Die Briefkastenangst
Von
T4T
Von

Als Jugendliche(r) der 1990er-Jahre bin ich in einem gleichermaßen sexpositiven wie auch verklemmten Klima aufgewachsen. Meine Eltern haben mich zwar früh aufgeklärt, hingen aber gleichzeitig in ihrer anerzogenen Scham, einigen Traumata und tief sitzender Heteronormativität fest. Ich verbrachte meine Teenagerzeit irgendwo zwischen Tomboy, Punk und dem Versuch, mich bestimmten Vorstellungen und Erwartungen an Weiblichkeit anzupassen. Neben einigen zaghaften queeren Versuchen landete ich hauptsächlich mit cis Männern im Bett und bediente ihre Fantasien.
Bis in meinen Dreißigern drei entscheidende Dinge passierten: Ich fing an, mich selbst zu befriedigen, erkannte, dass ich trans bin, und verliebte mich in eine andere nicht-binäre Person, Robyn. Zu diesem
Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie ich verlernen konnte, was ich in Bezug auf Begehren, Verführung und Sex bis dahin alles gelernt hatte.
Am Tag, an dem Robyn und ich unser erstes Date hatten, war ich dementsprechend mehr als nur aufgeregt. Die erste gemeinsame Nacht änderte sowohl, wie ich seitdem Sex habe, als auch meine komplette Selbstwahrnehmung. Das Entscheidende daran war auch nicht unbedingt der Sex selbst. Das Wichtigste war: Dey sah mich. Ich werde nicht vergessen, wie ich in Robyns Armen lag, die Venen an deren Armen bewunderte und ein geflüstertes „du bist so schön“ hörte. Dabei galten diese Worte nicht meinem Körper, sondern der unbändigen Freude, die ich fühlte. Durch Robyn erkannte ich, dass es beim Sex darum geht, sich auf die andere Person und vor allem sich selbst einzulassen. Es geht für mich nicht zwangsläufig um bestimmte Körperteile, sondern um Nähe und die Ekstase, die man sich gegenseitig schenken kann. In dieser Nacht verstand ich, dass ich meinen Körper für andere klein und zierlich gehalten hatte, dies aber nicht mehr konnte. Ich wollte Raum einnehmen. Es sollte beim Sex auch um mich und meine Befriedigung gehen. Außerdem sah ich, wie wunderschön körperliche Veränderungen durch mehr Testosteron und eine Mastektomie sein können, und bemerkte, dass ich genau das wollte. Ich realisierte, dass ich mich in meinem Körper nie zu Hause gefühlt hatte, und erhaschte das erste Mal eine Ahnung davon, was ich eigentlich brauchte. Nämlich, dass mich jemand versteht und mir in all der Verletzlichkeit und Nacktheit Geborgenheit gibt, ohne zu fordern, dass ich mich verstelle und performe. Ich fühlte, dass ich frei sein konnte. Ich strahlte innerlich, weil die Schublade aufgebrochen wurde, in die ich gesteckt worden war.
Es dauerte noch ein wenig, bis ich in meinen anderen sexuellen Beziehungen erkannte, dass ich dort nicht strahlte, nicht gesehen wurde. Meine Nicht-Binarität wurde nur so lange akzeptiert, wie ich mich weiblich genug gab. Je mehr ich meine Maskulinität auslebte, desto mehr bröckelte das starre Bild, das ich durch jahrzehntelange Zuschreibung von mir selber hatte. Und umso glücklicher wurde ich. Mittlerweile weiß ich, dass ich ein genderfluider und schwuler trans Mann bin, dass ich gerne mit Dominanz und Masochismus experimentiere und, dass ich, wenn ich Lust darauf habe, ein „good girl“ genannt zu werden, damit spielen kann, weil ich weiß, dass ich ein „good boy“ bin, und dies nie wieder verstecken werde.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/24.
Hetero-Beziehung und Monogamie: Wird es langweilig?
Von
Fotos/Illustration: Zora Asse
Von Anna Opel
Illustration: Zora Asse

Wir haben Kinder gezeugt, sie großgezogen, Reisen unternommen, Familienarbeit geteilt, Eltern zu Grabe getragen, Bandscheibenvorfälle auskuriert und – grob überschlagen – neunhundert Mal Sex gehabt. 25 gemeinsame Jahre in hetero Monogamie. Aber so langweilig, wie es klingt, war das gar nicht. Vor drei Jahren bin ich in die Wechseljahre eingebogen, mit nächtlichem Wachliegen, fliegender Hitze zu
jeder Tageszeit und trockener Haut. Die Menstruation hat aufgehört: nie mehr Tampons, nie mehr Angst vor noch mehr Kindern.
Das erste Kind kam ein Jahr, nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten, das letzte sieben Jahre später. Wunschkinder, jedes Mal toll, aber nach zwei Töchtern und einem Sohn haben wir Schluss gemacht mit der Reproduktion. Es gibt noch mehr zu tun im Leben. Zu manchen Zeiten waren auch die Gelegenheiten rar. Kleine Kinder schliefen schlecht ein, lagen jahrelang zwischen uns im Bett und machten insgesamt viel Arbeit. Große Kinder hingen wochentags bis kurz vor Mitternacht im Wohnzimmer rum, daddelten neben unserem Schlafzimmer oder quatschten laut auf Discord herum.
Jetzt ist das Nest leer und wir sind erwacht wie Dornröschen nach hundert Jahren Schlaf. Ich versuche, nicht an die Zahl zu denken, die mein Alter benennt, eher daran, wer ich bin. Eine, die ihre Kraft nach außen trägt, die was vom Leben will. Eine, für die Sex Austausch ist, Energie, Zirkulation von Blut; Trost und Verschmelzung. Die Libido macht nicht alles mit. Zu viel Stress ist schlecht, und wenn ein neuer Krieg beginnt. Als eine Freundin vor wenigen Wochen auf tragische Weise ums Leben kam, konnten wir nicht miteinander schlafen. Irgendwann kam der Sommer, der Schmerz ließ nach.
Was sind wir jetzt als Paar? Im Alltag gehen wir öfter getrennte Wege, freuen uns dann beim Wiedersehen. Sex haben wir eher am Morgen, weil wir abends müde sind. Mein Partner ergreift fast immer vor mir die Initiative, ich habe dafür mehr Spaß, so kommt es mir vor. Unsere Sexgeschichte ist unspektakulär. Wo es früher explosiv war, ist es jetzt intim, oder bilde ich mir das ein?
Sex ist für uns beide unterschiedlich gelagert. Als ich letztes Jahr für ein paar Wochen in New York war, fürchtete mein Mann, ich könne dort in erotischer Hinsicht auf Abwege geraten. Für mich ein seltsamer Gedanke, ich schau mich zwar gern um, will aber eher nicht, dass etwas passiert. Und ich hatte anderes zu tun. Als ich einen jungen Mann in Manhattan nach dem Weg fragte, bot er mir an, gegen Geld mit mir zu schlafen. Ich musste lachen. Ein kleines bisschen hat es auch wehgetan. Ich habe mich gefragt: Kann es Zufall sein, dass ich ausgerechnet ab dem Moment nicht mehr als sexy gelte, in dem ich unfruchtbar geworden bin? Alle Indizien deuten darauf hin. Ich fass es nicht. Doch ich komme auch ganz gut drüber weg, denn die Postvervielfältigungsphase hat ihre guten Seiten: nicht mehr angeglotzt werden. Keine Kommentare zu meinem Gesichtsausdruck von x-beliebigen Typen, kein Mansplaining, wenn ich ohne Begleitung mit Sektglas auf einem Empfang rumstehe. Mega! I can totally do without it. Mein Sexleben ist nicht das originellste, aber darum geht es mir auf lange Sicht nicht. Die Instrumente sind eingespielt und unser Sex heilt mich, lädt mich auf. Fuck the pain away. Wir können jetzt laut sein. Die Kinder sind aus dem Haus.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 05/23.
Komm schon?
Von
Fotos/Illustration: Zora Asse
Was ist Sex? Das ist doch die Penetration einer Vulva mit einem Penis, oder? Rein, raus, uh, ah, Sperma im Kondom und die Frau hat gestöhnt, zwei Orgasmen – meist mindestens einer davon gespielt. So klar war das Skript für uns, bevor wir das erste Mal queeren Sex hatten. Wir, das sind zwei gender-non-conforming Personen mit Vulva. Bevor wir sexuell intim miteinander waren, hatten wir beide nur heteronormativ-sexuelle Erfahrungen an der Hand:
Was vorher Handjob war und als Petting galt, wurde von uns jetzt als Bestandteil von Sex definiert und nicht mehr nur als Vorspiel. Alles war neu und anders und umwerfend, und Freund*innen haben unser Sexleben als Gesprächsthema gemieden, weil zu viel sexuelles Wohlbehagen unsererseits für sie wohl etwas klebriger Gesprächsstoff war.
Wir beide waren also super happy mit den neuen Spielräumen, die Queerness (was auch immer das für Einzelne genau bedeuten mag) uns geboten hat. Und dann sind wir doch irgendwann von unserer Wolke runtergekommen. So ganz in Ruhe wollte uns die Gesellschaft in unserer kuscheligen queeren Privatsphäre doch nicht lassen. In dem Moment, in dem wir hinterfragten, ob es eigentlich „normal“ war, dass wir beide beim Miteinanderschlafen keinen Orgasmus hatten, haben sich normative Vorstellungen von Sex zurück in unsere Interaktion geschlichen: „Hä, bist du eigentlich schon mal gekommen?“ „Nee, du?“ „Nee, auch nicht. Aber warte, was meinst du eigentlich? Bist du nicht sexuell befriedigt?“ „Doch, voll!“ Unsere emotionalen und körperlichen Bedürfnisse waren noch nie so verwöhnt, liebkost, befragt und beantwortet worden. So richtig mit Kommunikation und so. Wer braucht da noch Orgasmus?Obwohl sich alles richtig anfühlte, meldeten sich die kulturellen Normen: „Ey, ihr failt. Euch fehlt was. Ihr macht was falsch. Wo bleibt der Orgasmus? Reißt euch doch mal zusammen. Kommt!“
Plötzlich gab’s den Druck, unser Sex müsste irgendwo hinführen. Es gab auf einmal ein Ziel. Alles wurde unentspannt, Unsicherheiten am eigenen Körper krochen mit ins Bett, Zweifel an unseren „Fähigkeiten“ kamen auf und Dinge wie Erwartungsdruck erschwerten die Kommunikation. Statt zwei sich feiernder queerer Personen war da auf einmal dieser schamvolle Gap zwischen uns…. Also Google befragen: „Was tun, wenn beim Sex keine*r kommt?“ Weil, Google hat auf alles eine Antwort: „Entspannt euch. Kommt mal runter. Wichtigste Zutat: kein Stress! Wenn das nicht hilft, hier gibt’s diverse Anzeigen für Sex-Toys mit Bedienungsanleitung, da könnt ihr nichts falsch machen. Und sonst vielleicht einfach mal was Neues ausprobieren?“
Dann haben wir gemerkt, dass die Frage schon falsch gestellt war. Wir meinten eigentlich: „Muss da überhaupt etwas getan werden?“ Was, wenn wir beide auch ohne Orgasmus zufrieden sind? Eigentlich hatten wir nach einer Plattform für eine Definition von Sex gesucht, die ohne Orgasmus auskommt. Das Internet hatte kein Empowerment für uns parat, also zurück zur queeren Definitionsmacht. Kann Sex nicht einfach das sein, was die beteiligten Personen darunter verstehen wollen? Sex ist nicht immer Penetration, Sex findet nicht nur an/um/mit den Genitalien statt. Sex ist Kommunikation, ist zärtliches Streicheln am Arm, ist gemeinsames einvernehmliches Herausfinden, Sex kann zwischen Achselhöhlen und Kniekehlen stattfinden. Ganz so, wie jede*r Einzelne das für sich bestimmen will.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 05/20.
Die Wunde
Von
Von Juri Wasenmüller
Illustration: Zora Asse
Soziale Herkunft stelle ich mir wie eine Matratze vor. Sie kann dicker oder dünner sein und Menschen fallen dementsprechend härter oder weicher. Vor zwei Jahren bin ich beim Bouldern gestürzt und habe mir, obwohl abgefedert durch Sportmatten, das Fußgelenk dreifach gebrochen. Ich hatte keine Ahnung vom Bouldern und noch weniger vom Landen, hatte es aber trotzdem irgendwie nach oben geschafft. Ein guter Einstieg für einen Text über Klassismus. Denn dass nach sechs Wochen Gips nicht alles wieder ganz war, sondern ich mich über acht Monate im Rollstuhl und auf Krücken durch orthopädische Praxen
schleppte und mehrmals operiert werden musste, hat mit meiner sozialen Matratze zu tun.
Ich wurde operiert, meine Knochen mit Titanplatten verschraubt und ich durfte wieder gehen. Den Rollstuhl besorgte ein Freund über Ebay-Kleinanzeigen. Vermutlich hätte man ihn bei der Krankenkasse beantragen können, aber ich war Anfang zwanzig und hatte keine Ahnung davon, was mir zusteht. Niemand nahm sich die Zeit, mit mir darüber zu sprechen. Zur Nachbehandlung googelte ich die nächstgelegene orthopädische Praxis. Ich kam nicht auf die Idee, nach Empfehlungen für eine „gute“ Praxis zu fragen. Die Wunde heilte schlecht, nach mehreren Wochen war sie immer noch offen. Ich machte mir Vorwürfe: Hätte ich in ein anderes Krankenhaus gehen sollen? Hatte ich eine Anweisung der Orthopädin falsch verstanden? Bei Nachfragen wurde ich unterbrochen, den Medizinsprech verstand ich nicht. Dabei habe ich sogar studiert. Wie muss es erst Menschen gehen, die vor größeren Sprachbarrieren stehen?
Letztlich stellte sich heraus: Meine Orthopädin hatte nicht bemerkt, dass sich die Fäden nicht auflösten und die Wunde zwei Monate nach der OP entzündet und voller Plastikstücke war. Ich wechselte die Praxis, leider ohne Aufstand. Ich habe nie gelernt, die Autorität von Ärzt*innen infrage zu stellen. Weitere Fehl- bzw. Nichtdiagnosen folgten, bis eine Freundin, die selbst Medizin studiert, ihrem Großvater, einem pensionierten Orthopäden, ein WhatsApp-Foto von meiner Narbe schickte. Seine Ferndiagnose: sofort ins Krankenhaus. Ich blieb drei Wochen stationär und wurde drei Mal operiert. Die Freundin war ab jetzt bei allen Krankenhausgesprächen dabei. Zum ersten Mal erlebte ich, dass sich ein Chirurg kurz setzte, um nicht von oben herab mit mir zu sprechen. Zur Nachbehandlung fuhr ich diesmal in eine Praxis am anderen Ende der Stadt. Der Vater eines Freundes arbeitete dort.
Meine ersten guten Erfahrungen mit Ärzt*innen machte ich also aufgrund von Connections. Ich habe die nun. Meine Eltern und Verwandten nicht. Das Gesundheitssystem in Deutschland ist ein Klassensystem. Es unterscheidet zwischen Menschen ohne, mit gesetzlicher und mit privater Krankenversicherung. In einer Studie am Uniklinikum Leipzig beschäftigten sich Mediziner*innen und Sozialpädagog*innen 2015 mit dem expliziten Zusammenhang von Klassismus und Gesundheit. Ihr Fazit: „Je geringer die Bildung der Eltern, desto schlechter geht es den Kindern.“ In einem Interview mit dem Radio Corax aus Halle sprach der Chef der Uni-Kinderklinik Leipzig darüber, dass Kinder in sogenannten bildungsfernen Haushalten schlechter ernährt werden, weniger Sport machen, die Eltern öfter rauchen. Damit reproduzierte er jede Menge klassistische Bilder und schlug dann als Lösung vor, wieder mehr Gemüse in Schrebergärten anzubauen. Hürden beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und im Umgang mit Ärzt*innen sah er nicht als Problem.
Wahrscheinlich könnte ich fast alle beteiligten Ärzt*innen meines Fußdramas verklagen. Aber dafür müsste ich mich mit Jura auskennen oder meinen Anwaltonkel anrufen, den ich nicht habe.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/20.
Pfropf!
Von
Von Jennifer Beck
Nein, ich habe noch kein Kind geboren, aber man hat ja Vorstellungen. Jedenfalls ist das, was ich regelmäßig rauspresse, deutlich mehr als nach drei Mahlzeiten und einem Kaffee das Licht der Welt erblicken sollte. Es schmerzt, es suppt, es stülpt sich was aus. An okayen Tagen will der Pfropf nur mal frische Luft schnappen und zieht sich danach von alleine in seine Höhle zurück. An allen anderen muss ich groß. Dann hängt er da rum und will gedrückt werden, also packe ich drei Lagen softes Klopapier zwischen uns und geleite ihn mit zärtlicher Gewalt über die Schwelle Richtung heimwärts. Aber eigentlich hört er auch dann nie auf zu klopfen.
Ja, ich habe eine Hämorrhoide. Es könnten auch drei sein, die irgendwann beschlossen haben: Gemeinsam sind wir stärker. Auf jeden Fall ist sie groß, sehr groß, ein echtes Rolemodel, was das angeht, denn sie fragt nicht höflich, sie nimmt sich einfach: Platz zum Wachsen. Und manchmal, beim Sex, guckt sie sich frech um im Raum, will hallo sagen, will: dabei sein. Ich rede mir dann ein, dass er ohnehin zu woanders ist in diesen Momenten, um den Dreier zu bemerken. Aber ich kann nicht ausblenden, dass sie immer mitperformt, die rosa Blüte aus Blut, sich in ihrem besten Licht zeigen will, in voller geschwollener Pracht. Also drehe ich meinen Hintern weg von der Lampe.
Wir sprechen über alles. Wirklich alles und damit meine ich am liebsten über Stellen, die wir alleine nicht sehen können: Pusteln, Knubbel, „wildes Fleisch“, was uns gerade juckt eben, und wo, über dermatologische Altlasten und Neuentdeckungen aller Spielarten, und immer finden wir uns danach noch ein bisschen schöner. Nur: Hämorrhoide. Allein das Wort. Da stecken die Hemmungen ja schon drin und irgendwas mit Diarrhoe. Und wo ich gerade so einen Lauf habe: Ich plane keine Urlaube, aber Stuhlgänge. Es dauert, es tut weh. Ich fühle mich danach immer schmutzig, und ich fühle mich immer sehr allein damit.
Die Wartezeiten beim Prokto-Doc sagen das Gegenteil. Sogar schon mehrfach bekannten Gesichtern in der Terminschlange begegnet und offen über alles geplaudert, ungefähr so:
„Haha, hier trifft sich das Kulturprekariat also. Wir sind ja alle am A.“
„Haha, ne, bin wegen Eisenmangel da. Aber musst dich wirklich nicht schämen.“
Und einen Anus-Smalltalk weiter auf der Pritsche gleich noch mehr gelacht und noch mehr gelogen: Haha, ob er eine intime Frage stellen dürfe. Nein, keine Nüsschen gegessen, kein Alkohol seit Monaten und immer schön feucht abgeputzt, aber Gegenfrage: Sie haben zwei Drittel Ihrer Hand im Arsch, wie intim kann’s denn noch werden? Analverkehr. Na sicher! Also nein, also doch, also einmal, aus Versehen, war ja dunkel, da habe ich geweint und das Höschen konnte ich wegschmeißen danach.
Weil die validen Zahlen fehlen („nahezu die Hälfte kennt das Problem“, „das heimliche Volksleiden“, Quelle: AOK), habe ich mich im Bekanntenkreis umgehört: Er ist durchsetzt von Stadium 3. Irgendwas zwischen einmal wöchentlich Spritze in den Hintern also und vielleicht doch mal über Schnippeln nachdenken, auch Lichttherapie möglich, im Reißverschlussprinzip, aber in jedem Fall: Donut-Sitzkissen für mehrere Wochen. Mit anderen Worten: Beziehungspause oder Po zur Lampe.
Also: Termin gemacht zum Über-ALLES-Reden. Klar, immer gerne und über alles, nur morgen sei es schlecht, da müsse er einen Freund zur Op begleiten, eine Fistel am Po.
„Mmh, unangenehm. Wünscht man ja auch niemandem, aber gut, dass dein Freund jemanden hat, der da so offen ist.“
„Wär’ ja noch schöner, wenn man sich dafür schämen müsste.“ „Mmh ja, echt das Letzte!
Weißt du, apropos.“
„Klar du, weiß ich. Manchmal sagen wir uns hallo.“