Von Lisa-Marie Davies

Eine Frau sitzt in einem Zug und fährt nach Deutschland – jenes Land, in das sie vor Jahrzehnten aus Italien kam. Sie liebt das Großstadtleben und die Freiheit, nicht zuletzt in der Liebe. Doch als sie den deutschen Pass beantragt, stößt sie in ihrem alternativen und linken Umfeld auf Verwunderung: Was denn so ein Pass ändere? Und warum sie ihn unbedingt haben wolle?

© Nane Diehl

Vor einem Dreivierteljahr bin ich bei Herrn Hoff vorstellig geworden und habe die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Der blätterte mit mir den Antragskatalog durch, Seite um Seite, zeigte mir Kästchen um Kästchen, bis mir die Augen flimmerten, und machte Häkchen bei den Formularen, die ich zu besorgen hatte. Zuletzt drückte er mir einen Einzahlschein in die Hand und sagte, dass das Geld auch ohne positiven Ausgang bei der Behörde bleiben würde.
Was würde sich ändern?
Würde sich etwas ändern?
Einige Monate vergingen. Dazwischen sollte ich immer mal wieder einen Einkommensbescheid vorbeischicken. Das also blieb wichtig: die Höhe der Summe auf meinem Konto.
Es wurde Sommer; ich fuhr nach Hause, in die Berge zu meiner Mutter.
Schließlich flatterte der Bescheid ein.
Ich buchte einen Fahrschein zurück, wieder ging es nach Hause, diesmal nach Berlin.

Als sechs junge Männer an der italienisch-österreichischen Grenze einsteigen, stellt die Erzählerin fest: Es ist ein Privileg, sich in Europa sicher zu fühlen und nicht Schutz suchen und um jeden Preis um eine Aufenthaltsgenehmigung kämpfen zu müssen. Sie berichtet darüber, wie die Fahrt der Männer plötzlich endet und wie sie selbst eingebürgert wird – aber auch von Menschen, die ihr sagen, dass sie keine „richtige“ Deutsche sei, oder sie fragen, warum sie ihre eigene Geschichte nicht als Migration beschreiben könne.

Die freie Welt, wie wir sie uns denken, hat mit ihrer, die wir uns ausschließlich als bedrängte vorstellen, nichts zu tun. Für sie soll gelten: „Niemand geht freiwillig.“ Für uns darf gelten: „Jeder kann seinen Ort auf dieser Welt suchen, so oft, wie er mag oder muss.“

Maxi Oberer „Europas längster Sommer“
Verbrecher Verlag, 112 S., 19 Euro

Was bedeutet Identität, Europa, Mensch sein? Auf nur 112 Seiten gelingt es der in Südtirol, Italien geborenen und in Berlin lebenden Autorin Maxi Oberer, die mit ihrem Buch beim diesjährigen Bachmannpreis-Wettlesen vertreten war, diese Fragen zu thematisieren. Sie schafft einen Romanessay, der neue Gedanken wagt – darüber, wie Europa sein müsste, damit die einen Menschen nicht mehr privilegiert und die anderen nicht mehr benachteiligt sind. Die Handlungen und Gedanken werden spannend erzählt und nehmen die Leser*innen mit. Ein Buch, das in diese unsichere Zeit passt: klug, nachdenklich, bedrückend und gleichzeitig doch ermutigend.