Die Stimmung auf der Veranda und im Foyer der Dampfzentrale – Spielort der Eröffnung des diesjährigen Berner Theaterfestivals AUAWIRLEBEN – wird getragen von heiterem Gläserklirren, aufgeregtem Küsschen-hier-Küsschen-da und aufgebrachter Lockerheit, mensch kennt, freut und begrüsst sich. Noch ahnen die zahlreichen begeisterten Gesichter nicht, welcher lebensfeindliche Schneesturm sich demnächst unter ihren ungläubigen Blicken zusammenbrauen wird.

Zunehmend nervös staut sich die Menge vor der Türe zum Saal. Die Heiterkeit verkrampft sich für einige Minuten, die Ellenbogen werden etwas spitzer. Doch die Erlösung kommt und entspannt dürfen wir endlich rein preschen und uns den besten Sitz ergattern. Nochmals wird gewinkt, gegrüsst und geküsst. Dann endlich haben alle ihren Platz gefunden. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt und so startet das Spektakel mit einiger Verspätung. – Dafür umso heftiger. Unvermittelt werden wir in die eisige Bergwüste irgendwo weit nördlich des Polarkreises katapultiert.

Mit der Verdunkelung des Saals sinkt auch die empfundene Temperatur weit unter den Gefrierpunkt. Der Eiswind pfeift uns um die Ohren und die Fröhlichkeit bleibt im Halse stecken, wenn eine verlorene weibliche Gestalt ein schreiendes Menschenbündel unter ihrem Wohnwagen im Schnee verscharrt. Diese Verzweiflung und Brutalität, diese Kälte. War es ihr eigenes Kind? War es nur ein Traum? Oder eher ein Blick in die alptraumhaften Abgründe des Inneren dieser Person?

In den nächsten 80 Minuten müssen wir uns diese Fragen immer wieder stellen und werden damit, genau wie die ProtagonistInnen des Stücks, auf uns selbst zurückgeworfen. (Lest hierzu Noras Suche nach Ansatzpunkten auf ebendiese Fragen.) An diesem öden und düsteren Ort kämpfen drei Frauen und ein Mann um ihr Überleben – als Gemeinschaft, als Paar, als Individuen. Eine ältere Frau, eine junge schwangere Frau und ein junges heterosexuelles Paar arrangieren sich in der Nachbarschaft ihrer lottrigen Wohnwagensiedlung mehr schlecht als recht. Daran verbessert auch die Ankunft zweier mit Koffern vollbeladener Koreaner nichts.

Es entwickelt sich eine Dynamik von Annäherung und Abgrenzung, von Anziehung und Abstossung, in der die Heftigkeit des Daseins ihren Lauf nimmt. In diesen Kollisionen, welche sich zwischen den isolierten Gestalten ereignen, scheint die potentielle Gewalt Regie zu führen. Dabei zeigt sie sich in ihren subtilsten und handgreiflichsten (un)menschlichen Gestalten. Sie reicht von der Verweigerung von Freundschaft und Zuneigung über Blossstellung und Verrat, von Schlägen in der Beziehung und Drohgebärden mit Jagdwaffen bis zum gewaltsamen Abort. Sie richtet sich gegen Gruppen und gegen Individuen, sie richtet sich von Männern gegen Frauen und von Männern gegen Männer, und immer wieder von Individuen gegen sich selbst. Dazwischen flackern positiver Lebenswille, Zärtlichkeit und Verbundenheit immer wieder auf und führen zu bisweilen grotesken Situationen.

In diesen Momenten scheint die Temperatur zu steigen und das gedämpfte Polarlicht etwas heller zu werden. Das Publikum lacht dann beinahe erleichtert über soviel Absurdität. Doch allzu wohl fühlen wir uns nicht dabei. An diesem tristen Ort gibt es keine Sicherheit und mit der nächsten Bewegung kann die Geschichte wieder abschlittern in die allzu menschlichen Abgründe. Bis zum bitterschönen Ende.

Die Handlung, die eher eine Situation erzählt, eine Befindlichkeit der Isolation darstellt, wird in wunderschön surrealen Bildern von einem Ensemble getanzt, das ganz und gar überzeugt. Dies sieht auch das Publikum so und applaudiert den KünstlerInnen minutenlang wärmstens. Wir treten darauf wieder ins Freie unter den mittlerweile bewölkten Nachthimmel und sind wieder aufgekratzt, begeistert und gesprächig. Doch an der Heiterkeit klebt etwas Schnee und wir lachen im Bewusstsein, dass uns Peeping Tom mit 32, rue Vandenbranden gewiss eine surreale, aber keineswegs unrealistische Lebenswirklichkeit gezeigt haben.

http://www.auawirleben.ch/ruevandenbranden.html

Regula