In dieser Kolumne beschreibt Zain Salam Assaad mal satirisch, mal ganz ernst, wie sich Exil, Popkultur und Weltgeschehen zwischen dem Mainstream und am Rand der Gesellschaft bewegen © Viktoria Mladenovski

Hypertext von Zain Salam Assaad

„Hypertext“ ist das Produkt aller möglichen Memes und Sad Songs des letzten Jahrhunderts. In dieser Kolumne beschreibt Zain Salam Assaad mal satirisch, mal ganz ernst, wie sich Exil, Popkultur und Weltgeschehen zwischen dem Mainstream und am Rand der Gesellschaft bewegen – zwischen Pass und Smash. Dazu teilt Zain Memes oder eigene Mood-Playlists.

Bei der Verfassung meines ersten Textes für diese Kolumne stand ich vor der Herausforderung, einen passenden Titel für meine Beiträge zu finden. Ein erster Gedanke war, einen Titel zu wählen, der Wut und Migration verbindet – etwas, das meine aktuellen Lebenserfahrungen charakterisiert. Ich entschied mich für „Wutistan“. Doch nach einigen Texten überkam mich ein Gefühl der Selbststigmatisierung: Wut ist fine, universell und betrifft alle. Das Suffix „stan“ hingegen schien mir ein oft verwendetes Klischee zu sein, wenn Migras Namen für Dinge suchen. Ich empfand eine innere Scham dafür, dass ich den einfacheren Weg gewählt habe. Wenn ich Beiträge von liberalen Aktivist*innen lese, cringe ich sehr, denn ich frag mich oft, wie man sich selbst so ernst nehmen kann. Ich kann das von mir selbst nicht und ich will mich auf diese Stimmungsschwankungen á la Krebs im Mondzeichen der deutschen Gesellschaft und ihre Politik nicht einlassen und meine Wut nicht in eine Floskel verwandeln – andere dürfen das meinetwegen gerne weitermachen. So entschied ich mich also, lieber ein Opfer der Popkultur als ein Opfer von Selbstviktimisierung zu sein, was mich zum aktuellen Titel „Hypertext“ führte.

Seit meiner Ankunft in Deutschland im Jahr 2016 (also vor rund sieben Jahren) haben sich die Debatten kaum verändert. Ob im deutschen, „nahen“ oder „fernen“ Osten – jeder Konflikt scheint ein Ost-West-Dogma zu beinhalten. Und es führt jedes Mal zur mehr Stigmatisierung von migrantischem Leben. Mit zunehmender Klarheit erkenne ich die Abneigung und rassistischen Tendenzen in meinem Umfeld. Dies könnte jedoch daran liegen, dass ich nun die Sprache und das Umfeld besser verstehe und nicht mehr in der Mentalität des „Ankommens“ gefangen bin. Nach sieben Jahren, geprägt von Umzügen, Schulden, gescheiterten Dates und einem Abschluss, blicke ich zurück:

1. Die Liebe kommt nicht aus Berlin

2016 war ich überzeugt, in Deutschland, und später sicherlich in Berlin, Liebe zu finden. Sei es in Form einer Chosen Family oder Partner*innen, mit denen ich unbeschwert durch Europa reisen könnte. Schnell wurde mir jedoch klar, wie brüchig Beziehungen jeglicher Art sein können. Wer zuerst ghostet, ist der*die Mächtige. Manchmal denke ich, wir revolutionieren die Liebe in meiner Generation nur theoretisch, während wir in der Praxis das Patriarchat unter neuen Labels weiterleben, ohne echte Verantwortung füreinander übernehmen zu wollen. Die Phasen des Ghostings habe ich in dieser Playlist aus meiner Ghosting-Kolumne zusammengefasst.

2. Mein „Roman Empire“ ist Queerness

Queerness ist überall in meinem Umfeld, doch das Queerbaiting nimmt überhand. Ich genieße die queere Sichtbarkeit und Ästhetiken überall, ich freue mich für alle, die sich auch unabhängig von Labels öffnen und ausprobieren können. Für mich ist aber Queerbaiting, wenn du auf einer queeren Party landest und alle Typen um dich lieber cis Frauen daten. So schlimm, dass man wieder Grindr installieren muss. Es ist alles gut, aber ja, etwas enttäuschend. Aber eh, you do you.

3. Gesundheit in den Mittzwanzigern

Meinen letzten Krankenhausbesuch, bei dem in der Notaufnahme geraucht wurde, habe ich noch lebhaft in Erinnerung. Letztes Jahr war ich oft krank und langsam habe ich Angst, alt zu werden! Ab jetzt passe ich besser auf mich auf – aber nur um Krankenhäuser zu vermeiden.

4. Job-Hopping 4 Life

In den letzten sieben Jahren habe ich das Konzept des agilen Arbeitens neu definiert: Wenn ich mich nicht wohlfühle, gehe ich weiter. Dafür war mein Leben bis jetzt umständlich genug. Job-Hopping ist meine Art, produktiv zu bleiben und gleichzeitig weiter die Miete zahlen zu können. Meine zentrale Frage bei jeder Kündigung: „Wofür mach ich das eigentlich?“ Ich habe Tausende Tools ausprobiert, um zu schauen, was ich tun soll, damit ich im Alter ausreichend Rente kriege. Ich komme so nicht weiter. Ich denke, ich kann nur hoffen, dass jemand, den ich nicht kenne und vielleicht diese Kolumne zufällig liest, mir eine Million Euro vererbt oder so.

5. Eskapismus

Grundsätzlich neige ich zum Pessimismus und betrachte unsere Welt als subtilen „Weltuntergang“. Als Zillennial und Sandwichkind suche ich manchmal Zuflucht fernab der politischen Realität und Nachrichtenfluten. Interessanterweise berichtet der Reuters Institute Digital News Report, dass fast zwei Drittel der erwachsenen Internetnutzer*innen in Deutschland ab und an Nachrichten meiden. Spoiler: Ignoranz ändert keine Schlagzeilen! x_x.

In meiner ersten deutschen WG lobten alle immer wieder meine Resilienz. Belasto ist es, resilient sein zu müssen. Wie bewältigt man diese innere Trauer in einer Welt voller Kriege und Krisen? In Syrien war ich voller Hoffnung auf Veränderung. Und heute? Heute ertappe ich mich dabei, wie ich von veganen Shrimps für 1,50 Euro aus dem Discounter träume.

6. Deutschland x Migration

Die Dämonisierung von Migrant*innen ist eine Taktik, die sich stetig in Medienhäusern und politischen Reden fortsetzt. Das macht mir Angst. Ich habe (wie viele von euch wahrscheinlich) von der wichtigen Correctiv-Recherche gelesen, die für viele Migran*tinnen und Geflüchtete allerdings leider nichts Unerwartetes enthüllt hat: AfD-Politiker*innen und Neonazis treffen sich, um massenhafte Abschiebung von Migrant*innen zu planen. Es fühlt sich wie ein Film an und wir warten immer darauf, dass etwas noch Schlimmeres passiert. Wie wäre es, wenn wir uns als Neujahrsvorsatz darauf einigen, Migrant*innen ihre Existenzen und Menschenrechte nicht abzusprechen?

7. Einsamkeit

Das eine, was ich in den letzten sieben Jahren gelernt habe, ist, dass ich mich niemals für meine Einsamkeit schämen und dass ich sie verstehen sollte. Sie ist das einzige Label, mit dem ich mich wohlfühle und das mich am längsten begleitet. Dazu durfte ich sogar ein Essay schreiben in der neuen Auflage von „Eure Heimat ist unser Albtraum“, herausgegeben von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah.

IN & OUT Prognose 2024:

IN: Lange Schlafen, cozy gaming, zu Hause kochen, Schleifen 🎀, overdressing, mehr Therapie, Neinsagen, Gossip, Gefühle, Craftivismus, Deepfakes, Digital Detox

Out: Instagram, Situationships, Daddy/Mommy Issues, Neonazis, Boy Crews auf TikTok, Minimalismus, Maus/Hase sagen, Fast Fashion, Pick-Me sagen, Body Shaming

Goodbye To All That

„I began to cherish the loneliness of it, the sense that at any given time no one need know where I was or what I was doing“,  schrieb Joan Didion über das Leben in New York in ihrem Essay „Goodbye To All That” von 1967. So geht es mir mit der Freiheit, die ich in dieser Kolumne ausleben konnte. Ich habe Meinungs- und Gefühlswelten entdeckt, die ich vorher nicht kannte. Aber jetzt, und wie Ariana Grande, die Königin des Asian Fishing im Pop, einst sang: „Thank you, next!“ Ich verabschiede mich von den alten Mustern und nehme mir erst mal nichts Wichtiges vor.

Eine Person steht oberkörperfrei und macht ein Selfie, während sie eine lange Liste in der Hand hält, die in eine Box mit der Aufschrift "Transition Byes" fällt. Unterhalb der Illustration steht: "Über zwanzig Jahre waren meine Brüste zentral für meine Identität. Wie kann ich sie gebührend verabschieden?"
Über zwanzig Jahre waren die Brüste von Missy-Kolumnist*in Evan Tepest zentral für deren Identität.

Vor ein paar Wochen habe ich um meine Brüste geweint. „Sie können ja auch nichts dafür!”, sagte ich zu Gianni unter Tränen. „Ich habe das Gefühl, sie sind wie zwei unschuldige Kuscheltiere.” Ein paar Wochen vor meinem Mastektomietermin fand ich meine Brüste plötzlich so süß und bemitleidenswert wie ein Paar Teddybären.

Mit meiner Entscheidung für die OP bin ich mir zu neunzig Prozent sicher – und damit so sicher wie mit vielleicht kaum einer Entscheidung in meinem erwachsenen Leben. Mit zwölf Jahren habe ich meinem Tagebuch bereits mein Unbehagen über die rasante Veränderung meines Körpers anvertraut. Ich habe geweint, als ich auf einmal nicht mehr oberkörperfrei Fußball spielen durfte, und in der Folge meinen ganzen Style an weiten Männershirts und Oversized-80s-Pullis orientiert. Seit meine Brüste da waren, habe ich mich keinen Tag nackt im Spiegel gesehen und dem, was ich da sah, zugestimmt. Doch ich war noch nie gut im Abschiednehmen.

Ich habe von vielem Abschied genommen in diesem Jahr: von Freund*innenschaften und Zigaretten. Von meinem Begehren nach einer monogamen Beziehung, meinem Ersparten (weil Deutschland, wenn überhaupt, nur binären trans Personen eine Mastektomie bezahlt) und der Hoffnung auf eine progressive linke Fraktion im Bundestag. Diese Abschiede waren nötig. Trotzdem bin ich nun, am Ende dieses langen Jahres, ihrer so leid. Abschiede, das habe ich wieder gelernt, sind alles andere als straightforward.

Uns macht nicht bloß das aus, was gut für uns ist. Vielleicht sogar wichtiger sind unsere negativen Empfindungen, sind Scham, Selbsthass und Ekel. Diese prägen, mit den Worten der Queer-Theoretikerin Eve K Sedgwick, die „Beziehungs- und Interpretationsstrategien gegenüber sich selbst und anderen“. Und eine dieser Beziehungen ist für mich die zu meinen Brüsten.

Mein Körper ist straight-bodied und weiß, meine Brüste sind, gemessen an landläufigen Schönheitsnormen, nicht zu klein und nicht zu groß. Mir ist das Begehrtwerden als „Frau“ vertraut, auch wenn es sich immer an mir vorbei angefühlt hat. Ich erinnere mich, dass Männer mich sexualisiert haben, als wäre ich einem Amateurporno entsprungen, und tatsächlich waren meine wenigen Hetero-Erfahrungen von einem hohen Maß an make-believe geprägt. Sie waren eine ausgeklügelte Performance, ein Femme-Drag, von dem nur ich wusste und für das ich sogar vor mir selbst keine Sprache hatte.

Friends, die mir noch nie ein explizites Kompliment zu meinem Körper gemacht haben, sagen mir jetzt, dass sie meine Brüste hot finden. Exfreundinnen bekommen, bevor sie die Kontrolle über ihre Mimik wiedererlangen, einen leidenden Gesichtsausdruck, wenn ich ihnen von meiner bevorstehenden Mastek erzähle. Ich habe Angst davor, wie mein Körper noch begehrt werden wird, in den Wochen nach der OP, wenn ich mich kaum bewegen können werde, vor den Jahren, möglicherweise bis zu meinem Lebensende, in denen mein Äußeres kein kohärentes, begehrenswertes Geschlechterbild abgeben wird.
Über zwanzig Jahre waren meine Brüste zentral für meine Identität, die Art und Weise, wie ich mich anziehe, und mich in der Welt bewege. Dafür, wie ich den auf mich gerichteten Blick anderer interpretiere. Wie kann ich sie gebührend verabschieden?

Es gibt viele Dinge, die ich mit meinen Brüsten nicht gemacht habe: Es hat nie jemand auf meine Brüste ejakuliert, es hat noch nie jemand ein phallisches Objekt zwischen meine Brüste gesteckt. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, ich habe nie einen Push-up-BH besessen. Meine Brustwarzen wurden noch nie von einer Nippelklemme umfasst, sie wurden nie von einem spitzen Gegenstand durchstochen, ich habe meine Brüste nie benutzt, um ein Kind zu stillen oder das Gesicht eines Lovers zu smothern. Ich will das alles nicht, aus guten Gründen. Und so schreibe ich weiter an meiner Liste, fotografiere mich oberkörperfrei und packe die Aufnahmen in eine Box mit der Aufschrift „Transition Byes”.

Ich freue mich auf so vieles, das kommt. Ich lege die drei Sport-BHs, die ich noch besitze, zu den Nacktfotos in die Box. Ich suche nach engen Hemden und kaufe twinky Oberteile, auf denen in silbernen Pailletten „Sex“ prangt. Ich gehe in die Sauna und stelle mir vor, dass es das letzte Mal ist, dass jemand außer meinen Lovers diese Brüste sehen wird.
Bye-bye, Boobs, es war mir kein Vergnügen. 




Apropos Abschiede:

Das Missy Magazine steckt in einer finanziellen Krise, daher werden alle Onlinekolumne bis auf Weiteres eingestellt. Leider ist das damit also die vorerst letzte Ausgabe von „Triple Water“ – it has been a blessing!

Da ich gerne weiterschreiben möchte, starte ich im Dezember einen Newsletter. PROCESSING widmet sich Testo, Texten und Trauma – und weiteren Auseinandersetzungen, die wir mit uns selbst und anderen haben.

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