Brian De Palmas Horrorfilm „Carrie“ (1976) gilt längst als Klassiker des Genres. 2013 ist Kimberly Peirce mit einer Neuverfilmung der Romanvorlage von Stephen King am Start. Was ihr dabei wichtig war, erzählte sie Julia Martin. 

Julia Martin: Warum haben Sie sich für die Verfilmung von „Carrie“ entschieden? Mit Brian De Palmas berühmter Kinoadaption ist die Messlatte von vornherein sehr hoch gesetzt.

Kimberly Peirce: Das Filmstudio hat mich gefragt, ob ich eine neue „Carrie“-Version machen möchte. Ich habe großen Respekt vor Brian De Palma, wir sind befreundet, und ich habe mich bei ihm versichert, dass das für ihn in Ordnung geht. De Palmas Verfilmung ist über vierzig Jahre her, und es ging mir nicht darum, ein Remake zu machen.

Ich habe die Buchvorlage von Stephen King erneut gelesen und mir wurde klar, welch phänomenaler Charakter Carrie White eigentlich ist. Sie ist eine Eigenbrötlerin, eine Außenseiterin, die sich nach Liebe und Akzeptanz sehnt, wie so viele von uns, und sie muss sich furchtbaren Hindernissen stellen. Sie wird in der Schule auf schreckliche Weise gemobbt, die sehr zeitgemäß ist. Zu Hause wird ihr auch von ihrer Mutter das Leben schwer gemacht: Diese ist eine außergewöhnliche Figur, die ihre Religion auf eigene Weise auslegt. Sie misshandelt sowohl sich selbst als auch ihre Tochter und glaubt, in Carrie stecke etwas Böses.

Nach der Lektüre dachte ich: Wow, hier gibt es Dinge, die sehr gut zu meiner Arbeit passen. Wäre der Roman von Stephen King erst jetzt herausgekommen, hätte ich dafür getötet, um daraus einen Film machen zu können. Ich wollte Carries Charakter nur wenig verändern – und die Mutter-Tochter-Beziehung anders aufarbeiten. Außerdem wollte ich die Geschichte einer Superheldin erzählen und den Handlungsstrang, in dem Carrie ihre Feinde verfolgt, ausbauen. Das Letzte, was ich wollte, war mit Brian De Palma zu konkurrieren.

Bemerkenswert ist, dass Sie die Story in die heutige Zeit verlegt haben: Im Film nutzen die Figuren zum Beispiel YouTube und Smartphones. Warum war Ihnen das wichtig?

Als ich Kings Buch las, war ich davon fasziniert, wie zeitlos die Geschichte ist. Heute sind wir davon besessen, unsere Erlebnisse auch online miteinander zu teilen. Schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte teilen wir alle Erfahrungen mit, wollen Geschichten erzählen. Vor diesem Hintergrund dachte ich, dass ich davon erzählen muss, wie heutzutage mit Handyfotos und Videos gemobbt wird. Im Film wird Carrie von ihrer Schulkollegin Chris nicht nur misshandelt, Chris zelebriert die Misshandlung auch noch, indem sie ein Video ins Internet hochlädt und andere Menschen downloaden lässt. Außerdem wollte ich die Demütigung von Carrie auf dem Abschlussball noch schlimmer darstellen. Der Eimer mit Blut ist ja heftig genug – aber was könnte noch schlimmer sein? Chris filmt diese Szene mit Carrie und überträgt sie auf einen Bildschirm, so dass es alle sehen können. Carrie kann dieser Situation nicht entkommen.

„Ich glaube, wir alle lieben eine gute Revenge-Story“

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Stephen King hat einmal gesagt, dass er „Carrie“ als eine feministische Geschichte betrachtet, in der eine Frau ihre eigene Kraft entdeckt. Wie denken Sie darüber? Ist „Carrie“ für Sie ein feministischer Film, und war es überhaupt Ihre Absicht, diese Story von einem feministischen Blickwinkel aus zu erzählen?

Für mich ist „Carrie“ sehr wohl eine feministische Geschichte. Feminismus ist ja, wenn man es aus einer akademischen Perspektive betrachtet, die Lehre davon, wie die Entmachteten Macht erlangen. Sicher ist Carrie Feministin, insofern ist sie eine Ausgestoßene. Durch ihre telekinetischen Superkräfte erhält sie jedoch Macht und emanzipiert sich. Zugleich ist es die Geschichte über die Beziehung einer jungen Frau zu ihrer Mutter, von zwei Frauen, die gemeinsam in einem Haus leben. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das von den anderen Mädchen in der Schule akzeptiert werden möchte. Die anderen Mädchen wiederum sind von Carrie besessen: Wann immer sie miteinander reden, oder auch, wenn sie mit ihren Freunden im Bett sind, drehen sich ihre Gedanken um Carrie. Im Film gibt es zwei heterosexuelle Sexszenen, in denen die Mädchen den Sex mit ihren Boyfriends unterbrechen, um über Carrie zu reden. Ich finde, es ist eine universelle Geschichte, an die jede Person anknüpfen kann, aber ich denke ganz gewiss, dass sie feministische Tendenzen hat.

Ist Carrie eher Opfer oder Monster? Wenn sie die Schule zerstört und Menschen tötet, reagiert sie dann nur auf ihr Elend oder ist sie eine böse Heldin mit dämonischen Kräften?

Ich glaube nicht, dass jemand einfach nur böse ist. Carrie ist ein zutiefst menschlicher Charakter, ihr wurden Liebe, Akzeptanz und noch einige andere Dinge im Leben verwehrt. Wir würden Carries Verhalten vielmehr als Rechtfertigung, als Gerechtigkeit oder Rache klassifizieren. Ich glaube, wir alle lieben eine gute Revenge-Story, sie verschafft uns Befriedigung. Carrie verfolgt die Leute, die sie verletzt haben, und dennoch werden Emotionen sichtbar: Sie empfindet Bedauern, hat Gewissensbisse. Sie tötet ihre Lehrerin nicht – auch wenn sie es könnte –, weil diese versucht hat, ihr zu helfen. Carrie möchte sich reinigen und mit ihrer Mutter zu einem Zustand von Glück und Trost zurückkehren. Sie ist ein sehr komplexer, moralischer und humaner Charakter.

Im Remake konzentrieren Sie sich sehr auf die Beziehung von Mutter und Tochter. So wird der Film etwa mit einer ganz neuen Szene eröffnet, in der die Mutter ihr Kind Carrie zur Welt bringt.

Als ich das Buch zum ersten Mal las, dachte ich sofort, dass ich diese Szene in den Film einbauen muss! Denn das ist tatsächlich der Beginn der ganzen Geschichte: Carries Mutter Margaret hat eine solche Angst vor der Welt, vor Wissen und Sexualität, insbesondere vor dem Genuss von Sexualität. Selbst als sie schwanger wird, kann sie diese Tatsache nicht anerkennen, bis zu dem Punkt, an dem sie Carrie gebiert. Sie blockt das total ab. Margaret ist der Geburt gegenüber so ambivalent, dass ihre erste Reaktion der Wunsch ist, den Beweis für ihr angebliches Fehlverhalten, für ihr Begehren zu zerstö­ren. Sie möchte das Kind töten, aber sie verliebt sich in dieses Kind. Das ist die Definition von Ambivalenz: Ich kann mich nicht für oder gegen etwas entscheiden. Und dies ist der Beginn ihrer Beziehung zueinander. Dieser Zwiespalt ist in jeder Szene präsent. Wir erfahren, dass Margaret Carrie bestrafen will. Carrie repräsentiert Margarets Verlangen, also entwickelt sie die Vorstellung, dass Carrie böse sei, doch ihr Mitleid und ihre Liebe zum eigenen Kind hindern sie daran, es zu töten. Bis zu dem Moment, in dem sie am Ende mit Carrie kämpft. Ich habe diese Szene neu geschrieben, der Todeskampf ist jetzt viel heftiger. Margaret verleugnet ihr Kind. Sie erhebt das Messer gegen ihre Tochter, die ihre Kräfte nicht gegen die Mutter einsetzen möchte. Carrie möchte ihre Mutter nicht töten, aber ist dazu gezwungen, um sich selbst zu retten. Das ist meine Version der Geschichte. Sie mag jetzt nicht radikal anders sein als die von De Palma, aber der Fokus ist ein anderer.

Auch die Abhängigkeit zwischen Mutter und Tochter ist bemerkenswert. Carrie wird von ihrer Mutter misshandelt und in den Schrank gesperrt, wo sie beten soll. Doch als Margaret sie später aus dem Schrank befreit, sehen wir, wie Carrie sie voller Dankbarkeit und Liebe ansieht. Das ist eine wirklich verstörende Szene.

Ich interessiere mich sehr für Mutter-Tochter-Beziehungen und denke, dass sie sehr trügerisch sind. Ich sage immer, dass Mutter und Tochter zu eng miteinander verbunden sind, denn sie identifizieren sich miteinander, sie haben ähnliche Körper, sie haben so viel gemeinsam. Aber diese Mutter schlägt ihr Kind, um es zu beschützen, und die Tochter liebt ihre Mutter, auch wenn sie von ihr geschlagen wird, und wirft ihr sogar danach Blicke der Liebe zu. Warum ist das so? Weil sie so verflochten, so ko-abhängig voneinander sind.

„Carrie“ USA 2013 / Regie: Kimberly Peirce. Mit: Chloë Grace Moretz, Julianne Moore, Judy Greer u.a., 99 Min., Start: 05.12.


Dieses Interview ist zeitgleich im aktuellen An.schläge Magazin erschienen.

:: Kimberly Peirce ist eine US-amerikanische Regisseurin und Drehbuchautorin. Bekannt wurde sie v.a. mit ihrem Spielfilm „Boys Don’t Cry“ (1999).

Julia Martin ist Studentin der Literaturwissenschaft, Autorin und feministische Aktivistin in Berlin.