Interview von Juli Katz

Dass es so schwierig werden würde, eine Auswahl an Essays für „Bitch Doktrin“ zusammenzustellen, hätte die englische Feministin und Aktivistin Laurie Penny nicht gedacht. Ihr neues Buch, das am 06. September 2017 auf Deutsch erschien, enthält ein Viertel der Texte, die sie zwischen 2013 und 2016 schrieb: Es geht um die US-Präsidentschaftswahl, Barbies Oberschenkellücke, die Konstruktion von Frauen*bildern und toxische, weiße Männlichkeit. Bei einer Tasse Tee erzählt Laurie Penny, wie man Angst ummünzen kann, warum „normal“ nicht dasselbe bedeutet wie „okay“ und wieso Sprache auch feministisches Kampfgebiet ist.

Flickr/Rosa Luxemburg-Stiftung/CC BY 2.0

Laurie Penny, vor einigen Wochen saß ich in einer Pizzeria. Ein Freund fragte, ob wir schon „The Fall“ kennen; eine Freundin meinte, sie fände die Serie nicht so spannend, weil sie das Narrativ schon hundertmal gesehen habe. Der Freund antwortete: Hey, ihr hattet eure feministische Perspektive gerade erst bei „Wonder Woman“. So, als ob eine dieser Geschichten stellvertretend für alle wäre und erst mal genügen müsste. Passiert dir das auch manchmal?
Meinst du, dass Leute sagen, jetzt reicht’s aber wieder mit dem Feminismuszeug? Klar ist „The Fall“ eine TV-Show mit einer feministischen Perspektive; aber die ist so unterschiedlich zu „Wonder Woman“, wie man es sich nur vorstellen kann. Es ist ja eher eine Mystery-Serienmörder-Serie, die unfassbar düster ist und von „sexual empowerment“ erzählt – und „Wonder Woman“ ist ein nicht mal besonders innovativer Superheld*innenfilm. Das einzig Neue daran ist der „female lead“. Storys mit Frauen* in komplexen, nuancierten Rollen oder Storys mit einer antipatriarchalen Agenda nur als Trend zu zählen, ist sogar gefährlich. Denn bei diesen „neuen“ Storys, die von Frauen*, queeren Personen oder People Of Color besetzt sind oder geschrieben werden, geht es nicht einfach um eine krasse Agenda, sondern um qualitativ verdammt gute Geschichten. Der Grund dafür, wieso die sich so frisch und neu anfühlen, ist leider, weil wir sie vorher noch nicht gehört haben. Sie als Identitätspolitiken oder Trends abzuschreiben, ist ziemlich traurig. Wer so denkt, verpasst den besten Content, der überhaupt gerade produziert wird.

Einen Punkt hat dieser besagte Freund aber gemacht, mit dem du einverstanden sein dürftest: Wenn wir neue Storys sehen wollen, müssen wir sie schreiben, umsetzen, kreativ werden, Filme daraus machen und sie vor allem erzählen.
Das liegt so ziemlich in unser aller Verantwortung. Ich habe den Eindruck, dass viele von uns gerade jetzt verstehen, dass unsere persönlichen Geschichten es wert sind, erzählt zu werden, auch wenn sie nicht in die Standardnarrative passen, die wir die ganze Zeit erzählt bekommen; z.B. wie eine gute Geschichte auszusehen hat. Diejenigen, die gerade die aufregendsten Stories im TV, in Filmen, Büchern oder Comics erzählen, machen damit auch aktivistische Arbeit, auch wenn sie selbst es gar nicht so sehen, weil es ihnen wahrscheinlich erst mal um den Stoff geht. Du kannst die Welt ändern, wenn du die Story änderst.

Darum geht’s auch in deinem „Letter to my liberal friends“ von Mitte August: wieso jetzt nicht unbedingt der beste Zeitpunkt ist, es sich in der „comfort zone“ gemütlich zu machen. Welche Art von Aktivismus willst du denn sehen?
Es ist nicht mein Job als Autorin, irgendjemandem zu erzählen, wie er oder sie ihren Aktivismus gestalten soll und welcher was wert ist und welcher nicht. Oberste Pflicht ist, dass du dir selber nicht erzählst, dass die Sachen momentan okay sind, wenn du einfach die Schotten dichtmachst und die Augen verschließt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich für Veränderung einzusetzen oder irgendwie damit umzugehen, dass es gerade so hoffnungslos aussieht. Du kannst einer politischen Partei beitreten, wenn das dein Ding ist; Straßenaktivistin werden oder schreiben. Wichtig ist, dass man überhaupt irgendwas macht; wir testen ja gerade erst, wie man Politik auf neue Art gestalten kann. Hab die Sachen klar, die dir wichtig sind, und rede mit Freund*innen und deiner Familie drüber. Das hilft mir zumindest.

Dein Buch beginnt mit einem Journal zur US-Präsidentschaftswahl letzten November. Du beschreibst die Angst, in der Menschen auf der ganzen Welt am nächsten Morgen aufgewacht sind – Angst um sich selbst, die eigenen Kinder oder die Zukunft des kompletten Planeten, der jetzt mitunter in Verantwortung eines Psychopathen liegt, der „pussy grabbing“ okay oder witzig findet. Siehst du jetzt, neun Monate später, auch positive Folgen dieser Angst?
Eigentlich habe ich den Eindruck, dass sich die Leute ihrer Angst gestellt und eher damit gearbeitet haben, um neue Netzwerke zu schaffen; sie haben sich der neuen Regierung nicht unbedingt entgegenkommend gegenüber verhalten. Das kenne ich von UK nicht so. Aber die Versuchung, darauf zu vertrauen, dass Institutionen das alles schon hinbiegen werden, gibt’s eben auch; also das verzweifelte Warten auf eine Amtsenthebung. Weil man bisher immer erzählt bekam, dass Politik so funktioniert. Man versucht, diese neue Welle der White Supremacists in einem autoritären Regierungssystem zu rationalisieren. Es gibt immer noch Leute, die nicht glauben, dass das in den US passieren kann. Gerade in Deutschland darüber zu sprechen ist interessant, weil jede*r hier damit aufwächst, dass genau das eben doch passieren kann – auch in der zivilisiertesten, demokratischsten Gesellschaft. Menschen tun sich alle Arten mentaler Gymnastikübungen an, um sich einzureden, dass man eben nix machen muss und sich die Sache von selbst zum Guten wendet. Aber Dinge klappen nicht einfach so, wenn du nix dafür tust. Oder es zumindest versuchst.

Von dieser Normalisierung schreibst du auch – also dem Versuch, sich einzureden, Sachen seien normal, um irgendwie damit klarzukommen.
Das neue „normal“, ja. Vielleicht ist das nur persönliche Erfahrung, aber ich glaube nicht, dass so viele Leute wie befürchtet jetzt beschlossen haben, dass das jetzt das neue „normal“ ist – und dass „normal“ dasselbe bedeutet wie „okay“. Mein Eindruck ist eher, dass man jetzt darüber nachdenkt, wie es weitergeht und was wir tun können. Das ist ja auch okay, wir müssen nicht sofort alle Antworten haben. Aber gerade in diesem Moment crashen zwei Hurrikans über den Süden von US-Amerika. Millionen von Menschen wurden schon evakuiert, Tausende sitzen in Fluchtunterkünften. Die Regierung braucht sehr lange, um darauf zu antworten, weil sie sich nicht um arme Menschen sorgt. Jetzt denkt man eben noch mal über die Story nach, die man sich seit einiger Zeit über den Klimawandel erzählt, und was passiert, wenn die Regierung nicht zu Hilfe kommt. Ich frage mich, was das ändern wird. Beim Hurrikan Katarina hat’s ja auch nichts geholfen – und das war vor zwölf Jahren. Aber plötzlich geht’s auch um sehr viel mehr weiße Menschen.

Wenn du dir Donald Trump anschaust – ist es leichter, sich jetzt zusammenzuschließen, weil Probleme ein Gesicht bekommen?
Manchmal gibt es die Wahrnehmung, dass das eher eine akute Krise ist statt einer chronischen. Donald Trump ist ja ein ziemlich einfach zu identifizierender Gegner und das war für viele aufschlussreich, die vorher nicht wussten, wogegen sie ihre Kraft richten sollten. Progressiv gegen Klimawandel zu kämpfen ist manchmal härter, weil man sich sehr lange einreden kann, dass es nicht passiert oder uns nicht betrifft. Wenn aber ein Typ wie Donald Trump im Weißen Haus sitzt, hat das schon eher elektrisierende Kraft, weil man auf den mit dem Finger zeigen und sagen kann: Also, was der macht, da machen wir nicht mit. Ironischerweise war die Wahl eines solchen Typen vielleicht genau der Push, den die globale Linke gebraucht hat, um zu erkennen, dass das nicht Alltagsbusiness ist. Klar kommt das aus einer langen Tradition von Machtweitergabe in westlichen Demokratieren, aber dass er jetzt gewählt wurde – legal oder auf andere Art – war ein Weckruf.

Du bist den Women’s March in Washington neben einer Feministin gelaufen, die mit deiner Perspektive nicht sehr hohe Überschneidung haben dürfte. Priorisiert man dann also anders?
Wir müssen nicht alle dieselbe Meinung haben, um die gleichen Gegner zu bekämpfen. Die Momente, in denen die Linke das versteht, sind immer sehr mächtige. Klar kann man auch innerhalb Spannungen haben, die man ausdiskutiert, während man größere Ziele setzt. Da geht’s gar nicht darum, zu sagen, dass kleine Unstimmigkeiten nichts bedeuten oder unwichtig sind – davon sind wir weit entfernt. Es geht darum, auf keinen Fall zuzulassen, dass uns Streitigkeiten davon abhalten, größere Feinde zu bekämpfen. Wir haben auf der Linken ständig diese Fantasie davon, dass alle übereinstimmen und total harmonisch miteinander sprechen müssen. Aber hey: Das ist noch nie passiert und das wird auch nicht passieren. Es muss Platz für Uneinigkeit geben, die nicht zu gehässigen Aktionen führt.

2016 zum Beispiel war die Debatte groß, ob der Feminismus ein Problem mit Antisemitismus hat. Auch auf dich haben die Finger gezeigt. Welche Konsequenzen hatte das für dich und wo stehst du jetzt?
Ein großer Teil davon war ein Missverständnis, inwiefern ich mit der BDS- Bewegung involviert war, wovon ich übrigens nie Teil war. Für mich war das traurig, in der Öffentlichkeit so missverstanden zu werden. Darüber, welche Sprache ich in Deutschland nutze, habe ich sehr viel nachgedacht, weil viel davon Sprachschwierigkeiten waren und Dinge, die in Übersetzungen verloren gingen. Aber ich bin schon oft von verschiedenen linken Gruppen kritisiert worden – für Sachen, die ich gesagt oder eben nicht gesagt habe, oder die missinterpretiert wurden. Das war nicht das erste Mal und wird wahrscheinlich nicht das letzte Mal sein. Am Ende des Tages geht es darum herauszufinden, was deine Ideale sind, wie du sie vertreten kannst und zu verstehen, dass es auf einer breiteren Ebene nicht um dich geht. Ich glaube nicht, dass Feminismus ein Problem mit Antisemitismus hat – zumindest im Moment. Und ich glaube nicht, dass mich irgendwas, was mir begegnet ist, dazu geführt hat, das zu glauben; aber sehr wohl, dass es immer gut ist, die eigenen Motive auf die Probe zu stellen. Durch diesen Konflikt habe auch ich ironischerweise vor allem im letzten Jahr mehr Antisemitismus erfahren, weil Leute im Internet überraschenderweise plötzlich herausgefunden haben, dass ich auch jüdische Wurzeln habe. Ich mag’s einfach nicht, von Leuten, die nicht jüdisch sind, gesagt zu bekommen, wie ich die Religion und Kultur meiner Vorfahren ausleben solle. Ich glaube nicht, dass das angemessen ist.

In Deutschland hagelt es gerade Kritik an bestimmten queerfeministischen Positionen, manchmal sollen Safe Spaces ein bisschen zu safe und kuschlig sein, alles ist zu harmonisch, politische Korrektheit ein Problem.
Okay, das ist Bullshit und genau das, was du von der Rechten oder anderen neoreaktionären Zirkeln hörst. Das Ding bei Progressiven ist, dass man fortschrittlich sein muss. Und manchmal begegnest du Ideen, die auch dich selbst herausfordern, oder Leute, die unbequem für dich sind. Das kann eine neue Rhetorik des Queer Movements sein oder die Idee, dass Gender fluid ist. Es ist immer enttäuschend, wenn Menschen, die sich Befreiungschören verschrieben haben, ihr Limit erreichen und das rechtfertigen wollen. Aber Political Correctness ist ein Code, andere Leute mit Anstand zu behandeln – dahinter stehe ich hundertprozentig. Safe Spaces sind Codes für Räume für Personen, die eh schon die ganze Zeit attackiert werden. Ich kann nicht verstehen, was das Problem ist, wenn ein homophobiefreier Raum null Toleranz für Homophobie bedeutet. Trotzdem kenn ich das Argument und es passiert ziemlich oft, dass Mainstreamfeminist*innen oder Feminist*innen, die sich als radikal bezeichnen, einfach ein Echo der Sprache von Konservativen bilden. Das passiert auch in UK. Ich denke, dass sie sich selbst auf der falschen Seite der Geschichte finden – aber es braucht ein bisschen „space“ für sie, um das zu realisieren und falsch zu liegen. Ich glaube daran, Leuten eine Verwandlung zu erlauben.

Ist Sprache feministisches Kampfgebiet?
Total. Wörter sind Instrumente, mit denen wir neue Welten und Identitäten überhaupt erst konstruieren. Gerade gibt es in Großbritannien einen heftigen Streit darüber, wie man das genderlose Pronomen „they“ gebraucht, das auch ein Pluralpronomen ist. Einige Leute haben sich ziemlich darüber aufgeregt, weil das Wort eine neue Realität beschreibt, die sie noch nicht kennen. Genau wie mit dem Wort „hetereosexuell“. Bis hierhin dachten alle, sie wären „normal“ und alle anderen die Freaks. Es stößt dich natürlich vor den Kopf, wenn du dich plötzlich selbst in neuem Licht sehen musst. So lief es auch mit dem Zusatz „cis“ – also dass Leute sagen: Hey, ich bin nicht „cis-gender“, ich bin normal! Vor ein paar Jahren habe ich meinen Verlag überredet, das Wort „cis“ in mein Buch aufzunehmen. Zuerst hieß es, die Leute verstünden das nicht oder sind verletzt davon. Und deswegen sehe ich Sprache auch als Kampfgebiet, weil eine Menge der Politik, die wir momentan machen, überhaupt erst auf Wörtern basiert.

Dir wird oft vorgeworfen, dass du zu persönlich schreibst.
Komisch, dass man nie männliche Autoren dafür anklagt, zu persönlich zu schreiben, oder? Da heißt es dann einfach Literatur. Aber wenn Frauen* über persönliche Erfahrungen schreiben und erzählen, welche Dinge ihnen zugestoßen sind, nennt man es „confessional literature“. Ich entschuldige mich nicht dafür, weil ich überhaupt nicht versuche zu sagen, dass die Dinge, die ich erlebt habe, universelle Erfahrungen sind. Dass das Persönliche politisch ist, ist einer der ältesten feministischen Leitlinien – solange du sicherstellen kannst, dass das Politische nicht mit dem Persönlichen kollabiert. Und es gibt ein Limit dafür, was du mit einer Liste von Fakten machen kannst. Manchmal sind die einzigen Storys, mit denen ich mit anderen connecten kann, meine persönlichen. Also erzähle ich sie auch.

Vielen Dank.