, in denen ich mich explizit für mehr säkular-jüdische Strukturen ausspreche, sollte doch auffallen, dass ich in keinem meiner Texte, Talks oder Interviews JEMALS Formulierungen wie „mein Glaube“, „meine Religion“, „Glaubensgemeinschaft“ oder Ähnliches verwende. Im Gegenteil. Wer mich in den Sozialen Medien erlebt, wird feststellen, dass meine häufigsten Replys vermutlich „Judentum ≠ Religion“ oder „Judentum ist keine Religion!“ sind. Ich gebe inhaltlich wirklich wenig Anlass, davon auszugehen, dass ich mich in irgendeiner Weise mit dem bzw. einem religiösen Judentum identifiziere, und dennoch werden Beiträge mit, von oder zu mir permanent mit dem Label #Religion verschlagwortet. Es wäre nicht mal so, dass mich in diesen Fällen GEGEN Religion ausgesprochen hätte (was ich eh nie tun würde), sie spielt einfach keine Rolle, weil sie nicht Teil meines Themenkomplexes ist. Aber sobald „jüdisch“ draufsteht, ist für die meisten Menschen „Religion“ drin und das ist ein Problem. Nicht nur für mich, sondern so ganz strukturell und grundsätzlich und mit Blick darauf, wie Judentum, Jüdischsein, Jüdischkeit und jüdische Menschen in dieser Gesellschaft wahrgenommen werden. Breaking news: Nicht jedes Obst ist ein Apfel, nicht alle Jüd*innen sind religiöse Jüd*innen.

© Bär Kittelmann

Zurück zu den Medienmacher*innen, die mich zu Sex und Religion, Beruf und Religion, Liebe und Religion, Queer(ness) und Religion, Religion und Deutschland, Religion und Berlin, Religion und Freiheit, Religion und Pornografie, Religion und Care, Religion und Corona, Literatur und Religion, Aktivismus und Religion, Behinderung und Religion, Feminismus und Religion etc. anfragen: Diese Anfragen sagen deutlich mehr über die Anfragenden aus als über mich. Sie sagen erstens aus: Für sie ist Jude = Jude. Und das ist schon mal ein Problem. Sie sagen zweitens aus: Diese Personen sollten diese Formate lieber nicht machen. Denn offensichtlich haben sie ein absolut eindimensionales und gefährliches, Antisemitismus und Stereotype reproduzierendes Bild von Jüd*innen. Und das, was sie vorhaben, wird dieses Bild nur festigen und als vermeintliches Bildungsformat weitertragen und in weiteren Köpfen verstetigen. Sie sagen drittens aus: „Wir hatten nie wirklich vor, uns tiefgehend mit irgendwas zu beschäftigen, wir suchen Kanonenfutter für unser Format und brauchen deswegen den Token-Juden.“ Theoretisch bin ich für jede Kamera und jedes Mikrofon zu haben. Aber eben nur theoretisch. Faktisch bin ich dann eben doch ungern „irgendeine Jüdin“.

Mir ist klar, dass für Vorrecherche wenig Zeit bleibt, alles ist schnelllebig, bla bla bla. Aber mich zum Thema Religion anzufragen bedeutet schon, dass sie mich aus genau EINEM Grund anfragen: Ich bin Jüdin. Und dass sie glauben, damit sei ich automatisch eine passende Kandidatin für ihren Dreh zu Religion und Raumfahrt, zeigt, dass sie zum Thema Judentum und vermutlich noch zu einigen anderen Realitäten nur Matsch im Kopf haben. Ich kann nicht verhindern, dass Leute, die OFFENSICHTLICH keine Ahnung haben, ihr Nicht-Wissen reproduzieren und unser Leben in dieser Gesellschaft über Generationen hinweg damit noch unerträglicher machen (oder zumindest gleichbleibend unerträglich), weil Paula und Hugo und Lena und Inge und Leonard und Henri alle mal irgendeinen Beitrag zu Religion und Gießkannen gesehen haben und da kam auch ein Jude drin vor und jetzt wissen sie, wie es wirklich ist. Aber ich kann vielleicht dafür sorgen, dass diese wc-deutsche Selbstbestätigung nicht mehr in meinen E-Mails und DMs landet. Deswegen noch mal an alle da draußen, weil es scheinbar nicht reicht, das inhaltlich sehr klar zu machen, sondern ich es wahrscheinlich auf meine Visitenkarte drucken, unter jeden meiner Texte schreiben und als T-Shirt bei jedem Talk tragen müsste, damit es ankommt, oder eben dem Thema einen ganzen verdammten Text widmen muss: Ich bin eine kulturelle, eine politische, eine wütende, eine säkulare, eine sozialisierte, eine an manchen Tagen vor Jüdischkeit strotzende, eine durch und durch mit ihrem Jüdischsein identifizierte Jüdin. Aber eines bin ich nicht: eine religiöse Jüdin.

Einem Freund beschreibe ich die aktuelle Situation, die, da bin ich mir sicher, nicht nur uns trifft, so: Es ist wie ein sehr einsames Feuerballspiel aus der Hölle, wir sind gefühlt ständig auf dem Sprung, um den Fängen des Virus zu entkommen. Einsam deshalb, weil als Elternteil eines Kleinkinds, das mit Energie für zehn gesegnet ist, schon eine einfache Erkältung megaätzend ist: Social-Distancing it is. Längere Zeit in Quarantäne zu müssen ist eine echte Horrorvorstellung, die ich bestmöglich versuche zu vermeiden.

Konkret habe ich inzwischen ein mehrstufiges Worst-Case-Szenario, von dem ich nicht möchte, dass irgendwas davon eintritt.

  1. Die Kita schließt, weil es zu viele Covid-19-Fälle gibt. In diesem Fall sind wir gesund und müssen nicht in Quarantäne, müssen allerdings Lohnarbeit, Kinderbetreuung und Haushalt unter einen Hut bringen.
  2. Wir sind Kontaktpersonen ersten Grades und müssen ein paar Tage in Quarantäne, bis unser Testergebnis negativ ausfällt. In diesem Fall hocken wir mit der Kleinkindversion vom unglaublichen Hulk zu Hause, müssen arbeiten und irgendwie durch den Tag kommen.
  3. Wir werden positiv auf Corona getestet und sitzen mindestens zwei Wochen zu Hause fest, inklusive Sorge-, Lohnarbeit und Kinderbetreuung. In diesem Szenario haben wir nur leichte Symptome und es geht uns gut.
  4. Wir werden positiv getestet, allerdings stecken wir uns versetzt beieinander an und sind so mindestens drei Wochen zu Hause.

Es gibt noch ein paar weitere Stufen, die alle umfassen, dass es uns ziemlich schlecht geht und wir gegebenenfalls ins Krankenhaus müssen. Ich zähle sie nicht auf, weil ich glaube, dass klar wird, dass ich mir über das Was-wäre-wenn eingehende Gedanken gemacht habe. Die Vorstellung, wieder komplett auf den Kindergarten verzichten zu müssen, bereitet mir Stress. Denn Sorgearbeit und Lohnarbeit ohne Pause leisten zu können ist eine große Herausforderung.

Deshalb ist mir aktuell, mehr als sonst, gewahr, wie abhängig ich als Mama von anderen Eltern im Kindergarten bin. Konkret davon, wie sehr sie sich an die aktuellen Hygienemaßnahmen halten. Denn tatsächlich birgt die Kita, auf die ich angewiesen bin, gegenwärtig gleichzeitig das größte Risiko in meinem Leben. Nämlich, dass eines der unterschiedlichen Worst-Case-Szenarien eintritt und zwar nicht nur für mich, sondern auch für Menschen in meinem Umfeld.

Mein Alltag bewegt sich deshalb, eben weil ich kein Risiko für andere Eltern in der Kita darstellen möchte, zwischen meinem Schreibtisch, der Kita, dem Supermarkt und irgendwo draußen mit meinem Partner und dem Kind. Spannend ist anders, aber ich kann mich gut mit der Situation abfinden. Auch deshalb, weil das der solidarische Beitrag ist, den ich leisten kann: andere, deren Situation prekärer ist als meine, weil sie vielleicht selbst ein erhöhtes Risiko im Hinblick auf Covid-19 haben oder eine Person pflegen, die ein solches Risiko trägt, nicht unnötig zu gefährden. Gleichzeitig ist die Tatsache, dass ich das so machen kann, ein Privileg, mit dem ich verantwortlich umgehen möchte.

Ein Uhr nachts im Burgerladen: „Ey, du siehst wirklich aus wie Frida Kahlo!“ Seine Freunde nicken eifrig. Ich bin zu perplex, dass ich neben Pommes auch noch diesen unnötigen Vergleich serviert bekomme, als dass ich mir irgendeine schlaue Antwort überlegen könnte. Meine Begleitung sagt noch: „Die kommen bestimmt direkt aus dem Kunst-Leistungskurs und versuchen jetzt ihr Wissen anzuwenden.“

Ob Parvati oder Padma Patil, die Germanys-Next-Topmodel-Gewinnerin Sara Nuru oder Frida Kahlo: Die Menschen denen ich angeblich haargenau gleiche, könnten unterschiedlicher nicht aussehen. In der Schulzeit wurde ich mit den wenigen anderen migrantischen Kindern verwechselt, auf dem Campus mit zwei anderen Kommilitoninnen of Color – so oft, dass ich aufgehört habe es richtig zu stellen. Diese Verwechslungen und Vergleiche sagen etwas über Sehgewohnheiten aus: Es reicht die Abweichung von deutschen Normvorstellungen, um nicht mehr als Individuum gelesen zu werden. Unerprobt in Stil und ästhetischen Feinheiten überwiegt das Bedürfnis eine Zugehörigkeit außerhalb des eigenen Genpools zu finden. Smart und subtil wie Statements die darauf abzielen mich als anders zu markieren nur sein können wird dann nicht gesagt „Ey, du siehst anders aus“ oder „Ey, du gehörst hier nicht hin“. Stattdessen werde ich mit den wenigen bekannten nicht-weißen Gesichtern aus Unterhaltung und Kunst verglichen – Menschen aus der Populärkultur, deren Backgrounds oft miterzählt werden, sodass die Suche nach meiner Zugehörigkeit zu einem Ratespiel wird.

Abgesehen davon, dass es übergriffig ist ungefragt das Aussehen anderer Menschen zu kommentieren, sagt der Frida-Kahlo-Vergleich noch mehr aus: Einige Menschen sind es nicht gewohnt dicke, schwarzhaarige Augenbrauen zu sehen, obwohl diese nun wirklich keine Seltenheit sind. Sollte man diese Beobachtung nicht gemacht haben, darf man sich fragen, in was für einem Umfeld man sich bewegt: ob vielleicht der Freund*innenkreis sehr weiß ist und wie divers Filme und Magazine eigentlich sind. Einen Frida-Kahlo-Verweis sieht man hingegen gefühlt in jedem zweiten Schaufenster: Ob als Kalender, Postkarten, Wandtattoos oder Sofakissen, eine gewellte schwarze Linie und ein Blumenkranz reichen aus um eine Künstlerin und queere Ikone auf ihre visuelle Repräsentation zu reduzieren – ein buntes Tischtuch, Augenbrauenstift und Plastikblumen oder einfach ein Instagramfilter, um sich diese anzueignen. Oftmals wird Kahlo dann noch mit an europäische Schönheitsideale angepasster Hautfarbe und ausgedünntem Oberlippenbart gezeigt, was ihren vielzähligen Selbstbildnissen widerspricht.

„Ich habe es so satt!“ Ich sitze auf dem Bett und weine. Eine Mischung aus Wut und Erschöpfung. Meine Partnerin sitzt neben mir und schaut mich verständnisvoll an. Ich weiß, dass sie weiß, dass ich morgen oder übermorgen ohnehin mit dem weitermache, was ich eh nicht lassen kann: vehement jüdische Sichtbarkeit fordern, Defizite aufzeigen, sensibilisieren, wenn gewollt, streiten, wenn nicht. Aber heute ist einer dieser Tage, an denen ich das Gefühl habe, dass ich gegen Windmühlen ankämpfe und Frust und Enttäuschung mehr wiegen als mein Idealismus.

Eine jüdische Kneipe in Berlin wurde von Rechten niedergebrannt und niemanden hat es interessiert. Die Hygienedemos machen Berlin zum Spielplatz rechter Akteur*innen und niemand scheint bei der Bedrohung, die in diesen Tagen durch Berlin marschiert, Jüd*innen mit im Bewusstsein zu haben. Ich schweife durch die Sozialen Medien und mir wird immer klarer, was mir fehlt: ein klares Bewusstsein dafür, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus uns alle angeht und die Ablehnung von Antisemitismus bedingungslos sein muss. Ich bin gefrustet, weil wichtige Accounts mit Reichweite nicht auf den Brandanschlag aufmerksam machen wollen, weil sie ihre Feeds ausschließlich mit Schwarzem und Content of Color füttern. Ich habe das so stehen lassen, bleibe aber fassungslos, geht es hier doch nicht um Promotion für eine Bar, sondern darum, einen rechten Brandanschlag auf eine jüdische Kneipe sichtbar zu machen. Allyship ist keine Einbahnstraße.

Ähnlich ging es mir mit den Hygienedemos in den Sozialen Medien. Überall Posts und Tweets, die zu Recht ganz deutlich gesagt haben: Am 29. August ist es nicht sicher für BIPoCs und Migras auf den Berliner Straßen. Die gleichen Bubbles sind voll mit der offensichtlich abstrakten Floskel der antisemitischen Verschwörungsmythen, denn das Bewusstsein, dass auch wir nicht auf die Straße können, fehlt. Ich bin müde, denn egal, wohin man schaut, es gibt keine Selbstverständlichkeiten, geht es um jüdische Lebensrealitäten. Selbst in den Communitys, in denen die Auseinandersetzung mit bspw. Rassismus, Ableismus, Klassismus und Heteronormativität als Selbstverpflichtung verstanden wird, fehlt das Verständnis, dass dieselbe Verantwortung, sich zu reflektieren und zu bilden, auch für Antisemitismus gelten muss. Dass Antisemitismus alle angeht. Dass die Verantwortung keine Community ausschließt, egal, wie links, egal, wie queer, egal, wie PoC, egal, wie Black, egal, wie feministisch, egal, wie was auch immer. Das alles schreibe ich vor dem Hintergrund der rechten Demos in Berlin am 03. Oktober und dem Angriff vor der Synagoge Hamburg am 04. Oktober.

Und selbst wenn Räume glauben, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, wird schon an den Formaten deutlich, wie sehr er rationalisiert wird. Veranstaltungen zu Antisemitismus sind Info- oder Diskussionsveranstaltungen. Konzepte, die sich aus der Theorie rausbewegen, gibt es kaum. Aber das scheint niemandem aufzufallen oder gar zu beunruhigen. Oder wann habt ihr das letzte Mal einen Antisemitismus-Awareness-Workshop für euch und euer Umfeld organisiert? Habt ihr euch (spätestens) nach Halle und Hanau in euren Communitys zu Strategien rund um Anti-Antisemitismus oder gegen antisemitische Gewalt ausgetauscht oder schon mal überlegt, wie Räume zugänglicher für uns werden?

Ich sehe keine Veranstaltungen zu „critical goyness“ oder selbstverantwortliche Formate, in denen sich zu Jewish-Allyship gebildet wird. Demonstrieren gehen und ein bisschen Plakate schwingen reicht nicht, um Strukturen INNERHALB unserer Communitys zu verändern. Und ohne systematisch, mithilfe politisch bildenden Jüd*innen in die methodische Selbstreflexion zu gehen, bleibt Antisemitismus etwas, das man wie bisher worthülsenhaft und ohne Wissen, was es für Jüd*innen im Alltag, strukturell und institutionell bedeutet, effektlos verurteilt.
Die meisten Communitys erwarten ZU RECHT eine Auseinandersetzung mit ihren Lebenswirklichkeiten in Deutschland. Aber für die meisten Communitys gehört es nicht zum aktivistischen Selbstverständnis, sich mit jüdischen Wirklichkeiten und Antisemitismus in Deutschland zu befassen. Und weil Antisemitismus nicht als Problem verstanden wird, weil man immer noch glaubt, Jüd*innen könnten es irgendwie ein bisschen mehr ab als alle anderen marginalisierten Gruppen, ist Antisemitismuskritik fatalerweise auch nicht bedingungslos.

Dass rassistische, ableistische, transfeindliche etc. Beleidigungen und Repressionen keine Option sind, egal, wie problematisch jemand ist, ist in den jeweiligen aktivistischen Kontexten Common Sense. Aber dass antisemitische Beleidigungen und Repressionen nicht ignoriert werden können, weil jemand kontrovers ist, nicht. Antisemitische Angriffe werden toleriert, weil die Person es scheinbar nicht anders verdient hat oder es egal ist, weil die Person selbst ungute Dinge sagt. Dass Antisemitismus niemals unter keinen Umständen legitim ist, egal, gegen wen, egal, warum, egal, von wem, ist kein aktivistischer Automatismus, sondern bleibt im besten Fall Verhandlungssache.

Es ist frustrierend zu sehen, dass wir in politischen Communitys diese wabernde Grundhaltung haben, dass Anti-Antisemitismus nicht Aufgabe aller und nicht bedingungslos sein muss, weil internalisierter Antisemitismus, der eher über Gefühlsebenen als über klare Vorstellungen funktioniert, dazu führt, dass da dieses Gefühl ist: dass Jüd*innen eh mehr Ressourcen hätten, Diskriminierung wegzustecken, bzw. es im Grunde eh nicht schlimm wäre, weil es gar keine „echte Diskriminierung“ ist. Hinter diesem gefühlten „bei Juden ist es nicht so schlimm“ und „die haben es eh besser“ beruht die diffuse Idee der Privilegiertheit und Ressourcennähe auf der antisemitischen Vorstellung, dass Jüd*innen ressourcenstark und mächtig genug seien, um das schon abzukönnen. Faktisch gibt es jedoch für Jüd*innen außerhalb der Gemeinden im Grunde keine jüdischen Räume, keine Infrastruktur, kaum Sichtbarkeit und kaum Sensibilisierung in queeren, linken, antirassistischen … Communitys. Das Narrativ der vielen mächtigen Juden sorgt auch dafür, dass fast überall eine Vorstellung davon fehlt, wie klein die jüdische Community in Deutschland tatsächlich ist.

Es ist erschöpfend, weil ich manchmal die Hoffnung verliere, dass Räume ihre Defizite und ihre Verantwortung realisieren. Denn ohne diese Einsicht kann Wissen zu jüdischen Realitäten auch nicht Teil des politischen Grundkanons werden. Aber zu dieser Einsicht zu kommen ist ohne Wissen zu jüdischen Realitäten fast ausgeschlossen, denn wie sollten die Werkzeuge für diese Selbstreflexion gebildet werden, wenn nicht allein durch jüdische Stimmen, die gehört werden. Die Relevanz jüdischer Stimmen als Teil intersektionaler Politiken bleibt aber ungesehen, solange wabernde antisemitische Nicht-Bilder verhindern, dass Jüd*innen statt als privilegierte Zentren der Macht als jene marginalisierte Gruppe betrachtet werden, die sie sind.

Und da wären wir wieder am Anfang. 
An Tagen wie diesen, wenn ich weinend vor Frust und Müdigkeit im Bett sitze und meiner Freundin erkläre, dass ich keine Lust mehr habe, wird mir vor allem eines schmerzlich bewusst: Ich bin nicht die erste Generation aktivistischer Jüd*innen, die versucht, grundlegend Awareness in aktivistischen Räumen zu schaffen, und es wäre überraschend, wenn ich die erste Generation wäre, die nicht scheitert. Es gab immer einzelne Akteur*innen, die sich solidarisch gezeigt haben, aber linke, feministische, antirassistische, intersektionale Communitys haben es bis jetzt nicht geschafft, Strukturen und selbstverantwortliche Formate zu entwickeln oder auch nur die Vorstellung davon, dass es diese braucht. Jüdische Wirklichkeiten zu hören und anzuerkennen, als feministische, als intersektionale, als linke Aufgabe, Anti-Antisemitismus, als Selbstverpflichtung und Ausgangspunkt zur Selbstreflexion und zwar aktiv und in der Tiefe, Allyship im Bewusstsein, dass Goyim unsere Lebensrealitäten niemals nachvollziehen können, aber zumindest versuchen können, sie zu verstehen, all dies scheint schmollend auf meinem Bett eine Utopie.

Das Problem ist, wenn ich mir morgen oder übermorgen nicht wieder das Krönchen aufsetzte – um eine wundervolle Freundin zu zitieren – und von vorne anfange, freundliche, differenzierte, zugängliche und weniger unbequem-frustrierte Texte als diesen hier zu schreiben, wenn ich mir die Frusttränen nicht aus dem Gesicht wische, um mit Humor und Charme und Sympathie wieder zu versuchen, Aktivist*innen dort abzuholen, wo sie stehen, dann würde ich jetzt schon zu den Gescheiterten zählen und ich bin noch nicht so weit. Vielleicht in ein paar Wochen oder nächstes Jahr, vielleicht in dreißig Jahren. Alternativ könntet ihr aber auch anfangen, hinzuschauen und aktiv zu werden, Antisemitismus als Problem zu verstehen, das uns alle betrifft, und zu begreifen, dass Anti-Antisemitismus bedingungslos sein muss. Und damit meine ich IHR ALLE, jene, die glauben, ihre Hausaufgaben schon gemacht zu haben, aber oft dort bleiben, wo es ihnen selbst nicht weh tut oder ihren eigenen Politiken nutzt, sie sich persönlich nicht berühren müssen.

Ich meine jene, die glauben, sie seien nicht gemeint und Wege und Erklärungen finden, der Aufforderung mit Gleichgültigkeit aus dem Weg zu gehen. Ich meine jene, die der Text wütend macht und das Unwohlsein in Abwehr umschwingt. Ich meine jene, die den einen Logikfehler, das falsche Wort, die falsche Formulierung suchen, um den ganzen Text zu verwerfen und somit den Bedarf der Auseinandersetzung, den Umstand der Schieflage diskreditieren und negieren zu können. Ich meine jene, die jetzt das Bedürfnis haben, mit dem Finger lieber auf andere zu zeigen, als auf sich selbst zu schauen. Jene, die glauben, mit dem Lesen dieses Texts hätten sie vielleicht ihre Aufgabe schon erfüllt. Jene, die glauben, weil sie das Wort Antisemitismus auf Plakate schreiben, in Diskussionen einwerfen, hinter „uns“ klatschen, müssten sich nicht mehr mit den Wirklichkeiten und Widersprüchen und Komplexitäten dahinter befassen. Ihr seht die Leerstellen nicht, weil ihr in sie reingewachsen seid. Aber es ist eure Aufgabe, uns zu glauben, dass es ein Problem gibt, und es ist eure Aufgabe, es (mit uns) anzugehen. Solidarität ist das Schlüsselwort.

Gute Nacht!

Es ist der 25. September, meine Zusammenfassung von Google Alerts schlägt mir – wie jeden Tag – auch heute Nachrichten vor über Themen, über die ich benachrichtigt werden möchte. Ich bekomme Pressemeldungen unter anderem mit den Stichworten: Rassismus, NSU 2.0, Feminismus und sexuelle Belästigung. Heute tauchen unter „sexuelle Belästigung“ zwei Nachrichten aus Deutschland und eine aus Frankreich auf.

Ich lese diese Nachrichten nicht als Hobby, sondern weil ich das alles wissen muss. Aber das heißt nicht, dass mich das Ganze kaltlässt.

Die erste Nachricht, die ich an jenem Freitag lese, während ich noch im Bett liege, ist über ein 13-jähriges Kind, das auf dem Nachhauseweg von einem erwachsenen Mann sexuell belästigt wird. Verwendet wird diese passive Formulierung, die nur das Kind sichtbar macht, während der Täter eine absolute Unsichtbarkeit genießt: „Das Kind wird…“

Das Kind wird nicht. Der Täter belästigt.

Das Kind macht nämlich etwas anderes: Es tritt dem erwachsenen Mann zwischen die Beine und rettet sich nach Hause. Das ist natürlich super, aber eine große Ausnahme, in dieser Situation so selbstbewusst und furchtlos handeln zu können.

Warum passiert so etwas? Wenn erwachsene Menschen belästigt oder anderweitig sexualisiert angegriffen werden, wird das oft mit romantischen Interessen verharmlost. Dass sexualisierte Angriffe aber nichts mit Interesse, Zuneigung oder anderen positiven Gefühlen und Absichten zu tun haben, wird spätestens bei Angriffen gegen Kinder klar.

Morgens vor dem ersten Kaffee, Meldungen über sexuelle Belästigung. Ich lese weiter. Der Spiegel berichtet von der Petition von Antonia Quell gegen verbale Belästigung auf der Straße, beziehungsweise für die Bestrafung derer. Das Phänomen wird auch „Catcalling“ genannt, was ich nicht so gerne mag. Ich finde Deutsche wehren sich zu sehr dagegen, die Konzepte hinter Anglizismen zu verstehen. Und da es nicht nur in meinem Interesse ist, zugehört und verstanden zu werden, sondern ich sogar darauf angewiesen bin, verzichte ich so gut es geht auf Fremdwörter. Es geht um verbale und anderweitige sexuelle Belästigung auf der Straße.

Ich bin Fan von Petitionen, das heißt aber natürlich nicht, dass ich jede unterzeichne oder teile. Von dieser Petition erfuhr ich vor wenigen Wochen durch eine Nachricht auf ze.tt. Als Beitragsbild für die Petition einer weißen Studentin hatte ze.tt eine Frau, die nicht weiß ist, genutzt. Die Petition fordert, dass sexuelle Belästigung auf der Straße rechtlich als Straftat anerkannt wird, dass man die Cops anrufen kann, wenn es mal passiert. Dass Frauen, die nicht weiß sind, in Ländern, in denen sie eine Minderheit sind, öfter sexueller Belästigung ausgesetzt sind, während sie gleichzeitig Gewalt- und Rassismuserfahrungen bei der Polizei machen müssen, was für sie ein guter Grund wäre, eben keine Bullen anzurufen, wird nicht nur in der Petition außen vor gelassen, sondern auch in der Berichterstattung von ze.tt. Die nicht-weiße Frau ist also nur auf dem Beitragsbild sichtbar. Als Requisite. Das Bild vermittelt einen rassismuskritischen Anspruch, den es aber nicht gibt. Rassismuskritik ist Arbeit. Sie beansprucht Reflexion, Zeit und Mühe. Eine Bildersuche zu betätigen ist einfacher. Ich fühle mich verarscht.
Ich liege im Bett und vor dem ersten Kaffee lese ich Nachrichten über sexuelle Belästigung, über die ich mich aufrege, die mich teilweise auch verletzen. Wenn ich herunterscrolle kommen die Meldungen zum Stichwort „Rassismus“. Seit Wochen sind hier Nachrichten über die Polizei zu lesen. Überschrift: Rassismus. Darunter jeden Tag Nachrichten über die Polizei. Diese zwei Worte voneinander zu trennen wird nicht einfach sein.

Es ist Teil meiner Arbeit, das alles zu wissen. Aber das heißt nicht, dass mich das Ganze kaltlässt.

Eine meiner bisher liebsten Phasen im Leben meines Kindes ist vorerst, mal gucken, was die Pubertät bringt, vorbei: die Autonomiephase – Teil eins. Von, ja, wie vielen eigentlich? Besser bekannt ist diese Phase als Trotzphase, was ich persönlich, und Psycholog*innen wohl auch, einen Scheißbegriff finde. Schließlich ist Abgrenzung nicht Trotz, sondern das Abstecken des eigenen Raums und das steht ja wohl allen, also auch Kindern gleichermaßen zu.

©Tine Fetz

Diese Phase lässt sich recht übersichtlich zusammenfassen: Mein Kind sagt „nein“ und zwar zu eigentlich allem.

Morgens beim Frühstück:
Ich: „Willst du Brot essen?“
Kind: „Nein.“

Mittags auf dem Spielplatz:
Ich: „Willst du rutschen?“
Kind: „Nein!“

Nachmittags an der Plansche:
Ich: „Möchtest du die Schuhe ausziehen?“
Kind: „Nein.“

Egal, welche Frage ich habe, das Kind sagt Nein und zwar auf die denkbar entspannteste Art. Das jeweilige Nein ist in der Regel eine unschlagbare Mischung aus: dreist, dass du überhaupt Worte an mich richtest (Untertanin), du langweilst mich, ich sage am liebsten Nein (in allen Ton- und Stimmungslagen) und die Antwort liegt auf der Hand (nein!). Manchmal wird statt „nein“ einfach nur „nei“ gesagt, als müsste anhand der ersten drei Buchstaben bereits klar sein, was gemeint ist.

Irgendwie finde ich das ziemlich cool. Auch weil ich bemerke, wie interessant das Kind es zu finden scheint, dass das Aussprechen dieses geradezu magischen Worts dazu führt, dass Dinge eben nicht geschehen. Mal abgesehen davon, macht es mir Spaß, das Glück in den Augen meines Kindes ob der besser funktionierenden Kommunikation und des Stücks mehr an Unabhängigkeit wahrzunehmen. Vor allem aber finde ich, dass die Art, wie das Kleinkind „nein“ sagt, eine feministische Superpower ist. Ich möchte mir davon die größte Scheibe abschneiden.

Völlig unaufgeregt und selbstverständlich „nein“ zu sagen, „nein“ zu sagen, als wäre klar, dass es an diesem keinen Weg vorbeigibt, weil nein eben nein heißt, ist eine Kunst. Eine, die ich manchmal beherrsche und die ich, wie ein Messer, noch mehr schärfen möchte. Dabei ist es nicht mal so, dass ich nicht gut Nein sagen kann – das kann ich –, aber selten mit der absoluten Coolness und Unumstößlichkeit, die mein Kind aktuell an den Tag legt.

Deshalb fällt mir im angesicht eines Streits mit einer Freundin, von dem meine Schwester mir erzählt, nachdem sie auf mein Kind aufgepasst hat, auch nix Besseres ein als dieser Rat: Setz eine Grenze, sag „nein“ und zwar nüchtern und standhaft – wie ein Kleinkind.

Viel Feminismus in letzter Zeit, aber froh macht es mich nicht. In der „analyse & kritik“ eine Reihe über linke Männer aus feministischer Perspektive. Die Texte sind größtenteils binär und unkreativ und was mich am meisten an ihnen fertigmacht, ist, dass es irgendwie nie weiterzugehen scheint. Die Thesen sind die gleichen wie eh und je: Linke Männer (gemeint sind cis Männer, denen konträr gegenüber die homogene Masse FLINT* gestellt werden) haben keinen Bock, sich mit dem Patriarchat auseinanderzusetzen. Manche Texte sind ehrlicher und sagen gleich, dass es um Männer und Frauen geht und niemand sonst. Die Heteronormativität der Analyse, in der nur Männer und Frauen vorkommen, und vor allem nur Beziehungen zwischen Männern und Frauen, ist der Schlüssel zu ihrer Handlungsunfähigkeit. Binarität ist nämlich eine Sackgasse. Lass mal die Verletzung darüber, dass wir nicht mitgedacht und mitgemeint werden, links liegen. Es ist nicht nur respektlos, trans, inter, queere, nicht binäre, marginalisierte Geschlechter zu ignorieren, es bringt auch niemand weiter. Auch die Heten nicht. Wenn ich von Heten spreche, meine ich übrigens viel mehr die Ideologie als die Identität. Heteronormativität lebt und gedeiht auch in Menschen, welche weder cis noch hetero noch dya (1) noch allo (2) sind. 

Auch im aktuellen Buch meiner früheren Heldin Silvia Federici, das schon 2018 rausgekommen ist, das ich aber jetzt erst geschafft habe, zu lesen, haut sie binär so richtig auf die Kacke. Äußerte sie sich früher noch vorsichtig über das Konstrukt Frau und wer damit gemeint ist, so setzt sie in „Witches, Witchhunting and Women“ die soziale Kategorie Frau mit der menschlichen Gebärfähigkeit gleich. Ein Satz über die misogyne Gewalt gegen trans Frauen reicht nicht aus, um das aufzubrechen. Wie in ihren anderen Arbeiten vollzieht sie die historische Zurichtung des Frauseins, wie wir es heute kennen, einleuchtend nach und lässt doch eine klaffende Lücke stehen: die Binarität.
Zum Konstrukt Frau gehört das Konstrukt Mann. Zum Konstrukt Mann-und-Frau gehört unausweichlich die Zweigeschlechtlichkeit. Es soll keine Geschlechter neben euch geben.
In einem Vortrag über Frauen (Sternchen!) und Militanz, der in den letzten zwei Monaten gleich dreimal in Leipzig aufgeführt wurde, gelang es ebenfalls nicht, aus dem binären Kochtopf zu klettern und die Suppe mal ordentlich umzurühren.

Ich bin ein offener Mensch und versuche, auch bei cis zentrierten Inputs etwas für mich mitzunehmen. Doch in letzter Zeit frage ich mich: Wo ist der Aufstand der cis Feministinnen gegen dieses Blabla? Habt ihr nicht das Gefühl, dass ihr mehr verdient habt?  Seid ihr es nicht leid, immer über eure Boyfriends zu reden und jedes Mal aufs Neue zu staunen, dass in heterosexuellen Beziehungen ein patriarchales Machtgefälle herrscht, das nicht durch linke Performance aufgehoben wird?

Beim Thema Frauen (Sternchen …) und Militanz wurde als historisches Beispiel militanter Frauen in Antifakreisen genannt, dass sich manche dieser Frauen in den Beziehungsstreik begaben, wenn ihre männlichen Partner das Politische eben nicht im Privaten leben wollten. Eine befreundete Person schüttelte darüber nur den Kopf und meinte: „Die Armen. Anstatt dass sie Schluss machen, waschen sie sich dann ein paar Wochen die Haare nicht.“ Für mich bringt das auf den Punkt, worüber wir nicht hinauszukommen scheinen: über ein Leben und Kämpfen jenseits der Paarbeziehung. 

Ich bin jetzt so alt, dass ich von früher erzählen kann, und auf keinen Fall war es früher besser, wir waren nicht besser, doch es war anders und manchmal lohnt es sich, darüber zu reden. Früher haben wir mit dem Begriff RZB die heteronormativen Muster auch in linken und queeren Kreisen geschmäht. RZB steht für romantische Zweierbeziehung. Die Kritik daran war u. a., dass diese Daseinsform radikale Freund*innenschaften und subversive, solidarische Beziehungen verhindert. Die Menschen sind mit sich und ihrer RZB-Person beschäftigt und alles andere ist ihnen egal. Ich weiß, dass viele Menschen sich bemühen, sich des gesellschaftlichen Strukturelements Pärchen (und das bedeutet in der Konsequenz immer auch Kleinfamilie) zu entziehen, doch wie viele dieser Versuche werden zugunsten der RZB aufgegeben, wenn mensch über dreißig ist? Oder über vierzig? 

Analysen von Desirability, in denen kritisch beleuchtet wird, wer überhaupt begehrt und gedatet wird, gehen selten über die Frage des Datings an sich hinaus. Dabei fallen dieselben Menschen, die erleben, dass sie auf dem Tinder-, Grindr- und Okcupidmarkt weniger wertvoll sind als andere, auch bei der Lebensplanung hinten runter. Denn zu jeder RZB, die ein paar Jahre oder Jahrzehnte miteinander verbringt, gehören die einsamen Übriggebliebenen, die sich nicht für diese Form der Beziehung entscheiden wollten oder konnten. Sagte mensch sich noch mit Mitte, Ende zwanzig, wir werden für immer Freund*innen bleiben, kristallisiert sich mit Mitte, Ende dreißig heraus, dass die Pärchen doch lieber unter sich sind. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keins mehr. 

Die Texte aus dem feministischen Schwerpunkt in der „a&k“ handeln vor allem von patriarchaler Gewalt, die linke oder feministische (cis?) Männer ihren Genoss*innen gegenüber ausüben. Ich musste den Bogen über die Beziehungsformen spannen, weil sie meiner Meinung nach ein Schlüssel zu dem Problem darstellen. Verzweifelte Versuche, nach dem (wie vielten) Outing eines*einer (wie vielten) Täters*Täterin, einen radikalen Umgang mit der Gewalt zu finden, scheitern oft: Das Umfeld ist überfordert und unwillig, sich mit der Gewalt, die sie mitgedeckt oder mitgetragen haben, auseinanderzusetzen. Die Betroffenen bleiben allein, ziehen sich zurück oder brennen gemeinsam mit ihren Unterstützer*innen aus. Die Täter*innen machen weiter ihr Ding. Schon viel zu oft miterlebt, manchmal überlebt. Das liegt daran, dass die Beziehungen, die wir vor der Gewalt oder vor dem Bekanntwerden der Gewalt geführt haben, bereits mangelhaft gewesen sind. Wir können nicht erwarten, dass unpersönliche, konkurrenzbelastete, von Pärchenkonstellationen durchzogene Politgruppen, Freund*innenkreise und Communitys im Ernstfall plötzlich zu aufrichtigen, solidarischen, liebevollen, schlagkäftigen Strukturen werden, die uns auffangen. 

Ich denke oft darüber nach, dass jene Freund*innen, die in Kleinfamilien und RZBs organisiert sind, eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit haben, Gewalt innerhalb dieser Beziehungen zu erleben als ich. Oft verstehe ich nicht, wie sie sich so unbedarft in diese riskante Lage manövrieren können, ohne Vorkehrungen zu treffen.
Ich werde als Sexarbeiter ständig gefragt, ob meine Arbeit sicher ist oder ob ich mich dabei in Gefahr begebe. Dabei haben wir Sexworker mehr Tools und helfende Netzwerke, als sich die Couples next door, die sich yolo in Beziehungen stürzen, überhaupt vorstellen können.

Jede*r rechte Prepper*in baut den Bunker lange vor dem erwarteten Tag X. Ich glaube zwar nicht an den sozialdarwinistischen Survivalmodus. Und ich glaube, ich oder wir brauchen eher das Gegenteil eines Bunkers. Doch ich weiß, dass der Tag X, also der Tag, an dem ich oder meine Freund*innen Gewalt erleben, immer wieder kommt. Und ich will nie wieder erleben müssen, dass hinter dem Gerede von der queeren Community oder den schlauen Analysen von abusive Beziehungen keine Praxis steht. Deshalb gibt es für mich keine politische Arbeit ohne bewusste, radikale Beziehungsarbeit mehr. Beziehungen, die nicht kommodifizierbar sind, die nicht dazu dienen, uns besser arbeiten und funktionieren zu lassen. Sondern in denen wir von Zurichtung und Trauma heilen, unser Gespür für Kollektivität stärken und Vertrauen ineinander und in uns selbst aufbauen. Beziehungen, in denen wir fähig werden, aggressiv und genüsslich gegen die Gewalt, die uns dieses Leben zumutet, einzustehen.

(1) dyageschlechtlich: nicht intergeschlechtlich
(2) allosexuell: Gegenteil von aromantisch/asexuell/ace

Von Debora Antmann

„Liebe Debora, das ist eine Veranstaltung für Personen of Color. Es gibt auch noch eine Veranstaltung für weiße Menschen.“

Ich schlucke. Da ist sie, diese Dichotomie. Diese beiden Räume. Und zu keinem gehöre ich. Ich bezeichne mich als weiße Jüdin, aus Solidarität. Um meine jüdischen Geschwister of Color und meine Schwarzen jüdischen Geschwister nicht unsichtbar zu machen. Um mich gesellschaftlich zu verorten und sichtbar zu machen, welche Erfahrungen ich nicht mache. Aber mein „weiß“ kann niemals alleine stehen, es kann nur vor Jüdin stehen. Ich bin nicht weiß, wie wc-Deutsche, wie Klaus und Mareike. Erst recht nicht in Deutschland.

©Tine Fetz

Ich bin damit aufgewachsen unsichtbar zu sein. Meine Lehrerin in Karlsruhe will wissen, wer in den katholischen und wer in den evangelischen Religionsunterricht geht. Die Anzahl stimmt nicht mit der Klassenliste überein. Also sollen alle aufstehen. Erst sollen sich die katholischen Kinder hinsetzen, dann die evangelischen. Dann stehe ich da. Als Einzige. Mein Magen krampft. Von unsichtbar zu sichtbar. Die Lehrerin fragt: „Was ist mit dir?“ Ich sage: „Ich bin Jüdin.“ Meine Mitschüler:innen lachen und dann sagt jemand: „Du lügst, Juden sind tot.“ Die Lehrerin interveniert nicht. Sagt nur, sie müsse das mit meiner Mutter klären. Kein Raum für mich. Ich sitze, während die anderen Kinder Religionsunterricht haben, auf dem Flur oder im Glaskasten, da, wo die Kinder sitzen müssen, wenn sie aus dem Unterricht geschickt werden, weil sie Mist gebaut haben. Ich bin nicht vorgesehen.

„Es gibt eine Veranstaltung für weiße Menschen“ – kein Raum für mich. Es zeigt, dass wir reden müssen. In unseren Communitys. Dass wir aufhören müssen zu glauben, eine Dichotomie von BIPoC und weiß funktioniert. Vor allem in diesem Land. Wohin mit mir? Ich bin nicht of Color. Ich habe jüdische Freund:innen of Color und deren Lebensrealität sieht anders aus als meine. Aber ich bin auch nicht weiß; nicht immer, nicht wie Felix und Elias.

Stelle mich in einen Raum mit Johannes und Lisa und beobachte, was passiert, und dir wird klar: Ich bin nicht die weiße Person im Raum. Das weiß-Sein von Jüd:innen ist im Gegensatz zu dem von wc-Deutschen fragil und kontextabhängig. Für wc-Deutsche sind wir nicht deutsch, fremd, wir werden rassifiziert, unsere Körper, unsere Anwesenheit unsere Existenz wird als nicht von hier, nicht von uns, nicht wie wir, fremd, böse, gefährlich, bedrohlich, von woanders, nicht deutsch kategorisiert. Ein jüdischer Körper gehört für wc-Deutsche nicht zum deutschen Volkskörper.

Und ich verstehe, dass ein (Schutz-)Raum für BIPoCs nicht für mich ist. Ich fordere nicht, BIPoC-Räume generell für Jüd:innen zu öffnen. Aber ich erwarte, dass wir anfangen zu verstehen, dass wir für weiße Räume nicht weiß genug sind. Dass Helena und Darius uns nicht als weiße Körper anerkennen. Nicht immer bewusst. Aber mit den Mikroaggressionen immer schön in die Fresse. Ich fordere zu verstehen, dass eine Diskussion, die sich zwischen BIPoC und weiß bewegt, die Lebensrealität von Jüd:innen unsichtbar macht. Anzuerkennen, dass, solange wir in dieser Dichotomie bleiben, Jüd:innen raumlos bleiben. Konsequent hinten unter fallen. Zwischen den Stühlen hängen. Auf dem Flur unserer Communitys sitzen. Wir bleiben unsichtbar und sind gleichzeitig nicht so unsichtbar, wie gerne behauptet wird. Und wer sagt: „Macht euch die Räume doch selbst.“ Wir sind wenige. Das bedeutet, willst du eine Veranstaltung für queere Jüd:innen machen, ist das wahrscheinlich noch möglich. Soll die flint* sein, schon schwieriger. Soll es sich um einen Empowerment-Raum für dicke oder behinderte queere Jüd:innen handeln … Deswegen sind wir zumindest darauf angewiesen, dass ihr uns mitdenkt.

Der Mythos der Unsichtbarkeit

Und dabei ist das versehentliche Vergessenwerden, die Unsichtbarkeit, die ich selbst so oft betone, ein Märchen. Wir sind nicht unsichtbar. Wir werden ausgeblendet. Es wird aktiv so getan, als würden wir nicht existieren. Wenn goyim selbstverständlich über Jüd:innen sprechen, als seien keine im Raum. Wenn goyim sich nur für tote Jüd:innen interessieren. Wenn goyim glauben, es gäbe keine. Gleichzeitig sind wir NIE unsichtbar. Habitus, Sprache, Kleinigkeiten lassen bei wc-Deutschen sofort den „Mit-der*dem-stimmt-was-nicht-Radar“ anspringen.

Bist du blond oder hast blaue Augen, wird rumgeraten, aus welchem osteuropäischen Land du wohl kommst, bei dunklen Haaren, „irgendwas südliches“ oder „Orient“ (sic!). Hauptsache irgendwo, wo man als wc-Deutscher seinen Rassismus bzw. seinen Antislawismus auspacken kann. Wc-Deutsche sind gut darin, in Millisekunden die Differenz, das Anderssein, den Unterschied zu wittern. Oft gar nicht bewusst, aber sie lassen es dich spüren. Wc-Deutsche sind bis heute perfekt darauf trainiert, „das Fremde“ zu entlarven. Ich muss als Jüdin nicht sichtbar sein und trotzdem reichen die Unterschiede in der Sozialisation, dass wc-Deutsche darauf anspringen wie Bluthunde. Wir sind nicht unsichtbar. Wc-Deutsche wissen nur oft nicht, was sie da tun und warum.

Aber dann gibt es auch jene von uns, die WIRKLICH niemals unsichtbar sind. Weil das Problem mit antisemitischen Stereotypen ist, dass sie manchmal leider zufällig tatsächlich bei den falschen zutreffen. Nicht weil antisemitische Stereotype wahr sind, sondern weil es leider auch Jüd:innen gibt, die ZUFÄLLIG mit einem, mehreren, vielen oder sogar allen antisemitisch zugeschriebenen Körpermerkmalen versehen sind. Nicht, weil sie jüdisch sind, sondern einfach, weil es nun mal zufällig so ist. Diese Person ist niemals unsichtbar. Ich habe mein Leben lang erlebt, wie Lehrer:innen, Mütter von Mitschüler:innen, Fremde auf der Straße mich oder andere angesprochen und gefragt haben, ob ich Jude sei. Weil ich so aussehe, wie ich aussehe. Und natürlich fühlen sich diese Menschen bestätigt, weil ihnen nicht im Traum einfällt, dass das ein ZUFALL ist. Dass ich nicht so aussehe, weil ich Jüdin bin, sondern dass ich so aussehe UND Jüdin bin.

Für Menschen wie mich ist Unsichtbarkeit ein Mythos, solange wc-Deutsche glauben, man erkennt Jüd:innen an Nase, Haaren, Haut, Ohren oder Schuhgröße.
Dass bei manchen Menschen zufällig beides zusammenkommt, dass wc-Deutsche jede Differenz zur eigenen Norm zehn Meter gegen den Wind riechen, dass spätestens im Kontakt durch Habitus, Sozialisation, Gewohnheiten … die Differenz zur Dominanzkultur deutlich und mit Mikroaggressionen begegnet wird, macht das Narrativ von der Unsichtbarkeit hinfällig. Wir werden nicht übersehen. Es ist eine Tradition des aktiven Vergessens. Kein Raum für Jüd:innen!

Jüdisch ist kein Widerstandsbegriff

Ich habe zu Beginn geschrieben, dass ich mich als weiße Jüdin bezeichne, aus Solidarität. Aber auch aus Ermangelung anderer Begrifflichkeiten. Wir kennen nichts, was strukturell tendenziell weiß, aber institutionell und im Alltag nicht unbedingt/oft nicht/fragil weiß bedeutet. Uns fehlt nicht nur das Konzept, sondern auch die Sprache. Schwarz, of Color, weiß, sind alles Begriffe, die aus einem politischen/feministischen Widerstand oder einer gesellschaftlichen Position heraus entstanden sind. Jüdin, Jude, jüdisch, Jüd:innen, sind keine Begriffe, die aus einem aktuellen politischen/feministischen Widerstand heraus entstanden sind. Wir haben sie nicht entwickelt, um uns politisch und gesellschaftlich in der Gegenwart zu verorten, um Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen sichtbar zu machen. Würden wir Jüdin, Jude, jüdisch dazu zu machen, würde das bedeuten, unsere eigene und sehr lange Tradition und Beziehung zu den Begriffen aufgeben zu müssen, um überhaupt in einem Wort versprachlichen zu können, dass wir und wie wir marginalisiert werden. Uns widerständig verorten können. Das würde bedeuten, wc-Deutsche Logik zu wiederholen: Unsere lange traditionsreiche Geschichte ignorieren zu lassen und ausschließlich über die Vernichtung und den Tod der eigenen jüngeren Historie definiert zu werden. Das Dazwischen bleibt also wortlos. Ersetzt durch ein Oxymoron: „weiße Jüdin“. Ein Oxymoron, das niemand erkennt. Und ich bleibe geduldig zwischen den Stühlen sitzen, weil unsere Debatten noch nicht so weit sind. Raumlos. Weil wir Jüd:innen nicht für Dichotomien gemacht sind … Und weil wir in Deutschland sind. Hier gibt es keine Juden.

Meine Liebste sagt, seit ich sie kenne: „Ich will eigentlich mein taz-Abo abbestellen, aber dann kommt immer irgendwie ein Text von Hengameh.“ Hengameh Yaghoobifarah schreibt eine Kolumne für die „taz“. Ich nehme an, das weiß inzwischen ganz Deutschland. Ich bin mir allerdings sicher, die meisten Menschen haben den besagten Text, der das Land in Unruhe versetzt, nie gelesen, sondern sich mit den zweifelhaften bis schlechten Interpretationen und Paraphrasierungen des Texts begnügt. Oder wussten vorher schon, was sie lesen wollten, und haben genau das dann auch gelesen.

Ich könnte mich wie viele andere auch an dem Text abarbeiten. Darauf hinweisen, dass der Text gleich zu Beginn deutlich macht, dass er sich mit einem realen Problem innerhalb der Polizei befasst, ein satirisches Gedankenspiel ist, endet mit dem Verweis, dass Cops wohl eh am liebsten unter sich wären. Ich könnte, wie viele andere auch, darauf verweisen, dass der Text innerhalb einer Debatte um Polizeigewalt entstanden ist, dass dieser Diskurs mit der Aufregung um Hengamehs Text erfolgreich verschoben und abgelenkt wurde, auf die Machtdimension Innenminister – Kolumnist*in, Polizei – Einzelperson, auf das gewollte Missverstehen all jener, die sich aufregen, um nicht über das System nachdenken zu müssen, in dem wir leben. Ich könnte darüber schreiben, dass der Schaden angerichtet ist, auch wenn Seehofer jetzt beschlossen hat, nicht anzuzeigen.

©Tine Fetz

Ich könnte meine Solidarität mit Hengameh Yaghoobifarah bekunden und auf den offenen Brief von friendsofhengameh an die Bundeskanzlerin verweisen. All das wäre wahr. All das wäre wichtig. All das sind Texte, die noch zigmal geschrieben gehören.

Aber was ich will, ist, meine verbleibenden 3000 Zeichen zu nutzen, um Hengameh zu danken. Denn was in der Debatte völlig untergeht, ist, wie bedeutend Hengameh als Stimme innerhalb unserer Medienlandschaft und Communitys ist. Ohne Hengameh gäbe es diese Kolumne nicht. Hengameh hat mir gut zugeredet, den Kolumnenspot überhaupt anzunehmen, meine jüdische Stimme lesbar zu machen, Hengameh hat sich solidarisiert, die paar Mal, als mir das Netz (antisemitisch) um die Ohren geflogen ist. Und das, obwohl ich zur awkwardsten Version meiner Selbst mutiere, wenn Hengameh anwesend ist, weil mir bewusst ist, welche Bedeutung Hengameh bereits hat und noch haben wird. Denn Hengameh politisiert die Räume und Debatten, in denen Hengameh wirkt. Diese werden heteronormativitäts-, rassismus-, klassismus-, antisemitismus-, insgesamt herrschaftskritischer. Und gleichzeitig auch queerer, mehr und mehr Raum für BIPoCs, weniger bildungstümlich, jüdischer und – das ist bei Weitem nicht dasselbe! – insgesamt weniger Mittelschichts-Christen-Weißbrot-Heten-Mehrheitsspaces.

Hengameh kuschelt nicht mit der hegemonialen Medienlandschaft. Alle bekommen das, was sie verdienen: Empowerment auf der einen Seite, die harte Wahrheit auf der anderen. Politische Bewegung ist geprägt von Sprache und Hengameh gehört zu jenen, die diese immer wieder neu schafft, Bekanntes neu zusammensetzt, Gewusstes nicht müde wird zu wiederholen und jenen ins Gesicht zu reiben, die da sonst Schuhcreme als „Verkleidung“ reinpinseln. Hengameh Yaghoobifarah ist eine Schlüsselfigur und ich glaube, in 30 Jahren schauen wir zurück und begreifen erst so richtig, was Hengameh alles in Bewegung gesetzt hat. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich glaube nicht an Personenkult oder an Ikonisierung, weil das oft verkennt, wer soziale Bewegungen unsichtbar mitgetragen und möglich gemacht hat, aber wenn wir uns Bewegungsgeschichte anschauen, dann gibt es Akteur*innen, die Raum schaffen für Identifikation, für Stimmen, für Gehör, für Diskurse, für Projektion. Es sind die Figuren, die wie Leuchttürme funktionieren und oft auch Communitys verbinden, aber eben auch die Stellvertreter*innen sind, an denen sich die Mehrheitsgesellschaft erst mal abarbeitet. Die belacht, beleidigt, bedroht und angegriffen werden. Hengameh ist ein Leuchtturm, schafft Räume und Debatten, lässt Positionen zu Wort und Gehör kommen, ohne auf die Assimilationskarte zu setzen, und zahlt dafür den Preis des ständigen Kreuzfeuers. Hengameh Yaghoobifarah gehört zu den wichtigsten Persönlichkeiten unserer Generation. Vielleicht nicht nach wc-deutschen hegemonial Maßstäben, aber genau deswegen! Wir brauchen nicht nur Menschen wie Hengameh Yaghoobifarah, wie brauchen Hengameh Yaghoobifarah!

Deswegen geht es hier nicht nur um einen Text. Deswegen dürfen wir nicht zulassen, dass Hengameh von rechtskonservativen Politiker*innen wie Seehofer der Mehrheitsgesellschaft und Rechtspopulist*innen zum Fraß vorgeworfen wird. Deswegen reichen Solidaritätsbekundungen nicht, deswegen reicht das Verteidigen der Pressefreiheit nicht, sondern jede Person muss sich bewusst machen, was Personen wie Hengameh für marginalisierte Communitys bedeuten, und sie dann verteidigen. Quasi bis zur letzten Patrone oder so …

Ihr wisst, was kommt: Wir haben eine Krise. Oder aber vielleicht wisst ihr es auch nicht, denn ich spreche von Corona nicht (nur) als Krise, weil Menschen erkranken und sterben oder Langzeitschäden erleiden, sondern weil die aktuelle Pandemie noch einmal deutlich macht, was viele von uns vorher schon wussten: People don’t care.

©Tine Fetz

Die Doppeldeutigkeit von Social Distancing

Wir reden über Zahlen, Nummern, Statistiken. Tote werden in Prozent angeführt und wenn diese Prozentzahl sinkt, tun wir so, als gäbe es was zu feiern. Als ginge es nur um irgendeine Rate, die abnimmt, und als stünden hinter dem verbleibenden Prozentsatz keine verstorbenen Menschen mehr. Aber das ist der Coping-Mechanismus dieses Landes. Seit inzwischen Generationen kritisieren Jüd*innen genau das: die wc-deutsche Abstraktion – Menschenleben und Tote zu Zahlen und Statistiken verkümmern zu lassen, sie aus der emotionalen Distanz hin und her zu schieben und sie effizient nicht das sein zu lassen, was sie sind: (tote) Menschen. Weil es dann leichter ist, keine Verantwortung zu übernehmen, und das Leben bequemer ist. Because People don’t want to care.

Aber auch jenen gegenüber, die (noch) leben und besonders gefährdet sind, schafft es der gemeine junge, gesunde, ableisierte wc-Deutsche, die nötige Distanz zu schaffen. Da wird über kranke, behinderte und alte Menschen verhandelt wie über Vieh. Abgewogen, welche Gefährdungen und Verluste in Kauf nehmbar sind. Ohne uns jemals ins Bild zu rücken. Behinderte und chronisch kranke Menschen, jenseits jener, die in Berichten mit Schläuchen, auf den Intensivstationen, blurry im Hintergrund zu sehen sind, werden ausgeblendet, nicht gefragt, nicht gezeigt, nicht gehört, es wird nur abstrakt über sie diskutiert, die Gesichtslosen, die Mängelexemplare dieser Gesellschaft. Dabei darf Hinz und Kunz sich unqualifiziert in der Öffentlichkeit zur „Corona-Krise“ äußern.

Und dabei sind wir, die Behinderten und chronisch Kranken die wirklichen Expert*innen in der aktuellen Situation. Viele von uns sind bestens vertraut mit der Isolation und Strategien zum Umgang mit ihr oder Einschränkungen im Alltag, Frust, finanzieller und existenzieller Bedrohung, Schutz vor Ansteckung, gesundheitlichen Gefährdungen, alternativen Arbeitsweisen oder auch Einschränkung der Grundrechte, kreativen Protestformen, Widerstand und politischem Aktivismus mit eingeschränkter Mobilität und eingeschränkten Versammlungsmöglichkeiten, Ohnmacht, Willkür oder auch der Verschränkung und Potenzierung von all dem. Doch stattdessen sind wir „die Risikogruppe“, die nie genannt und nie miteinbezogen wird. Und gerechnet wird, auf wie viele von uns verzichtet werden kann, wie viele wahrscheinlich eh bald tot wären, und ob wir der Wirtschaft tot oder lebendig mehr bringen …

Ich spreche inzwischen von Physical Distancing, weil soziale Distanzierung eigentlich genau das ist, was gerade auf keinen Fall noch mehr passieren darf, because people already don’t care.

Who cares?

Ein Grund, warum wir in Deutschland (noch) eine verhältnismäßig geringe Sterberate haben, ist ein ganz anderes Distanz- und Care-Thema. Wc-Deutsche wohnen in der Regel nicht mit ihren Alten zusammen. Was für die Sterberate super ist, ist jedoch auch Ausdruck davon, wie wir Gemeinschaft und damit auch Care verstehen. Care ist hier auf eine seltsame Art und Weise zeitgleich institutionalisiert und individualisiert.

Im Judentum bedeutet Care Community. Also weder nur meine eigene Nahfamilie noch irgendjemand Fremdes irgendwo. „Care ist Community-Aufgabe“ würde in einer Situation wie der aktuellen bedeuten, dass wir nicht daran scheitern würden, dass alle nur bis zu ihrem eigenen Bauchnabel und vielleicht noch dem Bauchnabel der nächsten Angehörigen denken. „Care ist Community-Aufgabe“ wird z. B. dann wichtig, wenn, eine Maske zu tragen nicht mich selbst schützt, aber andere. Doch ein System, das Care nicht als Gemeinschaftsverantwortung, sondern maximal als Verantwortung den eigenen Angehörigen gegenüber versteht, das (Für-)Sorge für das unmittelbare Umfeld reserviert und alles andere für Charity hält, kommt in einer Krise an seine Grenzen. Und natürlich macht es Sinn, dass marginalisierte Communitys Care als Community-Konzept verstehen, während (vor allem nicht von Klassismus betroffene) wc-Deutsche es sich stets leisten konnten, sich ausschließlich um den eigenen Bauchnabel zu drehen. Aber inzwischen bedeutet das halt, andere aktiv zu gefährden. But they still don’t care.

Und dann ist da das Grundrecht

Und wenn wc-Deutschen nichts mehr einfällt, um zu rechtfertigen, wieso sie glauben, dass ihr Leben mehr zählt als das von anderen, dann wird mit der Einschränkung der Grundrechte argumentiert. Ich mache es sehr knapp, weil ich letzte Woche bereits in einem anderen Text sehr ausgiebig über die ableistische Farce vermeintlich linker Stellvertreterdebatten geschrieben habe. Aber es zeugt schon von einer großen Distanz zu den Lebensrealitäten kranker, behinderter und alter Menschen, wenn die aktuellen Forderungen z. B. mit Debatten um vermeintlichen Terrorismus und Innere Sicherheit gleichgesetzt werden. Die Debatte um Innere Sicherheit und vermeintlichen Terrorismus ist eine rechtspopulistisch geprägte, die rassistische Narrative nutzt und eine Gefahr konstruiert. Dass junge, gesunde, nicht-behinderte wc-Deutsche das mit den aktuellen Umständen gleichsetzen, zeigt, dass sie keinerlei Gefühl dafür haben, in welcher Situation wir uns gerade befinden.

Wir alle!

Hier geht es nicht um eine konstruierte Bedrohung. Wir sprechen nicht von einer abstrakten konstruierten Gefahr, sondern dealen mit einem realen Virus. Übrigens einem Virus, dessen Verbreitung wirklich viel mit Rassismus zu tun hat, und es ist schön zu sehen, wie diese jungen, gesunden, ableisierten wc-Deutschen glauben, sie können das ausdiskutieren und am Ende die ganze Welt gefährden. When Ableismus meets Postkolonialismus. Tod und Krankheit ist für junge und gesunde wc-Deutsche einfach nur abstrakt. Und am Ende eben doch kein Teil des politischen Kanons für jene, die es nicht betrifft. Diese Ignoranz wird dann sogar noch auf die Spitze getrieben, wenn die Stimmen behinderter und kranker Akteur*innen mit rechtspopulistischen Politiken gleichgesetzt werden. 
Die Relativierung der Gefahr für alle, aber besonders für kranke, alte und behinderte Menschen unter dem Deckmantel linker Politiken, rumzutheoretisieren, wie für alle das Maximum an Freiheit in der aktuellen Ausnahmesituation möglich ist, ist für mich vor allem eins: links angemalter Neoliberalismus. Denn linker Konsens muss der Schutz von Menschenleben sein. War das nicht auch mal ein Grundrecht?

Ich möchte nicht falsch verstanden werden, ich finde es wichtig, im Auge zu behalten, dass Grundrechte momentan eingeschränkt sind. Und mir wäre es auch lieber, wir würden in einem solidarischen Utopia leben, aber wie denn, wenn ein Großteil der Menschen bereit ist, für die eigene Bequemlichkeit auf das Leben von marginalisierten Menschen zu spucken? Wie denn, wenn wir nicht mal in der Lage sind, über Menschen, statt über Zahlen und Statistiken zu sprechen? Wie denn, wenn wir Care nicht als Gemeinschaftsaufgabe verstehen und uns nur um unseren eigenen Bauchnabel drehen?

So please start to care!

Die Menschheit ist so unkreativ, dass es wehtut.
 Als 1348 die Pest in Europa ausbrach, war eine der beliebtesten Verschwörungstheorien, dass „die Juden“ die Brunnen vergiftet hätten, um so die gesamte nicht jüdische Bevölkerung zu vernichten. Untermauert wurde diese steile These von dem Umstand, dass deutlich weniger Jüd*innen als Christ*innen erkrankten, was aber vor allem daran lag, dass Jüd*innen durch das Bad in der Mikwe weniger wasserscheu waren. Ich sage nur 2x „Happy Birthday“ singen …

©Tine Fetz

Jetzt sollte man meinen, dass in den letzten 670 Jahren die Menschheit gewachsen ist. An sich selbst meine ich. Und über sich selbst hinaus. „Mittelalterliche Vorstellungen“ sollten eine Redensart sein, doch jedes Mal, wenn irgendwo Menschen an etwas erkranken oder gar sterben, kriechen die Verschwörungsfanatiker*innen aus ihren Ecken und packen ihre modernen Versionen des mittelalterlichen „Die Juden haben die Brunnen vergiftet“-Mythos aus. Normalerweise irgendwo im Internet, wo es niemanden interessiert und man nur ab und an mal aus Versehen drüber stolpert. Doch seit Corona schwappt mehr und mehr von diesem antisemitischen Müll in meine gut sortierten Timelines. Wildeste Verschwörungsnetze, die mal subtil, mal ganz offenkundig Corona als Waffe, Gift, Vernichtungs- oder Politstrategie von wahlweise „den Juden“, „Israel“ oder „den Zionisten“ herbeikonstruieren (übrigens auch anderen vermeintlichen Feindbildern). Phrasen wie „So ein Virus entsteht nicht einfach“ sollen beweisen, dass nur eine „Supermacht“, die die Weltherrschaft an sich reißen möchte, diesen Virus auf die Menschheit losgelassen haben kann.

Ich bin keine Virologin und kann euch nicht sagen, wie Viren entstehen, aber was ich sagen kann: Kolonialismus, Industrialisierung, Globalisierung, Kapitalismus, Rassismus etc. reichen vollkommen, um aus einem Virus eine Pandemie zu machen. Statt aber gemeinsam Verantwortung zu übernehmen und zu reflektieren, welche gesellschaftlichen Strukturen Pandemien auch historisch für wen schon immer besonders gefährlich gemacht haben, setzen weiße, christlich-sozialisierte Menschen (im Folgenden wc’s) ihren feinsten Aluhut auf und tragen ihre solidesten Ismen zu Schau. Schillernder Rassismus wird mit schickem Vintage-Antisemitismus kombiniert. Und für den guten Herrenrassen-Flair wird dann noch argumentiert, warum man die Alten und Kranken doch einfach krepieren lassen sollte. Es ist ist wie eine Reise durch die Jahrhunderte: 1348, 1884, 1933. Man glaubt daran, das eigentliche Opfer zu sein, während man Klopapier und Konserven hortet, die Grenzen dichtmachen möchte und nach der Staatsgewalt schreit. Den eigenen Vorgarten verrammeln und wilde Theorien aufstellen, wer den Brunnen vergiftet hat, den bösen „Supermächten“ die Schuld geben und nach der starken autoritären Hand winseln – wc’s, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen.

Die Gefahr an diesem Verhalten ist, dass es anschlussfähig ist. Und während für einige von uns abstruse Verschwörungstheorien zur jüdischen Weltübernahme durch Corona vielleicht lächerlich klingen, können Jüd*innen ein Lied davon singen, wie viele Menschen diese Erklärung gerne annehmen, um einen Schuldigen für ihr Leid und ein Ziel für ihre Angst zu haben. Und nicht nicht jeder Content, der sich diesem antisemitischen Motiv bedient, ist so obvious. Oft ist es viel subtiler eingeflochten und kommt als unauffällige Frage daher wie etwa: „Warum arbeitet Israel schon seit einem Jahr an einem Impfstoff?“ Die Idee, dass jüdische Geschäftsleute hinter Corona stecken oder Corona nutzen, um Profit zu schlagen, ist nur eine Variation des antisemitischen Kanons, den wir aus allen gesellschaftlichen Ecken singen hören, und er tönt aktuell laut durch die sozialen Medien, doch gesprochen wird darüber wenig. Ich glaube, weil die einen es zu plump finden, um es ernst zu nehmen, und die anderen es gar nicht erkennen. Aber ist diese Kombi nicht die größte Gefahr?

Liebe Grüße aus meinem geheimen Superlabor
Eure jüdische Viro-Kolumnistin

Von Debora Antmann

Erst Halle, dann Hanau. Angst, Tod, Verlust, Trauer. Nach Halle habe ich gefleht, dass uns zugehört wird. So viele von uns haben versucht wachzurütteln – zwischen Wut und Angst und Verzweiflung. Nun Hanau. Halle scheint verraucht bei jenen, die es nicht betrifft. Dabei waren doch angeblich wir alle gemeint. Nach Hanau sind Tausende auf den Straßen. Doch für wie lange?

Jüdische Trauer währt ein Jahr*. In Deutschland gelten allerdings schon ein paar Wochen Trauer schnell als Depression. Das sagt doch schon alles. Wer nicht trauert um Gökhan Gültekin, Ferhat Ünvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Hamza Kurtović, Kalojan Welkow, Vili Viorel Păun und Said Nesar Hashemi, wird sie vergessen und mit ihnen den Umstand ihres Todes, die Bedrohung. Rechter Terror.

©Tine Fetz

Im Judentum vergessen wir die Toten nicht, sonst lassen wir sie ein zweites Mal sterben. Das hat nichts mit Selbstkasteiung oder Leidenskultur zu tun, sondern ist die Verantwortung unseren Communities gegenüber. Eine Geschichte der Verfolgung und der Gewalt bedeutet auch, Verlust als Teil von Community-Arbeit zu verstehen und zu integrieren. Deswegen kümmern wir uns um die Toten und um die Hinterbliebenen. Deshalb ist Abschied Community-Angelegenheit und nicht nur zwei Stunden Beerdigung. Trauern bedeutetet Schmerzen zu teilen und gemeinsam zu heilen oder auch nicht zu heilen.

Im Judentum hat man verstanden, dass Trauer, Verlust und Schmerz Zeit brauchen – und Gemeinschaft. Wir begleiten die Toten und die Zurückgebliebenen, begleiten den Schmerz, den eigenen und den der anderen, wir zerreißen unsere Kleider.

In Schland bedeutet Trauer Dysfunktion und Dysfunktion ist schlecht. Unter wc-Deutschen ist Trauer die Trauer des Einzelnen, weil eine Mehrheit nicht auf Community angewiesen ist. Aber das bedeutet auch, hier erinnert man sich nur zu Weihnachten an die eigenen Verwandten. Und der Schmerz über das Geschehene sitzt nicht nur nicht tief, weil wc-Deutsche nicht bedroht sind, sondern weil sie auch nicht verstehen, wie es ist mehr zu sein, als das eigene Fleisch und Blut. Sie werden nicht verstehen und dann vergessen. Und wer nicht vergisst ist depressiv.

Es mischt sich Trauer mit Angst und Verzweiflung. Ich möchte eure Hände halten, Siblings. Euch sagen, ich höre euch, sehe euch, teile die Trauer und die Verzweiflung. Verzweiflung, weil wc-Deutsche den Ernst der Lage immer noch nicht verstehen. Nicht sehen, wie schlimm die Zustände sind. Wie auch, wenn die Messlatte Gaskammern und Vernichtungslager sind und alles darunter in Verhältnismäßigkeiten zu verschwinden scheint.

Mit der Shoah hat sich Deutschland das eigene Extrem geschaffen, die Zielgerade der Eskalation. Dahin soll Deutschland nie wieder kommen. Die Maßstäbe gingen damals verloren und wurden nicht wiedergefunden. Alles darunter scheint zu verrauchen. Dabei stecken wir schon wieder inmitten der Eskalation. Jedes Mal ein Stückchen weiter. Wir betrauern Tote. Brüder und Schwestern, Söhne, Töchter, Freund*innen, Siblings. Aber während wir die Tränen schwer und ohrenbetäubend auf’s Asphalt prallen hören, ist der Rest des Landes wieder mit Karneval-Kater beschäftigt. Oder mit Ostern. Jesus ist schließlich auch tot.

(*wer klugscheißen will: Ja oder 30 Tage je nach Beziehung, trotzdem bleibt das Jahr ein Meilenstein und die Frage ist, wie man Trauer definiert…)

Content Note: In diesem Text geht es um sexualisierte Gewalt und um den aktuellen Fall des Festivals Monis Rache, also um Videos, die heimlich von Betroffenen aufgenommen und veröffentlicht wurden. 

Eine Frau rennt nackt in den Aufenthaltsraum des Bordells, in dem ich arbeite. Sie ruft: Er hat mich gefilmt! Mehrere Sexarbeiter*innen, die bis eben noch rauchten, Kaffee tranken und sich über ihre Boyfriends unterhielten, springen auf und rasen in das Zimmer, in dem ihre Kollegin bis eben geackert hat. Eine versperrt die Tür, die anderen bedrohen und verprügeln den Typen mit ihren High Heels oder was sie sonst so zur Hand haben. Sie löschen die Filmaufnahmen und der Täter versichert halbwegs glaubhaft, dass es keine weiteren Kopien in der Cloud oder sonst wo gibt. Erst dann lassen sie ihn ziehen. 

An diesem gloriosen Tag der Rache war ich gerade krank. Als ich am nächsten Tag auf die Arbeit kam, erzählten mir die anderen brühwarm, was passiert war. Wir diskutierten lange über den Fall und auch wenn ich jetzt noch daran zurückdenke, steigen mir ein paar Tränen in die Augen, weil mich die spontane Solidarität, die sich dort entfacht hatte, so bewegt. Manche von uns ließen sich für Geld beim Sex filmen, meist wollten die Kunden die Aufnahmen für sich privat haben, in jedem Fall schlossen wir schriftliche Vereinbarungen und machten aus, inwieweit wir uns anonym filmen lassen würden.
Dass jemand ohne unser Wissen eine Kamera aufstellen könnte, war ein Übergriff und eine Gefahr, mit der wir rechnen mussten. Denn nur weil ich mit einer Person Sex habe, heißt das nicht, dass die Person mich dabei filmen darf. Wir brachten uns gegenseitig Tipps bei, wie wir eine solche Spycam erkennen könnten, und besprachen, dass wir in jedem Fall wieder so direkt agieren und uns für die geschädigte Sexarbeiterin einsetzen würden. 

©Tine Fetz

Im Januar kam durch eine Reportage von Strg+F heraus, dass beim linksalternativen Festival Monis Rache ein Mann heimlich Menschen beim Toilettengang auf den Dixiklos gefilmt und die Filme v. a. von Frauen oder welche er als solche bestimmte, auf der Pornoseite xHamster hochgeladen hatte. Die Journalistin Patrizia Schlosser hatte die Orga-Crew des Festivals im Herbst 2019 über den von ihr aufgedeckten Fall informiert, zwischenzeitlich hatte der Täter bereits 2018 erneut Aufnahmen machen und online stellen können. In der Reportage versucht er, sich herauszureden, indem er die Gewalt als seine sexuelle Präferenz, als eine Art Fetisch, darstellt. Wir wissen, dass ein Mensch sich in seiner Fantasie alles vorstellen kann, doch Fantasien gegen den Willen anderer Menschen auszuleben, das ist Gewalt.
Die Betroffenen und ihre Unterstützer*innen haben viele Fragen: Wieso hat eine kleine Gruppe der Festival-Orga die Taten verheimlicht? Wieso hat die Gruppe einen Prozess der transformative Justice eingeleitet, ohne dass die Betroffenen davon wussten? Wieso hat Patrizia Schlosser die Orga nicht früher informiert, sodass der Täter noch im Jahr 2018 heimliche Aufnahmen machen konnte? Wie viele haben ihn gedeckt, wie viele weitere Täter*innen gibt es?
Einige Konsequenzen konnten sie bereits erwirken: Der Täter wurde geoutet, aus seinem Leipziger Hausprojekt rausgeschmissen, Betroffene haben sich vernetzt und in Leipzig und Berlin zwei feministische Demos unter dem Motto „My Body is not your porn – still loving my choice“ organisiert. 

Für mich als Sexarbeiter, der von diesem Fall nicht betroffen ist, gilt es, die gesamte Matrix der Taten zu durchleuchten. Denn der Täter hat nicht allein agiert. Er vernetzte sich (mindestens) auf der Pornoseite xHamster mit vielen weiteren, die entweder selbst solche Videos gegen den Willen der Betroffenen aufnehmen und veröffentlichen, oder mit Menschen, die diese gerne konsumieren, durchaus im Bewusstsein, dass das ebenfalls eine nicht konsensuelle sexuelle Handlung ist. Es sind also viele Täter*innen Teil des Netzwerks von Hfraenklin1, so sein Profilname bei xHamster. Doch auch die Tatorte sind unter die Lupe zu nehmen. Die Toiletten auf dem Festival sind ein Tatort, doch ein entscheidender, weiterer Tatort ist die Seite xHamster selbst. 

In deren Nutzungsbestimmungen lässt sich zwar lesen, dass Release-Formulare der Pornodarsteller*innen von Content-Ersteller*innen verlangt würden, doch in der Praxis ist das offensichtlich nicht der Fall. Denn diese Release-Formulare gibt es schlicht und einfach nicht, wenn Menschen gegen ihr Wissen und gegen ihren Willen gefilmt worden sind. Nicht nur der einzelne Täter, der enttarnt werden konnte, muss zur Verantwortung gezogen werden. Auch die Plattform xHamster. Sie ist sowohl zweiter Tatort als auch Enablerin für Täter*innen, welche sich dort vernetzen, nicht konsensuell erstellte Videos teilen und damit sogar Geld verdienen. xHamster ist es egal, dass User*innen, die nach Fetischpornos suchen, auch Videos, die sexualisierte Gewalt zeigen und in ihrer Veröffentlichung selbst ein sexualisierter Übergriff sind, zu sehen bekommen. Dadurch trägt die Plattform dazu bei, die Grenzen zwischen Sexualität und Gewalt zu verwischen, sodass die Ausrede des Täters, er habe „seine Neigung“ ausgelebt, von anderen nachvollziehbar erscheint. 

Die Plattform versuchte, sich in der Reportage von Strg-F aus der Verantwortung zu ziehen mit der Aufforderung an Betroffene, die Videos, die sie zeigen, jeweils zu melden und um deren Löschung zu bitten. Doch im Fall heimlicher Videoaufnahmen wissen die meisten Betroffenen gar nicht, dass es diese Aufnahmen gibt. Noch dazu muss sich eine Person, welche sich in einem solchen Film wiedererkennt, outen und dann alleine mit einem Chatroboter oder einer E-Mail-Adresse diskutieren, dass ihr sexualisierter Übergriff bitte nicht mehr für Werbeeinnahmen zur Verfügung stehen soll. xHamster macht nämlich selbst Geld mit sexualisierter Gewalt, obwohl sie als Plattform die Verbreitung und Normalisierung von erzwungenen Spy-Videos verhindern könnte. Bspw. indem sie die Model Releases, also Formulare, in denen sich die Darsteller*innen schriftlich äußern, dass sie volljährig sind und die Filme freiwillig drehen, konsequent einfordern würden. Das würde übrigens auch verhindern, dass gestohlener Porno-Content auf der Plattform auftaucht. Denn für einen gestohlenen Film besitze ich die Releases nicht und kann sie dementsprechend nicht vorweisen.

Unsere Körper sind nicht eure Pornografie – denn nur Pornografie ist Pornografie. Und wann wir einen Porno drehen, wem wir diesen zur Verfügung stellen und ob wir damit Geld verdienen, entscheiden wir immer noch selbst. Ich hoffe sehr, dass sich viele Sexarbeiter*innen mit den Betroffenen von Videos, die sexualisierte Gewalt zeigen, solidarisieren. Ich hoffe genauso, dass Vanilla-Feminist*innen uns als Expert*innen solcher Erfahrungen anerkennen und wir solidarisch miteinander gegen das Patriarchat kämpfen können. 

Von Josephine Apraku

Ich habe den Eindruck, mit einem Missverständnis aufräumen zu müssen: Wenn ich von cis Männern schreibe, dann schreibe ich nicht von denen, die offen ihren Sexismus ausleben und diesen als wichtige Ressource ihrer Männlichkeit betrachten. Ich schreibe auch nicht von denen, die in entspanntester Manier, lachend und mit rot glühenden Wangen sexistischen Scheiß von sich geben und sich dafür selbst anerkennend auf die Schulter klopfen. Für die habe ich keine Zeit, denn von denen ist zeitnah keine Veränderung zu erwarten.

©Tine Fetz

Die, von denen ich schreibe, sind so nicht drauf. Ich meine die, die überlegen, wie sie im Privaten wie im Öffentlichen – zu mehr Gleichberechtigung beitragen können. Von jenen, die es wichtig finden – das gilt übrigens auch für meinen Freund –, sich und die eigene Sozialisierung als Mann zu hinterfragen und kritisch zu reflektieren. Na ja, zumindest behaupten sie solcherlei Dinge von sich und mit dieser Behauptung machen sie sich überprüfbar und ja, im feministischen Sinne auch „angreifbar“. Denn ich habe mich entschlossen, sie ernst zu nehmen. Das heißt auch, dass, wenn sie sich entgegen ihrer eigenen Absichten verhalten, ich mich sehr wohl damit fühle, sie darauf hinzuweisen.

Einigen mag nun scharf wie Hot-Sauce die Frage auf der Zunge brennen, weshalb ich dann überhaupt auf cis Männer schimpfe, denn das sind ja die „guten“? Andere mögen sich fragen, ob diejenigen, über deren Verhalten ich mich auslasse, nicht genau die Falschen sind, weil die ja immerhin den Knall gehört haben. Das Problem ist allerdings, und mit dieser Erfahrung bin ich als Frau wohl kaum allein, dass nur weil cis Männer grundsätzlich für Gleichberechtigung sein mögen, sie nicht automatisch zu allen Zeitpunkten hilfreiche feministische Verbündete sind. Sind sie oft nicht.

Mich persönlich schockiert und enttäuscht diese Erkenntnis nicht. Ich kann Menschen grundsätzlich zugestehen, dass Diskriminierungskritik für sie ein beständiger selbstreflexiver Lernprozess ist. Das ist für mich ja nicht anders. Daraus ergibt sich für mich nur eben nicht, dass ich jegliches – unbewusstes und/oder unabsichtliches – ignorant sexistisches Verhalten milde lächelnd durchwinke. Im Gegenteil, wenn etwa mein Freund von sich behauptet, die feministische Idee zu unterstützen und dann komplett unreflektiert auf sexistische Verteilung von Sorgearbeit pocht, dann gibt es Stress.

Die gute Absicht allein hat bisher noch keinen cis Mann zu einem besseren feministischen Verbündeten gemacht: Sexismus ist die Norm und Sexismuskritik, insbesondere von denen, die patriarchale Strukturen im Alltag begünstigen, ist die Abweichung. Für sie bedeutet es, selbst wenn sie aufrichtig an sich arbeiten, permanentes Wachsein für die eigenen, als normal wahrgenommenen Privilegien und vor allem, sich nicht in diese zurückgleiten zu lassen, als seien sie ein sanftes Ruhekissen.

Selbst die Frauen, die ich kenne, die mit Männern zusammen sind, die aktivistisch arbeiten und im Rahmen dieser Arbeit Sexismuskritik üben, übernehmen deutlich mehr Sorgearbeit. Das ist strukturell, es geht weit über die individuellen Eigenschaften des Einzelnen hinaus. Deshalb ist es eine realistische Einschätzung, davon auszugehen, dass, wenn ich als Frau eine Beziehung zu einem cis Mann eingehe, ich damit werde umgehen müssen. Vor allem dann, wenn ich auf diese ungerechte Aufteilung keinen Bock habe. Aber genau deshalb umgebe ich mich mit Männern, denen Gleichberechtigung wichtig ist: nicht etwa weil ich mit denen nie wieder sexistische Zuschreibungen erlebe, sondern weil sie sich durch ihre Haltung überprüf- und ansprechbar machen. Nüchtern betrachtet kann ich nicht viel mehr erwarten, aber mit weniger gebe ich mich eben auch nicht zufrieden.

Von Debora Antmann

So, reden wir mal Tacheles! Eigentlich sollte hier ein emotionaler Text stehen, warum Oversharing Caring ist, aber nach einer Stunde ÖPNV bin ich einfach zu abgegessen, um euch das zu gönnen. Für mich als Rollstuhlfahrerin sind Öffis die Pest, aber wisst ihr, was fast noch schlimmer ist? Menschen! Das, was mich an S-Bahn-, U-Bahn-, Bus- und Tramfahren zur rasenden Kolumnistin macht, sind die Leute.

©Tine Fetz

Kategorie A: der kreative S-Bahn-Fahrer (Maskulinum intended)

Ich werde fast täglich am Bahnsteig stehen gelassen. Manchmal sogar mehrfach an einem Tag und hätte ich die Mittel, würde ich die Berliner S-Bahn in Grund und Boden klagen. Hier läuft das so ab: Wenn der Zug einfährt, musst du bereits am Gleis auf Höhe der Fahrer*innenkabine (immer woanders) bereitstehen, dann auf dich aufmerksam machen, damit die fahrende Person dir die Rampe vom Gleis holt und dich einsteigen lässt. Das ist die Theorie. In der Praxis haben Bahnfahrer die geilsten Methoden, um das nicht zu tun. Hier meine Highlights: Sie ignorieren dich einfach und drehen ihren Kopf weg – auch wenn du winkst oder an ihr Fenster klopfst. Sie behaupten, du hättest einen halben Meter zu weit hinten gestanden, sie hätten jetzt einfach keine Lust, du könntest um die Uhrzeit nicht fahren, schließlich sei Berufsverkehr, du solltest es ab 10 Uhr noch mal versuchen, sie haben „heute schon mal einem Rollstuhlfahrer reingeholfen“, du sollst auf die nächste Bahn warten (ohne Begründung, einfach so), ihr Zugtyp sei nicht für Rollifahrer*innen gemacht, „Nö“, „Och nö“, „nich bei mir“, „ich hab keinen Schlüssel“ …

Ich könnte ewig so weitermachen. Ich habe schon so viel Zeit auf Bahnsteigen verbracht, weil Bahnfahrer mich unter den absurdesten Vorwänden einfach nicht haben einsteigen lassen, weil sie die Rampe nicht anlegen wollten, dass das für mindestens beide Staffeln „Pose“ und eine halbe Staffel „One Day at a Time“ gereicht hätte. Und ich bin erst seit Juni im Rollstuhl …

Kategorie B: die in die 1.-Tür-Quetscher*innen

Rollstuhlfahrer*innen dürfen/können nur an bestimmten Türen einsteigen, wenn sie alleine unterwegs sind und nicht stranden wollen. In Berlin ist es bei der U- und S-Bahn die erste. Nur hier bekommen wir die Rampe. Scheinbar ist die erste Tür aber generell besonders beliebt, viele Fußgänger*innen rennen lieber noch einige Meter an der Bahn entlang, um sich dann genau dort hineinzuquetschen. Liebe Leute! Die erste Tür ist unsere! Nehmt doch einfach eine der anderen 25! Damit tut ihr uns einen riesigen Gefallen! Und wenn ihr das bisher noch nicht wusstet, dann macht es gefälligst ab jetzt! Wir sind nämlich die, die am Bahnsteig stehen bleiben müssen, wenn ihr euch dort hineingequetscht habt und wir nicht mehr reinpassen, obwohl an anderen Türen noch massig Platz ist. Tut doch in Zukunft einfach so, als gäbe es die erste Türe nicht. Lauft an ihr vorbei, zeigt ihr die kalte Schulter! Ist für euch auch viel entspannter, denn ihr werdet feststellen: Wie durch ein Wunder sind alle anderen Bahntüren leerer. Win-win für alle!

Kategorie C: die Salzsäulen

Wenn wir dann also alle hinter Tür eins stehen, beginnt der Stress. Denn Bahnen sind schmal, haben oft ne Stange in der Mitte und alle Leute wollen an dem sperrigen Rollstuhl vorbei. Ich würde mich gerne platzsparend hinstellen, denn glaubt mir, Rucksäcke und fremde Ärsche in die Fresse zu bekommen ist kein Fetisch von mir, aber zum Rangieren brauche ich Platz und zwar mehr als den halben Millimeter, den ihr euch zur Seite lehnt, während ihr mich fasziniert anstarrt, wenn ich euch bitte, mir Platz zu machen. OBWOHL mehr Raum da ist! Für alle Geometrienieten: Um zu rangieren, brauche ich nicht nur die genau abgemessene Fläche meines Rollstuhls. Rollstühle können sich nicht auf der Stelle drehen. Wenn ich dich darauf hinweise, dass ich NOCH MEHR Platz zum Rangieren brauche, dann tippel nicht nur einen halben Millimeter weiter, sondern schau, dass du alles an Fläche rausholst, was drin ist. Denn wenn ich erst mal in der Ecke bin, haben ALLE mehr Platz und ich keine Ellbogen mehr im Auge. Stattdessen scheint aber die Bahn voller starrer Salzsäulen, die dann auch noch sauer sind, wenn ich ihnen gegen das Schienbein fahre. Ups. Das Gleiche gilt übrigens fürs Aussteigen. Ja, du Salzsäule, wenn ich sage, ich muss aussteigen, bedeutet das, ich muss MIT DEM ROLLSTUHL zur Tür. Starres starren.

Kategorie D: die Kinderwagen-Vergleicher*innen

Das sind jene, die sich für empathisch halten und dann ungefragt ihre Bahn-Kinderwagen-War-Storys auspacken. Ich mache es für euch sehr kurz: ICH BIN KEIN FUCKING KINDERWAGEN! Dieser Vergleich ist so ableistisch, mir zuckt die Spastik im Bein. Und es ist auch einfach NULL vergleichbar! Ein Kinderwagen ist eine Milliarde Mal leichter als ein erwachsener Mensch in einem Rollstuhl. Selbst ein leerer Rollstuhl ist schwerer als euer Kinderwagen. Ihr könntet zur Not den Kinderwagen einfach rein- und rausheben und braucht in der Regel keine Rampe. Niemand zwingt euch, bestimmte Türen zu nehmen. Ich bin ein erwachsener Mensch, das ist meine Art der Fortbewegung. Leute mit Kinderwagen werden völlig anders behandelt und verhandelt in dieser Gesellschaft. Lasst diesen absurden Vergleich. Das ist einfach nur falsch.

Kategorie E: die Anfasser*innen

Diese Leute stressen mich am allermeisten und sie werden irgendwann meinen Rollstuhl kaputt machen. Das sind die, die glauben, ich bräuchte keine Rampe, weil sie ja da sind. Diese Held*innen sind sowohl Passant*innen wie auch Bahnfahrer*innen, die sich ohne Vorankündigung die Griffe meines Rollstuhl schnappen und mich in die Bahn heben wollen. Ich habe einen Rollstuhl mit Zusatzantrieb, der sich im E-Modus nicht bewegen Rlässt. Versucht man das mit Gewalt, kann das seinen Tod und für mich die Katastrophe bedeuten. UND SEIT WANN HEBEN WIR MENSCHEN EINFACH HOCH?! Stellt euch das doch mal in jeder anderen Situation vor: Ihr steht an der Kasse, die Kasse schließt und statt euch zu bitten, an die andere Kasse zu gehen, kommt eine wildfremde Person von hinten, packt euch, hebt euch hoch und setzt euch bei der anderen Kasse wieder ab. Das klingt für einige vielleicht erst mal ganz lustig, aber überlegt euch dann, dass das drei Mal am Tag passiert. Wildfremde Leute heben euch im öffentlichen Raum ungefragt einfach hoch und setzen euch woanders wieder ab. Und dann sollt ihr Danke sagen. Oder sie schieben euch ungefragt von a nach b. Ich bin kein Schreibtischstuhl auf Neuköllner Gehwegen!

Ihr alle versaut mir den Tag, ihr Kreativ-Tür-Quetsch-Salzsäulen-Kinderwagen-Vergleichs-Anfasser*innen!

Von Sibel Schick

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ist am 01. Oktober 2017 in Kraft getreten. Seitdem macht die Bundesregierung Netzwerkanbieter wie Facebook, Twitter, YouTube u. a. für die Inhalte verantwortlich, die die Nutzer*innen posten. Wenn Inhalte gemeldet werden, müssen sie innerhalb 24 Stunden geprüft und gelöscht werden, sofern sie gegen deutsche Gesetze oder Gemeinschaftsregeln der Plattformen verstoßen. Allerdings sind es keine Jurist*innen, die diese Inhalte prüfen. Es ist zwar bekannt, dass das Personal bei Facebook dafür geschult wird. Wer die Meldungen bei Twitter überprüft, weiß bisher aber niemand.

©Tine Fetz

Die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) stellte im Januar ihren Gesetzentwurf zur Änderung des Netzwerkdurchsetzunggesetzes vor. Der Entwurf will u. a. alle Telemediendienste zwingen, Daten ihrer Nutzer*innen an Behörden und den Geheimdienst weiterzugeben. Das heißt von Strickanleitungen bis hin zur Haustiervermittlung, von BDSM-Foren bis hin zu Immobilienportalen kann das alle Onlineangebote treffen. Dabei müssen die Nutzer*innen keine Straftaten begehen. Die Daten dürften selbst bei Ordnungswidrigkeiten angefordert werden. Das ist ein Schritt in Richtung des nassesten Traums von Faschist*innen: Überwachungsstaat nach großem „Black Mirror“-Stil, made by SPD.

Spätestens wenn die AfD ihre*n erste*n Bundesinnen- oder -justizminister*in stellt, würden solche Überwachungsgesetze selbstverständlich gegen Schwarze oder jüdische, transgeschlechtliche oder homosexuelle Menschen und Andersdenkende missbraucht werden. Darüber scheint sich die SPD keinerlei Sorgen zu machen. Aber auf wessen Kosten?

Auch wenn heute nicht alle Betreiber die Daten ihrer Nutzer*innen sofort an die Behörden weitergeben möchten, ist es möglich zu ermitteln: So konnten z. B. im Juni 2019 mit großen Razzien in 13 Bundesländern Wohnungen von Personen durchsucht werden, die auf Facebook antisemitische Beleidigungen und öffentliche Aufforderungen zu Straftaten veröffentlicht haben sollen. Auch Twitter kann unter bestimmten Bedingungen dazu gebracht werden, die Daten der Nutzer*innen herauszugeben. Wenn die Behörden dranbleiben, kann also auch heute ermittelt werden, ohne dass Überwachungsgesetze eingeführt werden müssen.

Die Bundesregierung muss zuerst einmal Onlinekriminalität neu denken und neu definieren: Alle Straftaten, die online stattfinden, haben reale Folgen. „Online“ und „Offline“ sind keine klar getrennten Welten. „Hass im Netz“ ist Hass. „Onlinegewalt“ ist Gewalt. Betroffene von Onlinekriminalität sind betroffen, auch nachdem sie das Handy ausmachen und in ihrer Küche einen Tee kochen.

Die Hemmschwelle, online Straftaten zu begehen oder Menschen zu drohen oder zu mobben, ist niedriger, weil das Netz nicht nur von den Täter*innen, sondern auch von der Gesetzgebung als eine Paralleldimension betrachtet wird, in der andere Regeln herrschen.

Mit den neuen technischen Möglichkeiten kommen auch neue Herausforderungen. Z. B. können Trolle im Netz personenbezogene Daten doxen, also unerlaubt veröffentlichen und verbreiten, und zwar auf eine für Außenstehende unverständliche Weise. Einer schreibt bspw. den Klarnamen einer Person, der andere postet den Straßennamen drunter, der Nächste schreibt die Hausnummer. Die ganze Adresse wird so in einer Nachrichtenkette von mehreren Personen veröffentlicht. Das ist eine Straftat, wird aber oft nicht als solche behandelt. Ist das schon „Bildung einer kriminellen Vereinigung“, wenn sich eine Gruppe über Chatgruppen oder Foren für solche Angriffe verabredet und diese dann umsetzt? Die Gesetze sind da. Es fehlt nur an Kenntnis über die Methoden der Täter*innen und die Motivation, hartnäckig zu ermitteln.

Statt über eine Nachbesserung des NetzDG sollte Lambrecht über dessen Abschaffung nachdenken. Wir brauchen bessere Strafverfolgung und angemessene Strafen für die Täter*innen, aber doch nicht, dass Privatunternehmen weiterhin entscheiden sollen, welche Inhalte rassistisch und antisemitisch oder strafrechtlich relevant sind. Seit NetzDG in Kraft getreten ist, wird es von organisierten Trollen vor allem gegen marginalisierte Menschen missbraucht, aber auch gegen Andersdenkende, um sie stillzulegen. Und das funktioniert, weil Privatunternehmen eben nicht zu einer solchen Aufgabe qualifiziert sind. Während Trolle marginalisierte Personen menschenfeindlich beleidigen, ihnen Gewalt androhen, ihre personenbezogenen Daten unerlaubt veröffentlichen und verbreiten, was reale Folgen hat, wie unerwünschte Sendungen oder Hausschmierereien, melden sie sie massenhaft und sorgen für ihre Sperrung. Dieser Terror wird durch NetzDG begünstigt und gar ermöglicht.

Während die Meldungen durch verifizierte Twitter-Accounts ein besonderes Gewicht haben und eher zu Löschungen und Sperrungen führen können, ist es besonders hoffnungslos, verifizierte Accounts erfolgreich zu melden. So darf bspw. der „WELT“-Kolumnist Rainer Mayer (Don Alphonso) weiterhin twittern, obwohl er immer wieder mal Mordfantasien veröffentlicht.

Verdächtig ist auch, dass je mehr Accounts einen Inhalt melden, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Posts oder Accounts gelöscht werden. Da Twitter nicht transparent kommuniziert, wer die Meldungen prüft, ist es denkbar, dass die Löschung ausschließlich durch Algorithmen erfolgt. Wahrscheinlich wird also nicht gelesen, sondern nur gezählt. Wenn Hasskommentare nur von wenigen Accounts gemeldet und nicht entfernt werden, stärkt das den Täter*innen den Rücken und motiviert andere, ihrem Hass freien Lauf zu lassen.

NetzDG entnimmt der Bundesregierung die Verantwortung, Onlinekriminalität mit allen Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen und Täter*innen zu verfolgen, und schiebt die Verantwortung auf unfähige Privatunternehmen. NetzDG ist Augenwischerei.
Wir brauchen weder eine Reform des NetzDG noch Überwachung. Wir brauchen eine Bundesregierung, die die neue und große Rolle, die die Sozialen Netzwerke in unserem Leben spielen, versteht und aus diesem Verständnis heraus effektive Schutz- und Präventionsmaßnahmen entwickelt.

PS: Auch wunderschöne Tweets werden sinnlos gemeldet und gelöscht, und Verfasser*innen werden gesperrt. So wurde z. B. ein Tweet von dem Autor Till Raether unter einem meiner Tweets entfernt und er wurde für zwölf Stunden gesperrt.

Von Christian Schmacht

In Australien brennt es. Die Influencerin Kaylen Ward wollte nicht tatenlos zusehen und bot ihren Twitter-Follower*innen an, im Austausch für Spendenbelege ab einer Höhe von zehn Dollar an Organisationen wie das australische Rote Kreuz oder an das Koala-Krankenhaus ein Nacktfoto von sich zu schicken. Die Spendenaktion ging viral und Ward gab an, mit ihrem nackten Körper eine ganze Million gesammelt zu haben. Ein toller Erfolg, den jedoch nicht alle gleichermaßen feiern wollten.  Neben Backlash, übergriffigen Nachrichten und Stress mit ihren Eltern suspendierte auch noch Instagram alle drei Accounts, die Ward betrieb – obwohl die Aktion lediglich auf Twitter lief. Angeblich habe ihr Verhalten auf Twitter die Richtlinien für Sexualität, welche für Instagram gelten, verletzt.

©Tine Fetz

Noch frecher nimmt sich die Plattform AirBnB heraus, ihre Nutzer*innen moralisch zu bewerten: Anfang des Monats kam heraus, dass AirBnB ein Programm entwickelt hat, welches die Onlinepräsenzen potenzieller Mietgäste überprüfen soll. Neben Persönlichkeitsdiagnosen („Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie“) können auch Punkte verteilt werden, wobei Nutzer*innen, welche auf Fotos mit Drogen, Alkohol und natürlich mit Sexarbeit assoziiert werden, niedrig bewertet werden. Sexarbeiter*innen erfahren schon länger Diskriminierung durch AirBnB, doch diese hat ein neues Ausmaß angenommen. So berichten Pornodarsteller*innen, dass ihre privaten Accounts auf der Plattform gesperrt wurden, obwohl es sich beim Mitwirken in Pornos um eine Form der Sexarbeit handelt, die selbst in den USA legalisiert ist.

Viele von uns Social-Media-Liebhaber*innen sehen unsere politische Tätigkeit im sogenannten Cyberspace verortet, so hieß die weite Welt des Internets in den Jugendromanen meiner Teenagerzeit. Wir diskutieren, agitieren, bilden uns und starten politische Aktionen online. Diskriminierung, gezielte Kampagnen von verbaler Gewalt, Drohungen und Doxxing, vor welchen uns Plattformen wie Twitter nicht schützen wollen, sind Formen der Kontrolle, die andere User*innen auf uns ausüben. Doch auch die Plattformen selber kontrollieren unser Verhalten. Wie ein konservativer, pädagogischer Auftrag legen sich Regelungen zu Sexualität und Körpern über unseren Output. 

Sexarbeiter*innen haben viele Trends und Neuentwicklungen, die in Popkultur und Vanilla Mainstream übergingen, erfunden oder sie als Erste beschritten. Ein Beispiel ist die JenniCam, mit der Jennifer Ringley von 1996 bis 2003 Bilder aus ihrem Schlafzimmer ins Internet übertrug. Als Vorläuferin späterer Camgirls gelang es ihr, mit Bezahlzugängen für Fans, ein Einkommen aus dieser Liveübertragung zu generieren. Die JenniCam ging offline, als PayPal 2003 Ringleys Account sperrte, da Einkünfte aus dem Verkauf von Nacktbildern nicht mehr geduldet wurden. Big Brother, familienfreundlichere und international zum Kult gewordene TV-Version der JenniCam, erblickte 1997 das Licht der Welt und kam erst im Jahr 2000 ins deutsche Fernsehen und in mein Teenagerleben. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Künstlerin und Cam-Performerin Ringley längst neue Debatten um Technologie und Geschlecht angestoßen. 

Avantgardist*innen wie Jennifer Ringley sowie Wald-und-Wiesen-Sexarbeiter*innen heute werden vom Cyberspace betrogen. Plattformen, die ohne uns keine Bedeutung erlangt hätten, kicken uns raus, nur um dann selbst zurück in die Versenkung zu fallen. So geschehen mit Tumblr – ohne Pornos verlor die einst ikonische Plattform 30 Prozent ihres Traffics. Auch Banken und Bezahlsysteme lassen uns fallen, wenn sie mitkriegen, woher unsere Einnahmen wirklich gekommen sind. Haben wir Pech, behalten sie auch noch unsere Kohle ein.

Wir haben nicht nur bei den Trends die Nase vorn, sondern leider auch beim Thema Unterdrückung. So hatte FOSTA/SESTA, ein explizit auf Internetpräsenzen von Sexarbeiter*innen und zum Austausch über Sexarbeit ausgelegtes Gesetz in den USA seit seiner Einführung schon zu viele Sexarbeiter*innen auf dem Gewissen. Vorgeblich um das sogenannte Trafficking zu bekämpfen, zwang es die bereits illegalisierten Arbeiter*innen, im US-Kontext noch unsicherer und gefährlicher zu arbeiten. Wie viele Gewalttäter*innen dadurch einfacheren Zugang zu Sexarbeiter*innen bekommen haben, wie viele schon ermordet worden sind, wissen wir nicht genau.

Als Kanarienvögel der gesellschaftlichen Stimmung merken wir früh, wenn die Luft dünn wird. Sexarbeiter*innen bringen einander bei, wie wir uns online im „Closet“, also ungeoutet, bewegen können und dennoch unsere Dienste an den Menschen bringen können. Abschaffen oder verbieten kann uns niemand. Doch selbst für die Rettung der Koalabärchen ist unser Geld zu schmutzig.

Kaylen Ward war mit ihrem Körpereinsatz für die australische Brandkatastrophe natürlich nicht die Erste, die mit Sexarbeit der Welt etwas Gutes tat. Die gleiche Aktion führten ich und eine weitere trans Sexarbeiterin (wir waren natürlich auch nicht die Ersten!) im Herbst 2019 durch. Wir verlangten von unseren durstigen Fans Spendenbelege für den kurdischen Roten Halbmond und ähnliche Organisationen, die die Befreiungsbewegung in Rojava z. B. mit medizinischer Hilfe versorgten. Wir bekamen über 600 Euro zusammen und entgingen der Sperrung. Vielleicht, weil ich kein aktives Instagramprofil habe oder vielleicht, weil wir nicht viral gingen wie Ward. Kurdische Twitteraccounts wiederum, die sich türkeikritisch äußerten oder über den Krieg Bericht erstatteten, sahen sich Sperrungen und Shadowbans ausgesetzt, ohne irgendwas mit Sexarbeit am Hut zu haben. Twitter nahm auch hier die Seite der Mächtigen ein und ließ nationalistische Accounts in Ruhe.

Wir lernen daraus ein ums andere Mal: Plattformen, die nicht in unserer Hand sind, haben uns in der Hand. 

Von Josephine Apraku

Ja, ich weiß, zuerst schreibe ich, dass ich keine Neujahrsvorsätze mag, und dann gibt es gleich zwei Kolumnen mit Vorsätzen. Ich möchte aber anbringen: Es sind ja nicht die gängigen Vorsätze, sondern feministische Elternvorsätze, die mich persönlich zur Selbstreflexion inspirieren – nur deshalb ist das in Ordnung!
Ein weiterer Vorsatz von mir ist übrigens, mich vertieft mit Adultismus zu beschäftigen und meinen eigenen Adultismus zu reflektieren. Erwachsene sind Kindern und jungen Menschen gegenüber erschreckend übergriffig und unterdrückerisch – ich möchte so als Mama nicht sein. Ich betrachte Liebe – auch die zu meinem Kind – als widerständige Praxis. Deshalb möchte ich in meiner Beziehung zum Kind eine adultismuskritische Haltung entwickeln und diese als festen Bestandteil meiner Beziehungsarbeit begreifen und leben.

©Tine Fetz

Ich will bewusst auf mein Bauchgefühl hören, um meine Beziehung zu meinem Baby zu definieren und zu leben. Mich gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenzuschreibungen von einer selbstlosen und aufopferungsvollen guten Mutter widersetzen. Mich selbst stets daran erinnern, dass mein Kind neben mir ein weiteres Elternteil hat.
Jule Bönkost

Weiter hartnäckig für mehr Sichtbarkeit & Unterstützung von queeren alleinerziehenden Eltern und (ihren) Teenagern kämpfen. Elternschaft hört nicht auf, wenn die Kinder in die Schule kommen. Im Gegenteil. Eltern-Kind-Beziehungen werden komplexer und gerade auch durch die Schule oft gestört. Das aktuelle Schulsystem macht Kinder kaputt und muss mindestens diskriminierungskritisch überarbeitet und dekolonialisiert werden.
– Kristin, Kulturwissenschaftlerin, lone mylf & Mitbegründerin von brausemag.de

Ich werde Angst haben, gestresst sein und ziemlich sicher wird mir suggeriert werden, dass ich es doch anders, besser und noch selbstloser machen kann. Ich muss auch dann nicht perfekt sein, kann ich nämlich gar nicht. Ich und er wollen nur das Beste für den neuen Menschen. Wenn das bedeutet, dass ich den nächsten Arbeitsvertrag unterschreibe und er den Haushalt managt, dann ist das okay. Es ist okay.
Laura Kübke

Meine Tochter sagt über mich, „du bist mir ein Vorbild in Sachen Liebe und Wertschätzung gegenüber anderen Menschen“. Das möchte ich insbesondere mit Blick auf eine intersektionale feministische Perspektive weiterhin sein.
Melody Laverne Bettencourt, Schwarze Deutsche, bildende Künstlerin

Als Mutter einer 23-Jährigen ist mein Vorsatz fürs kommende Jahr noch besser zu realisieren, da meine Tochter kein Kind, sondern eine junge Frau ist. Ich nehme mir vor, ihr beizustehen, falls sie mich braucht, aber mich nicht aufzudrängen. Ich hoffe, es gelingt mir, Sachen, die sie anders macht, als ich es tun würde, unbewertet stehen zu lassen und mich daran zu erinnern, dass sie es schon richtig machen wird.
Nivedita, Mutter einer 23-Jährigen, Berlin

Im Bezug auf feministische Vorsätze würde ich sagen, dass ich ihnen weiterhin eine kritische Freundin und Mutter sein möchte. Sie auf ihrem Weg unterstütze, schwierige Entscheidungen selbstbewusst und unerschrocken zu treffen. Ich wünsche mir für sie vieles, aber im Wesentlichen, dass sie mit offenem Blick die Welt erleben. Weich und tough gleichzeitig sein können und in der Lage sind, über sich und die Beziehungen, die sie führen, nachzudenken und reden zu können.
Sandra lebt mit ihren Kindern in Bonn, ist Schwarze Aktivistin und Antidiskriminierungsberaterin

Mein Vorsatz für 2020 ist es, das Umfeld meines Sohnes, wie z. B. meinen Vater (Jahrgang 1948), dafür zu sensibilisieren, dass auf spezifische Geschlechterzuschreibungen in Form von farbcodierten (= blauen) Kleidungsstücken verzichtet werden soll.
Dies soll das binäre und hegemoniale (männliche) Geschlechterrollendenken bei unserem Sohn verhindern.
Shai Hoffmann, Sozialunternehmer und Aktivist

Ich möchte mich zuallererst und endlich kritisch mit meinem Männlich-Sozialisiertsein auseinandersetzen und mir meine Privilegien in einer patriarchalen Gesellschaft besser bewusst machen. So möchte ich einen Weg zum solidarischen Handeln in unterschiedlichen Lebensbereichen finden. Die gewonnenen Erkenntnisse möchte ich zum einen selbst nutzen und auch versuchen, an mein Kind heranzutragen.
Tobi, akademisierter Arbeitsloser und Papa

Mein Vorsatz ist, verstärkt Momente, Räume und Platz zu schaffen für feministische self-care. Nicht nur Zeit für mich, in denen ich es mir gut gehen lasse, sondern Zeit, die ich nutze, um mein Schwarzes feministisches Selbst – in genau dieser intersektionalen Verschränkung – zu stärken, zu nähren und zu feiern. Das können Gespräche, Bücher, Events, Retreats oder auch Demonstrationen sein.
Tupoka Ogette

Von Debora Antmann

Zunächst einmal nachträglich an alle: Happy Hanukkah!
Aber weil es euch vermutlich nicht entgangen ist und auch ich mich dem christlichen Kalender nicht entziehen kann: Zeitgleich war auch dieses nervenaufreibende Fest namens Weihnachten. Und wie jedes Jahr scheint dieses Event nicht denkbar ohne erheblichen emotionalen Rummel.

Weihnachten am Rande des Nervenzusammenbruchs
Alle Jahre wieder pilgern alle wie selbstverständlich zu ihren Familien, als sei es eine Art gottgegebener Zwang. Egal, wie schwierig das Verhältnis ist. Und die Sozialen Medien sind dann voll von diesem Leid. Der Rest, der sich das nicht antut, hält sich wahrscheinlich bis 31.12. raus oder so. Und ich will nicht sagen, dass der Struggle nicht real ist. Ich weiß, dass z. B. gerade für Queers Familienzusammenkünfte die normative Hölle sein können, aber diese Weihnachtsselbstkasteiung hat noch mal eine ganz andere Qualität: 
Dieses ganze Weihnachtsdrama, das sich innerhalb und außerhalb der Sozialen Medien aufbaut, dass besondere Hilfsangebote konzipiert werden, dass alle durchdrehen, weil sie zur Familie „müssen“ oder weil sie nicht gehen und deswegen nervlich am Ende sind, das alles, diese ganze Überhöhung von Weihnachten und wie wir das in feministischen und queeren Kontexten reproduzieren, ist – falls ihr das noch nicht wusstet – christlich-normativer Bullshit! Wie gesagt, ich sage nicht, dass der Schmerz nicht real ist, aber ich sage schon, wir befeuern ihn auch mächtig und reproduzieren hier gleichzeitig ordentlich. Ich habe noch nie erlebt, dass für Pessach oder Opferfest reihenweise DMs auf Twitter geöffnet wurden, aber dazu später mehr. Dieser Ausnahmezustand jedes Jahr ist Teil christlicher (Leidens-)Kultur. Auch die damit einhergehende Überhöhung von „biologischer Familie“ ist ein sehr weißes und sehr christliches Konzept.

©Tine Fetz

Gesellschaftskritik an Weihnachten ist für wc*-Deutsche Volksverhetzung
Doch das ist nur ein Teil des (emotionalen) Problems. Denn wenn marginalisierte Positionen, die nicht christlich sozialisiert sind, um die Weihnachtszeit herum darauf hinweisen, wie belastend genau diese Zeit ist, weil man mit christlicher Normativität quasi erschlagen und emotional unter Druck gesetzt wird, werden wc-Deutsche rasend. Erzählt eine Jüdin, wie belastend Nikolaus als Kind für sie war, weil im Gegensatz zu Weihnachten zu diesem Zeitpunkt noch alle Kids in der Schule sind und nix abgefangen wird: WUT. Wird darauf hingewiesen, vielleicht lieber „fröhliche Feiertage“ statt „fröhliche Weihnachten“ zu wünschen: WUT. Weist man auf die Überemotionalisierung von Weihnachten hin: WUT. Das Problem, abgesehen davon, dass hier die Dominazkultur ordentlich kickt, ist vor allem, dass wir hier in eine Schiene geraten, der sich auch die Rechte bedient: die Verteidigung „der abendländischen Kultur“. Gerade die Panik um Weihnachten wird genutzt für rechte Propaganda. Hier hervorragend zusammengetragen von den „Belltower News“. Weihnachten nicht als Norm zu setzen und damit nicht ständig ohnehin schon marginalisierte Menschen zu othern, nimmt niemandem etwas weg. Im Gegenteil, es schafft mehr Raum statt weniger. Niemand muss auf Weihnachten verzichten.

Universalisierung von Trauer und Schmerz
Natürlich wird Menschen, die nicht christlich sozialisiert sind und die auf die Überemotionalisierung von Weihnachten (und ja, hat bestimmt nix damit zu tun, dass Jesus an dem Tag geboren wurde) hinweisen, seit Jahrzehnten unterstellt, sie hätten nie Verluste und Schmerz erfahren (jede Person, die meine Arbeit ein bisschen verfolgt, weiß, dass das weit weg von meiner Lebensrealität ist) oder ihnen wird vorgeworfen, sie seien empathielos, gefühlskalt, arrogant. Und ich wiederhole noch mal: Ich spreche niemandem den eigenen Schmerz ab. BUT: Es muss Teil feministischer Praxis werden, diesen Weihnachtsschmerz kritisch zu reflektieren. Denn auch wenn der Schmerz natürlich ein individueller ist und valide, in seiner Form ist er das nicht, auch wenn das schwer zu ertragen ist. Denn natürlich ist es Teil christlicher Narrative, dass wir davon ausgehen, dass Leid, Trauer, Schmerz, Einsamkeit an Weihnachten besonders zum Tragen kommen. Deswegen wird an diesen Tagen mehr gespendet als im restlichen Jahr. Das Problem ist die Annahme, dass dies in irgendeiner Form universell wäre. Und wc-Deutsche ertragen den Gedanken einfach nicht, dass es nicht so ist.
Leute, die nicht christlich sozialisiert sind, drehen zu Weihnachten nur nicht so emotional ab, vielleicht tun sie es nicht mal an anderen Feiertagen, weil der Umgang mit Tod, Trauer, Verlust, Schmerz, Familie, Entfernung ein anderer ist und eine andere Tradition hat. Das heißt, nicht nur die Überemotionalisierung von Weihnachten ist ein christliches Ding, vielleicht sogar die Überemotionalisierung von Feiertagen generell. Weil man es sich leisten kann. Schon mal darüber nachgedacht? Wir haben andere Dinge, bei denen wir emotional abgehen – versprochen, aber das was ihr an Weihnachten empfindet, ist nicht universell. It’s not our cup of tea. Und ihr müsst aufhören, so zu tun, denn wenn uns die Geschichte eines gelehrt hat, dann, dass der Glaube an christlichen Universalismus vor allem eines ist: toxisch.

The Pressure is High!
Jetzt könntet ihr natürlich sagen, dann ignoriert uns doch einfach, zwingt euch ja keiner. Habt ihr schon mal versucht Dominanzkultur zu ignorieren? Sie wäre keine Dominanzkultur, wenn sie das zulassen würde. Und das Gemeine mit dem Weihnachtsemo-Drama ist, dass es so selbstverständlich, raumerfüllend, übergriffig ist – selbst in unseren feministischen Communitys, dass du dich nicht entziehen kannst. Es fängt mit der Frage an, was du an Weihnachten machst, und wenn du „nix“ sagst, alle dich zu sich einladen wollen, weil es gar keine Vorstellung davon gibt, dass es dir nicht doch zumindest in der hintersten Ecke deines Herzens ein kleines bisschen wehtut, dass du Weihnachten alleine verbringst. Und wenn dir das über fünf, sechs Jahre 20 bis 25 Mal passiert, bist du dir irgendwann selbst nicht mehr so sicher, weil der (Assimilations-)Druck so hoch ist, dass es dich gefälligst zu schmerzen hat. Wenn deine Bubble erfüllt ist von Support-Angeboten und Zuspruch und du dich plötzlich schlecht fühlst, dass du an Weihnachten nicht deine helfende Hand für all die leidenden Queers ausstreckst, die gezwungen werden, die Feiertage mit ihren Familien zu verbringen, und du die Qualen quasi schmecken kannst und dir erst dann auffällt, wer diese leidenden Queers sind, weiße christlich sozialisierte Queers, die an Weihnachten nach Hause fahren. Und niemand fragt: „Warum?“. Scheinbar ein Naturgesetz. Es ist legitim, das zu tun, zu Eltern und Familie zu fahren, sich den Mist zu geben, aber diese Leidenserzählung dazu ist halt ein krasses christliches Narrativ, denn offensichtlich wäre es noch schlimmer, Weihnachten alleine zu Hause zu verbringen, und das ist ja mal christlicher Bullshit. Aber es produziert diesen wabernden (Leidens-)Druck, der so allumfassend ist, dass es selbst für nicht-christlich Sozialisierte manchmal schwer ist zu verstehen, was da gerade passiert und warum man bestimmt Dinge gerade tut, die nix mit einem selbst zu tun haben, die sich eher ritualisiert als emotional anfühlen, aber der Druck ist hoch und Weihnachten ist ein Minenfeld, in dem man sowieso nur alles falsch machen kann, wenn man als nicht-christlich sozialisiertes, als „fremdes“ Kind hier aufwächst.

Weihnachten ist ein toxischer wc-Zirkus, der zur Raubtier-Show wird, wenn man wagt, das laut auszusprechen!

*wc= weiß, christlich sozialisiert

Von Debora Antmann

Als ich die Mail bekam, war mir gleich klar, dass da etwas nicht ganz koscher sein kann und ich habe direkt zum Telefon gegriffen. Das neue Projekt des Zentralrats der Juden heißt „Schalom Aleikum“. Stolz wird der Projektname in der Mail präsentiert, die mich als „Botschafter“ werben will. Dass der Zentralrat nicht viel von gendergerechter Sprache hält, ist nicht neu. Aber was er hier gemacht hat, geht noch weiter. Er hat sich auf ein Frauenprojekt draufgesetzt. „Schalom Aleikum“, das ECHTE „Schalom Aleikum – als Freundin hinzufügen“ ist ein Projekt des Frauen-Onlinemagazins „AVIVA-Berlin“.

©Tine Fetz

Ein Dialogprojekt, das jüdische und muslimische Frauen unterschiedlichen Alters zusammengebracht und ihnen die Möglichkeit gegeben hat, in journalistischen Workshops ihre Erfahrungen gemeinsam festzuhalten. Neben den Artikeln auf „AVIVA-Berlin“ ist auch ein toller kleiner Band entstanden. Außerdem ein Song von zwei Teilnehmerinnen und Freundinnenschaften. Es ist ein wundervolles Projekt, das viele noch kennen und lieben, obwohl es schon ein paar Jahre her ist. Sharon Adler, die Gründerin und Herausgeberin von „AVIVA-Berlin“, hat damals in mühevoller Arbeit die Förderung durch die Heinrich-Böll-Stiftung aquiriert und die Frauen in ihrem eigenen Wohnzimmer gematcht. Wie Sharon das damals neben allem anderen geschafft hat, weiß ich nicht, aber dieses Projekt war ihre Herzensangelegenheit. Wer braucht da schon Schlaf  …

Natürlich habe ich sie sofort angerufen. Verwirrt und schon das schlimmste ahnend. Und es bestätigte sich: Der Zentralrat hat sie für sein Prestigeprojekt natürlich nicht mit ins Boot geholt, nicht mal angefragt oder überhaupt informiert. Stattdessen ohne jeglichen Verweis auf Sharons Vorreiterinnenprojekt ein Projekt mit dem gleichen Namen aufgezogen. Und nicht nur der Name ist gleich, auch die Beschreibung: ein jüdisch-muslimisches Dialogprojekt. Einmal alles mitgenommen, das erspart Arbeit. Reicht ja auch, wenn Sharon die hatte (Sarkasmus off). Auf der Facebook-Seite des Knock-off-Projekts: jede Menge Männer in Anzügen. Schicke Konferenzen. Fancy Buffets. Gut durchfinanziert. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Auf der einen Seite eine engagierte einzelne jüdische Feministin mit kleiner Förderung durch eine Stiftung, auf der anderen Seite die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration als Förderin und die Mittel des Zentralrats dazu.

Das klassische Schicksal von Frauenprojekten: von männerdominierten Institutionen geschluckt. Das passiert auch in jüdischen Kontexten nicht anders. Und so stellt sich ein konservativer Zentralrat hin und lässt sich feiern für ein Projekt, wo weder dessen Idee noch dessen Name aus der eigenen Feder stammt. Ich verzichte auf Begriffe wie „geklaut“, weil wir schon immer noch von einer jüdischen Institution sprechen und ich hier keine antisemitischen Debatten befeuern muss. Aber ich kann euch versichern, ohne öffentliche Verantwortung hätte ich weniger diplomatische Dinge zu sagen, denn der Move ist und bleibt beschissen. Da passt es auch perfekt ins Bild, dass der Zentralrat sich auch für dieses Projekt weigert, auf das generische Maskulinum zu verzichten und feministische Millennials in unpersönlichen Mails als „Botschafter“ anfragt, um die eigene Reichweite zu pushen.

Es macht mich so wütend, weil der Zentralrat – der dafür bekannt ist, durchaus antimuslimischen Rassismus zu befeuern, extrem konservativ ist und in der Vergangenheit weder Frauen, geschweige denn Feminismus oder LGBTQ-Themen auf der Agenda hatte – mit seinem Counterfeit-„Schalom Aleikum“ das Toleranzfähnchen schwingt und dabei auch gleich ein paar Millennials abstauben will (sehr erfolglos hoffentlich, weil die wenigsten sich sonderlich von Typen in Anzügen beeindrucken lassen). Und das Ganze auf Kosten eines feministischen Dialogprojekts einer lesbischen Jüdin, die uns mit ihrem jahrelangen Engagement TATSÄCHLICH die Türen zu einem diverseren und intersektionaleren jüdischen Dialog geöffnet hat. Es ist das jüdische Abziehbildchen von Gesellschaftsverhältnissen.

Und ja, natürlich habe ich das Fake-„Schalom Aleikum“ Projekt angeschrieben und die Antwort war so lächerlich, dass mir die Person auf der anderen Seite fast leid getan hat, die mir versichert hat, dass sie persönlich „AVIVA-Berlin“ ganz toll findet. Hm. Okay.

Ich habe Sharon versprochen, dass wir das nicht so stehen lassen. Das zeichnet uns als Feminist*innen schließlich aus – dass wir unbequem sind. Auch gegenüber einem Zentralrat, der es offensichtlich okay findet, für die öffentliche Wirksamkeit feministische Grassroots-Projekte zu vereinnahmen. Die Herausforderung wird sein, den Frust und die Wut öffentlich zu machen, ohne sich Antisemitismus mit ins Boot zu holen. Und wer sagt, wir können „unseren eigenen Leuten nicht ans Bein pinkeln“: Der Zentralrat ist eine Institution, die beschlossen hat, sich an der Arbeit in der eigenen Community zu bedienen, ohne auch nur Credits dafür zu benennen. Das unkommentiert stehen zu lassen, wäre der eigentliche Verrat an der Community. Aktivist*innen wie Sharon brauchen wir mindestens genauso dringend wie einen Zentralrat der Juden. Projekte wie das Orginal-„Schalom Aleikum“ könnten aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte so viel mehr bewirken als das sterile „Schalom Aleikum“-Imitat. Das Problem sind die Ressourcen und wer am Ende die Lorbeeren bekommt und wer vergessen und verdrängt und übermalt wird. Es ist unsere Aufgabe, Community-Arbeit sichtbar bleiben zu lassen. Egal, wie schnieke das Branding des Fake-„Schalom Aleikum“s ist. Und wir müssen den Zentralrat öffentlich dafür kritisieren, wie er mit dem Engagement in der eigenen Community umgeht und wie er in diesem Fall jüdisch-feministisches Engagement sogar erased.
Gibt man bei Google nur „Schalom Aleikum“ ohne den Zusatz „als Freundin hinzufügen“ ein, erscheint nur noch das Projekt des Zentralrats. Well done …

Deswegen für euch noch mal die wichtigsten Links zu „Schalom Aleikum – als Freundin hinzufügen“:

Von Debora Antmann

Ich schreibe heute über Halle. Es reicht, „Halle“ zu hören, und ihr wisst alle, wovon ich rede. Es scheint ein später Beitrag. Die Schlagzeilen sind inzwischen wieder gefüllt von anderen Dingen. AfD-Wahlergebnissen, Brexit, Trump. Alle namenhaften Stimmen haben ihre Beiträge zu Halle verfasst, Politiker*innen sind ihre Floskeln losgeworden und nun komme ich. Lasse euch nicht in Ruhe. Werde noch einmal bohren. Noch einmal einen dieser jüdischen Texte schreiben, die euch mahnen, die euch die Augen öffnen sollen.

Ich weiß nicht, ob es mehr Sinn macht, euch die Wut und den Schmerz entgegenzuschleudern, euch aus eurem Schlaf wachzurütteln, euch anzuschreien oder euch in sachlicher Distanz zu erklären, was wir euch schon zigmal erklärt haben. Beides scheint ihr nicht zu mögen. Beides scheint nichts zu bringen. Beides verhallt irgendwo zwischen damals, heute und nie wieder. Zwischen rechtpopulistischer Abgestumpftheit, neoliberaler Gleichgültigkeit, dominanter Ignoranz. Jüd*innen versuchen zu erklären, Bedrohungen von jüdischem Leben sichtbar zu machen, nicht erst seit Halle, seit Jahrzehnten und niemand hört zu.

© Tine Fetz

Die Reaktionen nach Halle waren durchtränkt von verschrobenen Realitäten, verzerrten Wahrnehmungen und verklärten Erzählungen. Dabei waren es besonders vier Narrative, die sich immer und immer wieder in den Wogen der Anteilnahme abspulten, bedient von jenen, die es gut meinten und im Grunde Teil eines größeren, DES Problems sind.

Nie wieder vs. die ganze Zeit

Für viele schien unfassbar, was in Halle passiert ist. Unvorstellbar. Das waren die Formulierungen. Eine Person, mit der ich befreundet bin, eine Person, die in einem Land mit Terror und Krieg aufgewachsen ist, schrieb mir, dass ich mich melden könne, weil sie unglücklicherweise Expert*in für solche Situationen sei. Ich verrate euch etwas: Jüd*innen, die in Deutschland aufgewachsen sind, sind Expert*innen für diese Situationen, denn nix, was in Halle passiert ist, ist unfassbar oder unvorstellbar. Es passiert die ganze Zeit. Fast wöchentlich werden in Deutschland Synagogen und jüdische Friedhöfe angegriffen, kommt es zu antisemitischen Übergriffen. Auch bewaffneten. Nur fünf Tage vor Halle überwältigte die Polizei einen mit einem Messer bewaffneten Mann, der versuchte, in die Neue Synagoge in Berlin einzudringen.

Es ist auch nicht das erste Mal, dass Sprengsätze auf einen jüdischen Friedhof geworfen werden oder Molotowcocktails auf Synagogen. Freund*innen und Familienmitglieder, die bedroht und angegriffen werden. Alles in Deutschland. Alles vor eurer Nase. Wir wachsen damit auf, sind Expert*innen für die Bedrohungen, aber ihr hört nicht zu. Seid schockiert. Findet alles unfassbar und unvorstellbar, während wir keine andere Möglichkeit haben, als zu fassen und nicht vorstellen müssen, weil es unsere Realität ist.

Ihr ruft „Nie wieder“, während es die ganze Zeit passiert. Ihr schaut nur nicht hin, lauft dran vorbei, könnt es euch leisten, kurz geschockt zu sein und dann in euren eigenen Alltag zurückzukehren, wo man kaum glauben kann, dass Menschen zu so etwas in der Lage sind. Aber es ist da, real und schwebt wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen, bis es zuschlägt. Nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern letzte Woche, heute und wahrscheinlich nächste Woche wieder. Es sind nur nicht eure Köpfe, die rollen.

Wir alle vs. keiner von euch

Und während alle so geschockt sind, werden die ersten Stimmen laut: „Das war ein Angriff gegen uns alle!“ Falsch verstandene Solidarität, das Unkenntlichmachen von Realität. Es war kein Angriff gegen alle. Das zu behaupten, macht die Gefahr unsichtbar, in der sich einige von uns befinden, macht auch die Verantwortung jener unsichtbar, die nicht in Gefahr sind.

Es ist dieser Jesus-Komplex, diese Opferglorifizierung, von allem immer möglichst betroffen sein zu wollen, aber dieser Nazi wollte nicht alle deutschen Bürger*innen töten. Er wollte keine deutschen Bürger*innen töten (auch wenn er es getan hat). Er wollte Jüd*innen und PoCs töten. Und damit ist er nicht allein! Dahinter steht eine Struktur, ein Ungleichheitssystem. Und auch, wenn nicht alle Menschen Waffen bauen und losziehen, um eine Synagoge zu stürmen, tun die wenigsten von euch etwas gegen diese Ungleichheitssysteme, weil sie sie nicht spüren, weil sich diese Systeme nicht gegen sie richten, weil sie eben nicht gemeint sind.

Es war kein Angriff aus einem luftleeren Raum heraus. Der Raum ist gefüllt mit Rassismus und Antisemitismus. Und wie Schwermetalle treibt dieser Antisemitismus leider auch in den Adern jener, die glauben, sie gehören zu den guten, weil sie Müll trennen. Nur wer zu verklärt, unfassbar privilegiert, absolut selbstbezogen und zu gut eingebettet in Dominanzkultur ist, kann glauben, es sei solidarisch zu behaupten, wir wären alle gemeint gewesen. Wer realistisch, kritisch und ehrlich solidarisch sein will, steht jenen bei, die tatsächlich gemeint sind: Jüd*innen und PoCs – statt sich um sich selbst zu drehen. Denn von euch soll keine*r getötet werden. Ihr steht nicht auf den Abschusslisten.

#NotAllGermans vs. eine ganze verdammte Gesellschaft

Und wie nicht anders zu erwarten war, fingen wc-Deutsche nach Halle auch sehr schnell an, „Nicht alle Deutschen #NotAllGermans!!!“ zu rufen, wenn sie das Gefühl hatten, sie kämen bei der Strukturkritik von Jüd*innen und PoCs nicht gut genug weg. An erster Stelle steht nämlich dann doch immer die eigene Ehre und nicht die Selbstkritik.

Und wir mussten Strukturkritik üben und müssen es noch, auch wenn sie niemand hören will, denn die (Sozialen) Medien sind voll von Zeugnissen, die deutlich machen, dass es kein Bewusstsein für die eigene Rolle in dem Geschehenen gibt. Dass Antisemitismus nicht als Gesellschaftsproblem und Alltagsphänomen verstanden wird. Dass es etwas mit uns allen zu tun hat. „Wie gut, dass sich der Großteil unserer Gesellschaft von solchen steinzeitlichen Gedanken gelöst hat“ – solche und ähnliche Sätze waren zu lesen, nachdem die Ideen und Motive vom Attentäter von Halle und Zitate seiner Mutter öffentlich wurden.

Aber genauso wenig, wie der Attentäter ein Einzeltäter war, ist die Mehrheit der Gesellschaft befreit von antisemitischem Gedankengut. Antisemitisch ist nicht nur die brennende Synagoge. Es sind Bilder, Motive, Fragen, Annahmen, Gedanken, Assoziationen, Verbindungen, Zusammenhänge, Worte, Begriffe, Selbstverständlichkeiten in deinem Kopf, derer du dir nicht bewusst bist, doch sie sind da, glaube mir.

Wer glaubt, ein Großteil der Gesellschaft hätte antisemitisches Denken überwunden, wer glaubt, Antisemitismus als Gesellschaftsproblem sei ein Relikt vergangener Zeiten, wer ernsthaft glaubt, deutsches Kulturgut wäre nicht so gut tradiert, dass es in tausend Dingen ungesehen weiter wächst, wer behauptet, er hätte in seinem Leben nicht schon etliche Male antisemitische Dinge gesagt und reproduziert, der trägt vielleicht keine Waffe, aber trägt dazu bei, dass diese Gesellschaft gefährlich für uns bleibt.

Aber statt das zu sehen und zu hören, statt UNS zu sehen und zu hören, statt anzuerkennen, dass Antisemitismus in seiner Extremstform Nährboden bekommt durch eine Gesellschaft und Individuen, die nicht bereit sind anzuerkennen, dass wir ein flächendeckendes Problem haben, warfen alle die Hände in die Luft und riefen, „Ich nicht!“, „Nicht alle Deutschen!“, „Ihr könnt nicht alle über einen Kamm scheren!“, „‚Die Deutschen‘ zu sagen ist im Grunde das Gleiche, was mit euch gemacht wird“, „Wir versuchen, euch zu unterstützen, und ihr verallgemeinert uns“, „#NotAllGermans“!

Und deswegen: Doch, diese ganze verdammte Gesellschaft! All fucking Germans sind mitverantwortlich für das, was passiert ist! 

Mitbürger*innen vs. Bürger*innen

Wenn dann alle ganz unfassbar entsetzt über das unglaubliche Geschehen waren, das uns alle gemeint hat, aber für das nicht alle Deutschen verantwortlich sind, dann ist das der perfekte Zeitpunkt, um am Ende das zu tun, was wc-Deutsche am besten können, sprachlich noch mal fix zu exkludieren und doch noch mal kurz zu verstehen geben, wer hier EIGENTLICH das deutsche Volk ist. „Wer unsere jüdischen Mitbürger angreift, greift uns alle an“ oder so ähnlich.

Ich weiß nicht, ob es euch schon aufgefallen ist, aber uns schon und zwar vor Langem: MITbürger*innen heißt es immer nur, wenn es um die Add-ons zur „Normalbevölkerung“ geht. Fein säuberlich sprachlich getrennt und separiert.

Es sind die deutschen Bürger*innen, aber die jüdischen/muslimischen MITbürger*innen. Sprachlich getrennt vom restlichen Volkskörper. Selbst im Schock, selbst im Versuch, die Gemeinschaft zu mimen, will es nicht gelingen, weil da sind die Deutschen und da sind wir – die Zusätzlichen. Die Anderen. Mit Glück, in diesen Stunden: die Tolerierten.

Und dann immer diese Possessivpronomen. Wir sind EURE jüdischen MITbürger*innen. In den Besitzansprüchen gegenüber Jüd*innen waren Deutsche schon immer sehr klar. Es ist absurd, Gemeinschaft performen zu wollen und dabei auf Formeln zurückzugreifen, die zu Recht schon so lange wegen Othering in der Kritik stehen, meine lieben deutschen Mitbürger*innen.

Ihr bekommt nicht mit, was ihr tut, und das ist ein Problem. Denn nicht nur der versuchte Massenmord von Halle ist erschreckender Ausdruck dessen, was falsch in unserer Gesellschaft läuft, sondern leider auch 95 Prozent der Reaktionen auf das Attentat.

Vor allem, weil ihr glaubt, sie seien einfühlsam und solidarisch, und ihr nur pikiert reagiert, wenn wir euch sagen, sie sind es nicht und das Problem ist ihnen inhärent. Ihr glaubt, „gut gemeint“ reicht. Erwartet, dass eure Intension mehr wiegt als der Fakt, dass ihr mit euren geliebten Phrasen das Problem verschärft, multipliziert, potenziert, und seht dabei nicht, dass wir schon vor Halle wund waren, Halle eine weitere, tiefe, klaffende Wunde in unser Fleisch gerissen hat, und ihr mit euren „Unfassbar“ und „Wir alle“ und „NotAllGermans“ und „Mitbürger“ auch noch Säure hineingießt und mit eurer Abwehr mit Salz garniert.

Halle wird zu einem Wikipedia-Eintrag verrauchen und ihr werdet nix gelernt haben, es wird sich nichts verändern. Die Realität wird nicht weniger bedrohlich für uns Jüd*innen, eher im Gegenteil. Ihr werdet davon weiterhin nichts mitbekommen (wollen) und damit die Gefahr befeuern und dann bei der nächsten unübersehbaren Eskalation (dazwischen wird es viele gegeben haben) wieder überrascht mit erhobenen Händen eure Floskeln in den Raum blasen, um gegenseitig eure Gemüter zu beruhigen, bis auch davon nur ein Wikipedia-Artikel bleibt.

Von Debora Antmann

„Oberpetze!“ Ich fühle mich wie auf dem Schulhof, stattdessen sind es Mitte 40- bis Mitte 60-Jährige, die mir das Wort entgegenspucken. „Oberpetze! Du weißt ganz genau, was du getan hast!“ Ich gebe zu, ich habe erst mal keine Ahnung, was ich gemacht haben soll. Aber nach etwa einer halben Stunde dämmert mir, was hier passiert ist.

Ich bin auf Reha. Seit nun etlichen Wochen lerne ich wieder laufen und ungefähr so lange wie ich ist auch der Inbegriff der toxischen Männlichkeit hier. Die toxische Männlichkeit ist ein Typ, der gerne mit dem motorisierten Grund angibt, wegen dem er hier ist, und PERMANENT seine mobilen Lautsprecher laufen hat. Rammstein, Limp Bizkit, Michael Mittermeier und dass er damit seit Wochen ungefähr eine Million Leute nervt, geilt ihn auch noch auf. Die Klinikleitung sagt, sie könne nix machen, und das findet er besonders lustig.

©Tine Fetz

Also die toxische Männlichkeit drückt permanent allen Leuten öffentlich seine scheppernde Unterhaltung auf, besonders gerne dort, wo alle Raucher*innen gezwungenermaßen aufeinanderhocken, und egal, ob man ihn nett bittet, ihn anschreit oder seine Box über das halbe Klinikgelände schmeißt (alles schon passiert), ihn interessiert’s ’nen Scheißdreck und er reagiert spöttisch mit: “ Schon geil, wie viel Hass man mit ein bisschen guter Musik auf sich ziehen kann.“ Er treibt Menschen, die aufgrund neurologischer Erkrankungen besonders audiosensibel sind, mit dem anhaltenden scheppernden Hintergrundgedröhne oder der offensiven Vordergrundbeschallung in die Verzweiflung. Besonders zu beobachten ist dabei Folgendes: Wenn Typen sich bei ihm beschweren, reagiert ausschließlich er und zwar mit spöttischem Gelache, aber wenn Frauen sich beschweren, klinken sich plötzlich andere Typen mit ein und fangen an, diese als „Zimtzicken“ und „Sensibelchen“ zu beschimpfen. Toxische Männlichkeit betrifft halt dann schnell die ganze, dumme Herde.

Richtig eklig wird toxische Männlichkeit dann, wenn sie auf Antisemitismus (oder jeden anderen Ismus) triff. 
Und so wurde ich eines Abends plötzlich von einer ganzen Horde erwachsener Menschen (die toxische Männlichkeit hat inzwischen ein Gefolge) überfallen und als „Oberpetze“ und Schlimmeres angekeift. Was erst mal nach Kindergarten klingt, ist eigentlich ziemlich unlustig. Nachdem ich fünf Mal nachgefragt habe, worum zur Hölle es denn bitte gehe, habe ich dann den Schauplatz irritiert verlassen, weil mir niemand eine Antwort geben wollte. Später habe ich erfahren, dass es darum ging, dass ich mich über die Dauerbeschallung durch die toxische Männlichkeit beschwert habe. Der Witz ist, dass das in den letzten sieben Wochen mindestens 15 andere Menschen auch getan haben. Der Unterschied ist, dass diese anderen 15 Leute nicht vorher schon die ganze Zeit Thema waren, weil das „Gerücht rumgeht, dass DIE Jude ist“ und deswegen sowieso schon suspekt. Der Unterschied ist, dass die nicht gesagt haben, die toxische Männlichkeit soll den Scheiß ausmachen, als gerade Mittermeier lief, der irgendwelche Hitlerwitze gemacht hat und es deswegen hieß: „Die warn bisschen überempfindlichen wegen den Judenwitzen (sic!).“ Es war übrigens nicht mal meine Beschwerde, die letztendlich nach acht Wochen endlich zu einer Abmahnung geführt hat, weil ich längst aufgegeben hatte, aber die Theorien der Horde sind andere. Ich bin als „Oberpetze“ jetzt hier die Personifikation der Denunziation, was einfach nur perfide ist. Wenn Leute darauf hinweisen, dass sich ja auch andere beschwert haben, kommen Antworten wie: „Ne ne, das trifft schon die Richtige“ oder „Das ist schon die Drahtzieherin mit den Fäden in der Hand.“ Und die Verschwörungstheorien gehen noch weiter. Am Wochenende soll es wieder Beschwerden wegen nächtlichen Lärms gegeben haben und natürlich wurden daraufhin die toxische Männlichkeit und sein Rentner*innengefolge angesprochen. Die sagen, sie waren es nicht. Deren These: Die Jüdin war es, um ihnen eins auszuwischen … Ich lag währenddessen in Stufenlagerung und mit Infusion im Bett, weil Wirbelsäule und so. Nur damit ihr Bescheid wisst …

Gegen toxische Männlichkeit anzukommen ist meistens ein Ding der Unmöglichkeit, weil im Zweifelsfall jede Reaktion gegen einen ausgelegt wird, man wird ins Lächerliche gezogen, egal, was und wie man es tut. Wenn dann noch andere Ismen dazukommen, wird’s richtig übel. Jedes Mal wenn hier jemand zu mir oder über mich „Oberpetze“ sagt, ist das nicht „nur“ sexistisch gemeint, es ist so obviously antisemitisch, als würde jemand mit den Nägeln an der Tafel kratzen. Und so perfide, wenn man bedenkt, welche Geschichte Denunziation in Deutschland eigentlich hat. Das ist dann wohl Geschichtsrevisionismus-Mobbing oder so. Die armen Deutschen. Dass wir einfach nie unsere Fresse halten können. Weder als Frauen, noch als Jüd*innen.

Ich bin jetzt noch ne Woche hier und selbst wenn ich länger hier wäre, würde ich wohl nicht mehr erleben, dass die toxische Männlichkeit rausfliegt. Weil, so läufts halt nicht. Im Gegensatz dazu liegen meine Schätzungen für antisemitische Äußerungen für die letzten acht Tage im zweistelligen Bereich. Außer ICH fliege vorher raus. Wegen Rauchens außerhalb des Raucherbereichs. Weil was anderes bleibt mir kaum übrig, denn es ist halt leider einfach nicht zum Aushalten – die Beschallung, der Antisemitismus, die toxische Männlichkeit und die dumme Herde dahinter.

Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen: „Scheiße“, das erste Wort meiner jüngeren Schwester. Ich muss damals 16 gewesen sein. Ihr stolzes Strahlen, als sie nach Monaten der Übung, nach Monaten der Sprechversuche – sie hängt Silben aneinander, brabbelt sich durch verschiedene Tonlagen – ein Wort spricht. Sie sagt es bestimmt und klar, für alle verständlich. Freude breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Sie hat gesprochen, ein Wort, das wir, ihre anderen Familienmitglieder, auch verwenden und als Wort erkennen.
Meine Mutter, meine ich mich zu erinnern, lacht verzweifelt. Einerseits sind der Stolz und die Freude meiner Schwester ansteckend. Andererseits hat sie geflucht, weil wir es in unserer Familie offensichtlich auch tun – ziemlich oft sogar.

©Tine Fetz

Zeitsprung: Mit einer Freundin, sie erwartet im Herbst diesen Jahres ihr erstes Kind, spreche ich beim Spazieren über Erziehung, genauer über die Herausforderungen, die wir in der Zukunft wähnen. Darüber, dass wir ab jetzt nachgeahmt werden, mit all den fragwürdigen Dingen, die wir tun – Druck oder auch nicht. „Ich werde mich ganz schön zusammenreißen müssen“, lacht sie, „ich fluche ständig und benutze andauernd Schimpfwörter!“ „Ist doch nicht schlimm“, entgegne ich gelassen. „Ich finde es eh komisch“, erkläre ich weiter, „dass Erwachsene fluchen dürfen und Kinder nicht.“ „Außerdem“, mein stilldementes Hirn ist in Fahrt gekommen, „bei Begriffen, die diskriminieren, passen die meisten nicht so auf, das ist doch schräg.“ „Total“, nickt meine Freundin zustimmend.

Tatsächlich denke ich darüber noch eine Weile nach. Ich persönlich finde Schimpfwörter, die ich zu allen Menschen gleichermaßen sagen kann, selbst im Streit, nicht besonders schlimm. Mit dieser Ansicht stehe ich ziemlich oft alleine da, deshalb lohnt es sich, meine Perspektive zu erläutern: Schimpfwörter, die nicht diskriminieren, sind so wundervoll unpersönlich. In erbitterten Streitsituationen ist ein „fick dich“, finde ich, deutlich netter als ein sexistisches „du bist mal wieder total hysterisch und überemotional!“ Ebenfalls besonders fies: eine auf die jeweilige Persönlichkeit des Gegenübers zugeschnittene Abwertung – ausgesprochen in vermeintlich nettem Ton. Verletzend, so sehe ich das, ist, wenn Menschen ihre soziale Machtposition ganz selbstverständlich in intimen Momenten ausagieren.

Schimpfwörter knüpfen nicht notwendigerweise an Diskriminierung an. Sobald ein Begriff in die Kategorie „Schimpfwort“ fällt, ist ein Wort böse und darf nicht gesagt werden. Solange etwas freundlich verpackt werden kann – selbst wenn die Verletzung das Ziel ist, selbst wenn strukturelle Benachteiligung in persönlichen Beziehungen reproduziert wird –, ist alles in Ordnung. Daraus ergibt sich dann, dass Beleidigungen, die an strukturelle Macht anknüpfen, oftmals sagbar sind, wohingegen Aussagen wie „fick dich“ gar nicht gehen – und das, obwohl das Ziel, nämlich zu beleidigen, genau das gleiche ist. Das finde ich bemerkenswert. Ich persönlich finde es viel gewaltvoller, wenn strukturelle Gewalt gegen mich verwendet wird.

Wut, Frust und Ärger müssen kanalisiert werden können – auch bei Kindern. Das Ziel ist aus meiner Sicht nicht, dass Gefühle runtergeschluckt werden. Manchmal brauchen Menschen, das gestehe ich allen zu, ein Ventil, um mit Momenten der Wut umzugehen. Klar gibt es darüber hinaus Möglichkeiten, verschiedenste Emotionen zu durchleben. Und schimpfen mit Schimpfwörtern ist eine davon. Schimpfen mit Schimpfwörtern kann ein Schritt für den ersten akuten Moment sein.

„Verdammte Scheiße“ und „fick dich“ gehen für mich persönlich klar. Auch wenn, zumindest sage ich das jetzt, mein Kind es sagt. Mir ist wichtig, dass eine Beleidigung nicht diskriminiert. Meine jüngere Schwester, übrigens, beschimpft vergleichsweise wenig.

Okay Leute, Hand aufs Herz: Wie wichtig ist euch Sex? Und jenen unter euch, die sagen, nicht sooo wichtig, was heißt das in der Realität? Z. B. in Beziehungen? Ist kein Sex haben oder wenig Sex haben okay, solange ihr euch begehrt fühlt? Könnt ihr euch begehrt fühlen, wenn die andere*n Person*en generell/in der Regel keinen Sex will/wollen/hat/haben? Ich frage das, weil ich oft von Leuten höre, dass für sie Sex keine so große Rolle spielt und es dann am Ende irgendwie doch ein Problem ist, wenn er fehlt. Und ich frage das, weil Sex für mich WIRKLICH keine große Rolle spielt, was jetzt viele Menschen, vor allem einige, mit denen ich geschlafen habe, womöglich überrascht. Leute glauben, wenn sie mich sehen – okay GLAUBTEN, weil jetzt bin ich im Rollstuhl und hab eh keinen Anspruch auf Libido mehr –, also Menschen glaubten, wenn sie mich sahen, dass Sex ein zentrales Thema für mich ist und ich viel davon habe oder zumindest viel davon will. Weil Leute oft Sexy-Sein mit Sex-Wollen verwechseln. Ich muss an dieser Stelle einen kurzen Überblick von der (On-Off-Beziehung) von mir und meinem Körper einfügen, damit das irgendwie Sinn macht.

©Tine Fetz

Nachdem wir (mein Körper und ich) die Pubertät überstanden haben (großes Off!), hatten mein Körper und ich einige Jahre eine ziemlich leidenschaftliche Romanze miteinander. Eine erotische Beziehung (übrigens nicht unbedingt eine sexuelle), phasenweise aber nicht immer eine Liebesbeziehung. Ich hab mich mit meinem Körper nie eins gefühlt – ich weiß gar nicht, ob das überhaupt jemand tut oder ob das nicht auch nur so neoliberales Marketinggewäsch ist –, aber mich dann irgendwann wunderschön in meinem Körper gefühlt. Ich könnte es heute nicht besser in Worte fassen als 2013 in diesem Text, der bis heute mein absoluter Liebling ist.

Das Ding ist, wenn du eine sinnliche Beziehung zu deinem Körper hast, muss das irgendwie anscheinend auch bedeuten, dass du a) eine sexuelle Beziehung mit deinem Körper hast = Masturbation, b) eine sexuelle Beziehungen zu anderen möchtest, c) Sex für dich essenziell ist. Das Absurde ist, dass A phasenweise manchmal vielleicht sogar stimmt, aber selten mit Masturbation zusammenfiel, B für mich schon immer und selbst noch mit 30 unfassbarerer Pressure ist und ich das 296 Tage im Jahr lieber nicht möchte und C einfach falsch ist. In den meisten Phasen meines Lebens hätte ich gut auf Sex verzichten können, wäre es mir sogar lieber gewesen. Aber ich dachte, so ein heißes sinnliches Exemplar von Lesbe wie ich hat Sex zu lieben und zu wollen und zu leben. Und das tat ich. Es machte auch meine Beziehungen einfacher, bis zu dem Punkt, wo der Sex weniger wurde, weil es mir zunehmend schwerer fiel, meinen eigenen inneren Widerstand zu übergehen. Da wurde es dann komplexer, die Situation mit meinen Partner*innen komplizierter. Und das verstehe ich auch, denn damals hätte ich all dies hier keiner Person auf diesem Planten kommunizieren können und bis es die Möglichkeit gibt, dass mein 30-jähriges Ich, das gerade diesen Text schreibt, meinem jüngeren Ich diesen lesen lassen kann, vergehen vermutlich noch ein paar Sci-Fi-Jahre …

Ich hatte also Sex, viel Sex und versteht mich nicht falsch, ich habe nicht gelitten, mich nicht kasteit, alles war konsensual (!!!!!!!x10000) und ich habe auch die Nähe genossen, aber wenn ich damals den Mut gehabt hätte zu wählen, zwischen jemanden im Arm halten/im Arm gehalten werden und Sex, hätte ich in 87 Prozent der Fälle die Arme gewählt. Ich hoffe, alle Menschen meiner Vergangenheit sind jetzt nicht total geschockt oder fühlen sich irgendwie furchtbar. Für fast alle von euch: just warm feelings, I promise! Ich erzähle das alles so daher, übernehme sehr viel Verantwortung. Vielleicht auch, weil die Wahrheit mich traurig macht. Aber ich habe beschlossen, diesen Text an der Beziehungsgeschichte mit meinem Körper entlang zu erzählen, also bisher Sexy Lesbian hat viel Sex weil heiße selbstbewusste Lesben das so machen. Mein Körper und ich – ein sexy Team! Und es hat sich gut verkauft. Glaubt mir! In und außerhalb von Beziehungen.

Und dann kam es 2016 zur ersten großen Trennung zwischen uns beiden. Nach mehreren kleinen Struggles in den Jahren davor mit meinem Körper, fühlte ich mich so verraten wie selten zuvor. Das Vertrauen, die Liebe zwischen meinem Körper und mir, alles war in Trümmern. Nach einer Wirbelsäulen-OP wachte ich auf und mein linker Fuß war komplett, das Bein teilweise gelähmt. Von Sinnlichkeit zu Ohnmacht. Die Texte über meinen Körper waren definitiv über einen anderen Körper als noch wenige Jahre vorher. Zu Anfang war vor allem Frust, Wut, Trauer. Ein Rosenkrieg. An Sex war nicht zu denken. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich vielleicht Rachesex mit einem anderen Körper gehabt. Aber tauschen geht ja nicht. Ich war so unendlich enttäuscht. Und ich bin übrigens bis heute oft wütend. Vielleicht nicht mehr nur auf ihn, aber auf uns.

Später kehrte etwas Ruhe ein. Aber wir waren kein sexy Team mehr. Mein Körper fühlte sich eher an wie meine nervige kleine Schwester, die ich überall mit hinschleppen musste. Ich brauchte doppelt so viel Aufmerksamkeit, um mich und dieses Bein durch Räume zu navigieren, musste früher gehen, weil dieses Bein ins Bett wollte und wenn mich jemand interessiert anlächelte und ich dann irgendwann aufstand, dann war da dieses Bein, das mich blamierte, weil es Faxen machte. Es nervte mich. Ich wollte, dass es weg ging. Wer hat schon Sex mit seiner kleinen Schwester im Raum?

Und dann kam die Versöhnung. Eine freundschaftliche. Aus einer leidenschaftlichen, wilden, erotischen Beziehung ist eine zwar sehr liebevolle, aber platonische geworden. Mein Körper und ich wurden Freunde. Verbündete, die sich manchmal uneinig waren, aber versuchten, am selben Strang zu ziehen. Wir fühlten uns wieder wohler miteinander. Miteinander ist das richtige Wort. Nicht mehr gegeneinander. Was das für Sex bedeutet? Tja … Mit dem, nennen wir ihn der Einfachheit halber mal „neuen Körper“ fiel es mir schwerer, meine Widerstände im Bezug auf Sex zu übersehen oder sehend zu übergehen. Ich hatte mich ja ausgiebig mit seinen Bedürfnissen beschäftigen müssen. Dazu kamen Schmerzen und der Punkt, dass ich das Gefühl hatte, dass ich noch keinen so richtigen Plan habe, wie Sex funktioniert mit nur einem voll funktionstüchtigen Bein. Und dann war da noch was: Mir wurde zum ersten Mal klar, wie viel Druck da ist. Wie viel Druck ich in meinem Beziehung verspürt habe oder mir gemacht habe, Sex zu haben, damit die Beziehung harmonisch und flauschig bleibt, sich mein Gegenüber begehrt und schön fühlt, das Gefühl aufrechtbleibt, dass in der Beziehung alles okay ist, auch wenn andere Sachen schieflagen, ich meinem Bild als sexy, selbstbewusste Lesbe gerecht werde. Und wieder übernehme ich die Verantwortung, weil ich glauben möchte, dass die Wahrheit ist, dass wenn ich gesagt hätte, dass ich vielleicht eigentlich (gerade?) keinen Sex in meinem Leben möchte, dann alles okay gewesen wäre. Aber wir wissen alle, dass das nicht die Wahrheit ist. Gesellschaft lehrt uns, dass Beziehung und Sex zusammengehören und schon allein, dass es jedes Mal ein großes Thema war, wenn Sex weniger in meinen Beziehungen wurde, sagt einiges.

Und dann kam sie, die Beziehung, in der ich mich so safe, so sicher gefühlt habe, dass ich das alles das erste Mal geäußert habe. Es auch mir gegenüber das erste Mal ausgesprochen habe: dass das mit mir und Sex so ne Sache ist, dass ich es einfach brauch, dass es auch okay wäre, wenn ich keinen Sex mehr hätte, dass ich keinen Sex haben muss, damit meine Beziehung harmonisch bleibt oder überhaupt eine Beziehung bleibt, dass es sich zusätzlich super absurd anfühlt mit einem Körper Sex zu haben, mit dem man (aktuell?) eine platonische Beziehung führt (also mein eigener), dass ich (gerade?) in meinem Leben keinen Sex will …
Und ich war so sicher, es wäre einfach okay, und ich weiß, das hätte es auch sein müssen. Und ich würde euch gerne erzählen, wir leben jetzt glücklich bis ans Ende unserer Tage. Aber wir alle sind Kinder dieser Gesellschaft und so läuft es leider nicht. Sex ist ein heikles Thema und kein Sex eben auch. Also gibt es diese Beziehung nicht mehr. Und als wäre das nicht tragisch genug, haben auch mein Körper und ich schon wieder Schluss gemacht. Dieses Mal hatte er recht. Dieses Mal hab ich Scheiße gebaut. Jetzt sitze ich im Rollstuhl und wir sind voll im Drama-Mode. Ich schrei ihn an, er schweigt … Sextechnisch hat das den Vorteil, dass Leute im Rollstuhl offiziell ja sowieso keinen Sex haben. Aber die werden halt auch nicht begehrt. Das ist jetzt auch nicht so geil.

Übrigens Begehren und Sex sind für mich nicht nur zwei unterschiedliche Paar Schuhe sondern wie High Heels und Knäckebrot. Dass ich Menschen begehre, heißt nicht, dass ich Sex will. Dass ich keinen Sex will, heißt nicht, dass ich Menschen nicht begehre …
Ich habe damit begonnen zu sagen, Sex sei für mich nicht so wichtig. Das ist offensichtlich nicht wahr. Sex kann mir sehr wichtig sein, wenn ich möchte, dass er kein Teil meines Lebens ist. Aber in einer Gesellschaft, in der Sex sells, besonders in Beziehungen, fällt das wohl unter das Rückgaberecht und mit der beschädigten Verpackung bin ich vermutlich ohnehin jederzeit ein Garantiefall.

Eure double heart-broken Love-Sex-Drama-Kolumnistin

Auf seinem T-Shirt steht: „No borders, No nations“. Wir essen Burger, es ist unser zweites Date. Wir unterhalten uns, alles ist super. Dann sagt er: „Du kannst so gut Deutsch! Es gibt Leute, die seit 40 Jahren hier leben und nicht so gut Deutsch sprechen wie du!“

Eigentlich höre ich das oft, wenn ich sage, dass ich seit zehn Jahren in Deutschland wohne. Diesmal bin ich überrascht, und es liegt an seinem T-Shirt. Er weiß es nicht, aber er redet von meiner Oma. Sie gehört zu jenen, die nicht gut Deutsch sprechen, obwohl sie lange hier leben. Zwischen ihrer Biografie und meiner liegen Welten.

©Tine Fetz

Meine Oma ging nie zur Schule, sie kann nicht lesen und schreiben. Sie kam in den 70ern nach Deutschland und hatte gleichzeitig mehrere Putz- und Spüljobs. Es gab damals weder Deutsch- noch Alphabetisierungskurse, „diese Integrationskurse sind neu“, sagt sie. Das stimmt, die wurden erst 2004 eingeführt. Sie erzählt, dass es Frauen unter den Gastarbeiter*innen besonders schwerfiel, Deutsch zu lernen: „Sie mussten sich noch um den Haushalt und die Kinder kümmern.“ Männer hatten es leichter.

Ich wuchs bei meiner Mutter in der Türkei auf. Als ich nach Deutschland zog, hatte ich rote Haare, Piercings, war tätowiert. Viele sagten: „Du siehst nicht aus wie eine Türkin.“ Als Kurdin wusste ich nicht, was ich damit anfangen soll. Außerdem, wie sieht eine Türkin aus? Jedenfalls wurde ich offenbar nicht gleich als Ausländerin eingeordnet. Wenn Menschen es erfuhren, waren sie oft „positiv überrascht“, das ermöglichte mir, mich selbstbewusst zu bewegen.

Ich habe zwar nicht studiert, aber immerhin die Schule abgeschlossen. Auch ich musste kurz nach meiner Ankunft in Deutschland arbeiten und fand einen Job bei einem Kiosk. Im Gegensatz zu meiner Oma konnte ich nebenbei einen Deutschkurs besuchen. Ich wohnte im hippen Köln-Ehrenfeld, meine Oma wohnte in einem Gastarbeiter*innenviertel. 2011 fing ich an zu kellnern und hatte nur noch mit deutschen Muttersprachler*innen zu tun.

Das Kompliment „Es gibt Leute, die seit 40 Jahren hier leben und nicht so gut Deutsch sprechen wie du!“ funktioniert nur, weil im selben Atemzug die „Integrationsverweigerer“ erwähnt werden. Ganz so als wäre Deutschland ein Inklusionsparadies, und die blöden Kanax hätten nur kein Interesse teilzunehmen. Als ich beim Date von meiner Oma erzähle, sagt er: „Ich wusste nicht, dass es Analphabeten unter den Gastarbeitern gab.“

Der Duden beschreibt Parallelgesellschaft als „in einem Land neben der Gesellschaft der Mehrheit existierende Gesellschaft“. Das ist falsch. Parallelgesellschaft ist der ständige Wechsel zwischen unangenehmer Sichtbarkeit und kompletter Unsichtbarkeit. Parallelgesellschaft heißt nicht nur, dass Minderheiten lieber untereinander bleiben, sondern auch, dass sich die Mehrheitsgesellschaft für sie und ihre Probleme nicht interessiert, egal, welche linken Sprüche auf ihren T-Shirts stehen. Parallelgesellschaft ist Alltag für Minderheiten in Deutschland. Parallelgesellschaft ist Deutschland.

Guten Abend, verehrte Leser*innen. Wir wurden uns noch nicht offiziell vorgestellt. Also erlaubt mir an dieser Stelle zunächst den – zugegebenermaßen in Anbetracht des Mediums – etwas einseitig ausfallenden Austausch von Höflichkeiten. Mein Name ist Pessi und ich verdiene hin und wieder recht viel Geld als Mistress. Als Herrin. Als Domina. Pessi Mistress ist keine Kunstfigur, keine Haut, in die ich schlüpfe, um mich während meiner sehr physischen Tätigkeit psychisch abzugrenzen. Pessi ist der Anteil in mir, den ich hervorhebe, wenn ich arbeite. Natürlich spiele ich während des Kontakts zu meinen Gästen eine Rolle. Ich biete für eine Stange Geld eine Mischung aus sexy Improvisationstheater und mal amüsanter, mal trauriger Clownerie. Nicht viel anders als zu den Zeiten, in denen ich vornehmlich hinter Tresen stand.

©Tine Fetz

Ich bin der heiße Clown vieler Träume, ich biete eine Show, die passiv konsumiert werden darf. Mit Bier auf der anderen Seite des Tresens oder mit Knebel im Maul zu meinen Füßen. Ich biete Entspannung und Loslassen vom Alltag. Ich biete Fläche zur Projektion. Ich biete meine Titten, wenn ich mich nach vorn beuge, um nachzuschenken. Sterni oder Pisse, wo ist da der große Unterschied?

Im Preis. Und in der Zugänglichkeit. Sterni verkaufe ich an alle Geschlechter, Pisse eher nicht. I piss on the cis. Also cis Typen. Und die bezahlen mich dafür ziemlich gut. Ich würde auch auf alle anderen Gender pinkeln, also an mir soll es nicht liegen. Liegt eher am Patriarchat. Und am Kapitalismus. Und wahrscheinlich auch am Neoliberalismus, weil der ist eh auch wirklich ziemlich oft schuld. Und der hebt ja immer sehr gern das Individuum und dessen Eigenverantwortung hervor. Du kannst alles erreichen, du musst es nur wollen! Jede ist ihres eigenen Glückes Schmiedin und am Ende des Regenbogens kann auch für dich ein Kelch meiner Pisse stehen. Aber genau wie in so vielen Realitäten sehe ich auch in meiner Manege zu allermeist weiße cis Typen mit lechzender Entzückung zugreifen und lostrinken. Restlos. Und nach ihnen die stinkende Sintflut. Denn der Kelch möchte auch noch abgewaschen, desinfiziert, getrocknet und für den nächsten Gebrauch nutzbar wegsortiert werden. Das mache dann wieder ich und danach wird nicht gefragt.

Sexarbeit ist stigmatisiert, quelle surprise und ich bin nicht gerade out and proud mit meiner Tätigkeit. Muss ich auch nicht, weil es eine von vielen bezahlten und unbezahlten Arbeiten ist, die ich in meinem Leben verrichte, und ich habe den Luxus, je nach Situation die passende zu zücken und zu präsentieren. Trotzdem wird meine Tätigkeit innerhalb der Gruppe der Wunschtraumfabrikant*innen immer noch eher wertgeschätzt. Whorearchy nennt sich das. Hierarchien innerhalb der Sexarbeit, teilweise internalisiert und vorangetrieben von den dort Tätigen. Aber Zivilist*innen sehen Anbieter*innen von Fetischdienstleistungen, vor allem Dominas, als irgendwie besser an. Weniger dreckig. Das Narrativ der die Männer beherrschenden, ja sogar angebeteten, strengen und unnahbaren Göttin in Schwarz. Die sind besser, die lassen sich nicht von ekligen Freiern anfassen! Und die haben keinen Sex! Außerdem ist ja so eine Session auch sehr therapeutisch, ach was kathartisch! Wir Dominas helfen dabei, Stress abzubauen, sich Ängsten zu stellen, wir sind Heiler*innen! Und das ist noch nicht mal alles. Bei uns können Geschlechterstereotype über Bord geworfen werden, es gibt Perücken, Strap-ons und viel mehr. Wie queer. Na, bereits überzeugt von meiner Darbietung? Wir Dominas sind nämlich richtig gut darin, dieses Bild auszuschmücken und vor uns selbst herzutragen. Seht uns an, wir machen die wichtige Arbeit!  Oder sind zumindest zum Niederknien glamourös. Ich hab mich selbst gern und lang von innen damit ausgeschmückt. Meine eigene, verinnerlichte Stigmatisierung damit zugekleistert und zu verdecken versucht. Femme und Domme. Das klingt irgendwie doch ganz gut und noch verkaufbar mit dem richtigen Outfit? 

Ich selbst fand nie, dass das, was ich mache, besser oder schlechter als andere Formen von Sexarbeit ist. In der Nacht sind alle Katzen schwarz und unter der Schminke alle Clowns noch immer Clowns, nur ohne Make-up. Dominas haben keinen Sex mit ihren Freiern. Eigentlich sind das nicht mal Freier, sondern Kunden, Gäste oder gar Klienten. Was für ein heteronormativer Müll! Wenn ich mir den Strap-on umschnalle und einem Typen in den Arsch bumse, dann ist das kein Sex? Wenn er vor mir kniet und meinen Gummischwanz bläst? Kein Sex? Ach so stimmt, MEINE Löcher werden nicht penetriert, also bin ich rein. Bis ich die Pisse aufwische, die daneben gegangen ist. Irgendwie schon ein bisschen weniger Glam. Und überhaupt, lasst uns doch mal gucken, was sich hinter diesem Vorhang verbirgt. Wenn penetriert werden das Problem ist, an dem alles hängt, was sagt das denn aus? Eine wirklich alte, langweilige und zutiefst sexistische Leier in zwei Akten: 1. Sex ist gleichzusetzen mit Penetration, und zwar mit der Penetration eines Schwanzes in eine Pussy oder vielleicht gerade noch so in einen Arsch. Schön millimetergenau abgrenzbar und passgenau ins Biobuch und Hetenbild. 2. Wer penetriert wird, ist passiv, und in wen eingedrungen (ein Begriff, der ja an sich schon Bände spricht) wird, der*die ist weniger rein als der*die Penetrierende. Penetrieren bleibt so schön und in guter patriarchaler Tradition ein Akt der Dominanz. Der*die penetrierte Person als aktiv, fordernd, steuernd, lustvoll? Scheint schwer vorstellbar.

Wenn ich also als Domme einen Kunden in den Arsch ficke, dann bediene ich genau diese Annahme und führe sie selbst fort. Ich unterwerfe den Kunden auf seinen Wunsch durch die Erniedrigung, selbst penetriert zu werden. Das macht mich jetzt nicht gerade zu der feministischen Held*in unter den Sexarbeiter*innen, zu denen Dommes irgendwie gern unreflektiert erkoren werden, auch in queerfeministischen Communitys. 

Stille in meiner Manege, ich blicke in fragende Gesichter. Warum mache ich denn jetzt meinen Job so schlecht? Ist doch gut für mich, wenn meine Arbeit als besser angesehen wird? Stimmt, ich habe natürlich einen ganzen Strauß voll Privilegien im Vergleich zu Kolleg*innen in anderen Sparten der Sexarbeit. Diese sehe ich und nutze ich. Aber eine Form der Arbeit als besser, moralisch vertretbarer zu bewerten und auf einen Sockel zu stellen führt im Umkehrschluss auch immer zur Abwertung anderer Arbeiter*innen und schlussendlich zur schlimmsten Gefahr aller emanzipatorischen Bewegungen: zur Spaltung. Wenn ich mich also begeistert auf ebendiesen Sockel heben lasse, dann gewinne ich höchstens scheinbar. Was ich mir viel mehr wünsche als halbherzige Akzeptanz, die darauf beruht, meine Kolleg*innen runterzumachen, ist, dass wir uns gegen diese Hierarchisierung stellen. Dass wir uns weiter verbünden und gemeinsam kämpfen gegen Stigmatisierung und für gute und sichere Arbeitsbedingungen. Ich will keinen Applaus für den Moment und Verhöhnung im nächsten. Ich will, dass es irgendwann wir Clowns sind, die zuletzt lachen.

Ob Jüd*innen, Menschen mit Behinderung, People of Color oder Queers, wir alle kennen und hassen das Phänomen, wenn wc-deutsche, nicht behinderte und/oder hetero Leute glauben, sie hätten den Plan, und – statt zuzuhören – über Kritik, Belange und Schieflagen hinwegreden, sich zu Themen, die sie nicht betreffen, zu Expert*innen erklären oder auf Positionen sitzen, die es ihnen ermöglichen, Sachverhalte an den Haaren herbeizuziehen, statt tatsächliche Missstände aufzuzeigen. Hauptsache, nicht zuhören. Erst recht nicht jenen, die es wirklich wissen: Betroffene.

Zwei aktuelle Beispiele dieser Rubrik „Keine Ahnung und trotzdem labern“ sind Michael Blume mit seinem Antisemitismusbericht 2019 und die Dyke*March-Orga mit ihrer Auseinandersetzung zum Thema Barrierefreiheit.

©Tine Fetz

Halten wir uns an gesellschaftliche Normen und lassen dem alten weißen Typen den Vortritt: Michael Blume.

Jetzt fragt ihr euch sicher „Who the fuck is Michael Blume? Und was hat er getan, dass Debora ihm ihre Kolumne widmet??“ 
Michael Blume ist der Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg. Vielleicht sollten wir noch weiter vorne anfangen: Was ist ein Antisemitismusbeauftragter? In der Tradition von Beauftragten – Frauenbeauftragte, die für die Rechte, Interessen, Unterstützung und Schutz von Frauen eintreten, Schwerbehindertebeauftragte, die für die Rechte, Interessen, Unterstützung und Schutz Schwerbehinderter eintreten, oder Diversitybeauftragte, die für Diversity eintreten – sollte man meinen, ein Antisemitismusbeauftragter tritt für dir Rechte, Interessen, Unterstützung und Schutz von Antisemitismus ein. Schon hier wird deutlich: Da waren Hohlbrote am Werk. Denn natürlich sollen Antisemitismusbeauftragte nicht für, sondern gegen Antisemitimus arbeiten. Also eigentlich Anti-Antisemitismusbeauftragte. In der Praxis haut das allerdings leider nicht hin. Denn das was die meisten Antisemitismusbeauftragten (mit wenigen Ausnahmen) gemeinsam haben, ist, dass sie inkompetente, wc-deutsche Kartoffelköpfe sind, die keine Ahnung haben, was sie tun. So auch Michael Blume, als er im Antisemitismusbericht 2019 für BaWü auf Seite 62 folgendes Meisterwerk veröffentlichte:

„Wenn wir den Antisemitismus global und glaubwürdig bekämpfen, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einstehen wollen, dann muss dies auch stärkere Anstrengungen für die Wende zu erneuerbaren Energien und die Dekarbonisierung bedeuten. Die Verfeuerung fossiler Rohstoffe vergiftet nicht nur Umwelt und Klima, sondern verformt auch Gesellschaften, Staaten und religiöse Lehren ins Autoritäre.“

Ich musste lachen, noch mehr lachen, ein bisschen weinen und wieder lachen, aber vor allem ist es tragisch. Und absurd. Sehr, sehr absurd. Deswegen wollte ich eigentlich einen Text im Blume-Style schreiben, aber mir ist nix, wirklich NIX eingefallen, was dermaßen abstrus ist wie die Relation von Dekarbonisierung und Antisemitismus. Selbst das Senken von Döner-Preisen gegen Antisemitismus könnte ich besser und plausibler erklären … Liest man das von Blume gelegte goldene Ei, ist die Assoziation zu antisemitischen Verschwörungstheorien nicht weit. Denn wer zieht laut dieser die Fäden und zerstört mit Macht und „Klüngelei“ unsere Welt? Die mächtigen „Wirtschaftsjuden“ mit ihrer Weltherrschaft. Da kann man sie ja nur hassen, ergo: Antisemitismus. Wird M. B. seinem Titel als Antisemitismusbeauftragter so also doch noch gerecht!

 Ich weiß nicht, ob M. B. zu warm war oder er schlicht und ergreifend auf den Klimawandel-Express aufspringen wollte. Aber offensichtlich wollte er auf Biegen und Brechen erneuerbare Energien unterbringen und hat damit für den Lacher des Monats in jüdischen Kontexten gesorgt. Doch nachdem wir das erste Entsetzen erst einmal weggelacht haben, werden zwei Dinge deutlich: 1. Michael Blume hat keine Ahnung von Antisemitismus und gehört eigentlich abgesetzt, trotzdem darf er offiziellen Mist fabrizieren. 2. wc-Deutsche haben immer noch die Deutungshoheit, was Antisemitismus ist und was nicht und dürfen dabei solchen an den Haaren herbeigezogenen Nonsens veröffentlichen, während wir/Jüd*innen im Alltag nicht mal Antisemitismus DENKEN dürfen, wenn er uns begegnet – und WIRKLICH begegnet und wir nicht einfach auch nur unseren Senf zur Klimakrise dazugeben wollen.

So facettenreich wie das Leben sind eben auch die Möglichkeiten für „Keine Ahnung und trotzdem labern“ und deswegen hat die Dyke*March-Orga gleich nachgezogen. Zum Hintergrund: Seit Beginn des Dyke*Marches 2012 bekommt das Orga-Team den Hinweis, dass die Demo zu schnell ist. Gerade für behinderte Lesben/Krüppellesben wie mich z. B. ist das ein ernsthaftes Problem. Genauso für Leute mit Kindern oder alle ohne tägliches 10-km-Ausdauertraining. Für jene, die es nicht wissen, der Dyke*March ist die jährliche Demo für lesbische Sichtbarkeit. Der Grund für das rasante Tempo des Dyke*Marches sind die (wirklich tollen) Dykes on Bikes an der Stirn der Demo, die leider durch ihre eindrucksvollen Motorräder dafür sorgen, dass die Geschwindigkeit des Zugs extrem angezogen ist. Dazu kommt, dass die Strecke extrem, um nicht zu sagen absurd lang ist. So viel zur den Rahmenbedingungen. Weil müßig das Eichhörnchen ist oder so ähnlich, fand ich es wichtig, auch in diesem Jahr dem Orga-Team das Problem erneut zurückzumelden.

Eine freundliche Sandwich-Methoden-Mail: Zuspruch, Kritik, konstruktiver Vorschlag, Zuspruch. Reichhaltig und gut verdaulich. Nach dem Dank für die Demo-Orga – viele von uns wissen, wie viel Arbeit das ist, ging es vor allem um die Streckenlänge und Geschwindigkeit und was das für behinderte Lesben bedeutet. Z. B. für Menschen mit alten E-Rollis (wie mich) die nicht mehr sicher nach Hause kommen, weil am Ende einer solchen (Tor-)Tour der Akku platt ist. Oder das viele behinderte Lesben nicht mehr kommen, weil die Demo so nicht bewältigbar ist. Am Ende der Vorschlag, dass die Dykes on Bikes mit Sicherheit ein genauso toller Abschluss der Demo wären und an der Stirn vielleicht ein Block von Dykes on Wheels und Heels den Dyke*March anführen könnte. Und wieder der Hinweis, wie wichtig der Dyke*March ist.

Es wäre einfach, mit den (wiederholten) Hinweisen behinderter Lesben umzugehen. Es wäre auch einfach, sie zu ignorieren und mit „Danke für den Hinweis, wir werden das im Team besprechen“ abzuwiegeln. Auch das wäre nicht cool. Aber wirklich uncool ist, sich für „Keine Ahnung und trotzdem labern“ zu entschieden. In der Antwort ging es um eine altersgerechte Demo im nächsten Jahr und Rikschas für alte Lesben. Aus „behindert“ „alt“ zu machen und Rollstuhlfahrer*innen auf die Demo-Rikschas und Rollstühle für jene, die nicht mehr laufen können zu verweisen, zeigt, dass es nicht die geringste Sensibilisierung gegenüber Rolli-Fahrer*innen gibt und trotzdem losgelabert wird. Viele behinderte Lesben sind nicht alt, ich bin nicht mal 30, und viele von uns können nicht einfach in irgendwelche Rikschas klettern. Wir sind so frech und kommen mit unseren eigenen Rollstühlen und alles, was wir wollen, ist eine langsamere, kürzere Demo. Und nicht nur wir. Facebook ist voll von nicht behinderten Lesben, die das Gleiche wollen. Aber statt uns – und jetzt meine ich wieder behinderte Lesben/Krüppellesben – mit unseren realistischen Vorschlägen und legitimen Bitten um Teilhabe, Teilnahme und – im Sinne der Demo – Sichtbarkeit zuzuhören, folgen nur absurde Ideen von unpraktikablen Maßnahmen als Reaktion auf das (seit Jahren bestehende) Problem. Es ist schon etwas zum Verzweifeln ob solcher Ignoranz und dem bullshittigen Servieren absurder Angebote als vermeintliche Lösungsansätze. Es ist nachvollziehbar, dass eine Demo-Orga nicht alles auf dem Schirm hat. Aber, was ich erwarte, ist, dass eine Orga dies anerkennt, statt unreflektiert loszusprudeln. 

Sowohl Michael Blume als auch das Orga-Team vom Dyke*March verschwenden Zeit, Ressourcen und die Möglichkeit zur Einflussnahme, indem sie labern statt zuzuhören. Es ist ärgerlich, in Institutionen und Kontexten, die uns stärken und unterstützen, auf Missstände aufmerksam machen sollen, auf Menschen zu treffen, die keine Ahnung haben, aber trotzdem einfach labern und damit ernsthafte Probleme unsichtbar machen und relativieren. Räume verunmöglichen und über Lebensrealitäten, die sie nicht betreffen, unverhohlen rübertrampeln. Wie gesagt, wir alle, mit marginalisierter Perspektive kennen das und wir alle sind müde ob der Menschen der einen oder anderen Mehrheitsgesellschaft, die unsere Bedarfe und unsere Risiken wegwischen und übermalen mit absurdem Unsinn.

M. B. und das Dyke*March-Orga-Team mit Dreirädern für Querschnittsgelähmte und Windenergie gegen Antisemitismus sind da kein Einzelfall, nicht mal eine Seltenheit. Und dennoch wollte die jüdische, behinderte Lesbe auf dieser Seite der Tastatur jene „Keine Ahnung und trotzdem labern“-Ärgernisse mit euch teilen. Ahnungslosigkeit sollte ein Sprechverbot zur Folge haben. Denn ein Antisemitsmusbeauftragter, der die Lebensrealität, das Leiden, die Diskriminierung von Jüd*innen instrumentalisiert, um ein bisschen über Klima zu reden, und damit alles, was wir erleben, ins Lächerliche zieht, ist gefährlich und gehört abgesetzt. Und ein Dyke*March, der den Wunsch von Teilnahme behinderter Lesben ebenso absurd kommentiert, ist eben auch nur irgendein ein Marsch, der uns erst aushängt, um dann über uns hinwegzurennen …

In diesem Sinne: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten

und zuhören!