Es ist kurz vor acht Uhr in Brooklyn Red Hook, die Sonne hängt schon tief hinter den Kränen über dem Hudson River und Hannah wartet darauf, dass ihre Hühner schlafen gehen. „Normalerweise kommen sie von selbst in den Stall sobald es dunkel wird,“ sagt sie. Nur Cookiedough, das schwarz gesprenkelte, sei immer etwas länger unterwegs. Das Huhn scharrt noch ein wenig im Gras, dann setzt es sich zu den anderen vieren auf die Stange und Hannah schließt die Tür zum Stall. Sie rollt den Gartenschlauch auf, pflückt noch ein paar winzige Tomaten von den Sträuchern, die sie hier auf Strohballen zieht, nimmt die Tupperdose mit den Eiern und zieht das Tor zum Garten hinter sich zu.

Seit fast zwei Jahren wohnen Hannah und ihre Hühner hier im industriellen Süden Brooklyns. Die Hühner im Community Garten in einem grün patinierten Stall, den Hannah selbst entworfen und ein Freund für sie gebaut hat. Hannah und ihr Freund im Haus nebenan. Von ihrem Apartment im vierten Stock aus sieht man die blinkende Skyline Manhattans. Hier unten wirkt es nicht als sei man in der Stadt. Es ist so ruhig und leer wie ich das nirgends sonst erlebt habe in New York. Red Hook ist abgelegen und die Galerien, Kaffeeröstereien und Fahrradläden, die als sicheres Frühwarnsystem für Gentrification dienen, sprenkeln erst seit kurzem die Hauptstraße. Hierher verirrt sich bislang kaum jemand, der nicht hier wohnt.

City living: Hannahs Stadt-Hühner Hillary und Lavendar in ihrem Habitat.

Kennen gelernt habe ich Hannah vor zwei Wochen auf einer Party, die das Vice Magazine in einer dieser neuen Galerien feierte, an meinem Geburtstag. Auf der Party, die eher eine Vernissage war und auf der viele wahnsinnig interessant gekleidete junge Menschen herumstanden und redeten, wusste niemand, dass ich Geburtstag habe. Ich war gerade erst angekommen und es schien unkomplizierter, es nicht zu erzählen. Ich fühlte mich auf eine interessante Weise deplatziert und wünschte mir, ich hätte einen aufregenderen Haarschnitt oder wenigstens eine interessante Brille auf. Irgendetwas, das diesen Menschen kommuniziert, dass ich auch potentiell aufregend und interessant bin und es sich lohnen würde mit mir zu reden. Dann traf ich Hannah.

Huhn Cookiedough dreht noch eine letzte Gute-Nacht-Runde und bringt sich dann selbst ins Bett. Hannah muss dann nur noch das Gattter schließen. Nicht, weil die Hühner sonst abhauen, sondern weil sich Waschbären nachts gerne ein Huhn als Mitternachtssnack genehmigen.

Hannah wirkte nicht als hätte sie einen Großteil des Nachmittags damit verbracht ihr Outfit für den heutigen Abend zusammenzustellen, sondern als wäre sie in eine Jeans gestiegen und hätte ein bisschen Lippenstift aufgetragen. Sie erzählt mir, dass sie an der Rhode Island School of Design Kunst studiert hat und jetzt im Eigenverlag ein kleines Rezeptmagazin publiziert. Dass sie um die Ecke wohnt und auf der Party ist, weil sie als Babysitterin auf den kleinen Sohn einer erfolgreichen Stylistin aufpasst (die als eine der vielen interessant gekleideten Menschen hier herumsteht). Sie ist mir sofort extrem sympathisch.

Als wir uns gerade das zweite Umsonstbier holen, erzähle ich ihr, dass ich heute Geburtstag habe und dass niemand hier davon weiß und dass ich das eigentlich sehr entspannt finde. Etwas an ihr vermittelt mit den Eindruck, dass diese Information bei ihr gut aufgehoben sei – vielleicht der Umstand, dass ihre Augen nicht konstant den Raum hinter mir abscannen nach Menschen, mit denen Konversation zu machen potentiell gewinnbringender sein könnte. „Verstehe ich. Ich brauche an meinem Geburtstag auch nicht viel. Nur ein Stück Kuchen mit einer Kerze drauf eigentlich. Dann ist es ein guter Geburstag.“

Zwanzig Minuten später sitze ich mit ihr am Tresen eines Restaurants um die Ecke, das um diese Zeit noch geöffnet hat und wir teilen uns ein Stück Key Lime Pie mit einer Kerze drauf und eine Flasche Prosecco.

Unerwarteter Geburtstagskuchen.

In den nächsten zwei Stunden erfahre ich mit sinkendem Pegelstand immer weitere erstaunliche Dinge über Hannah. Etwa, dass sie in Brooklyn eigene Hühner hält. Dass sie in der Kleinstadt bei Seattle aufgewachsen ist, in der Twin Peaks gedreht wurde. Oder dass sie mit dem inzwischen arg berühmten Videokünstler Ryan Trecartin zur Kunsthochschule gegangen ist und eines seiner frühen Videos besaß, nur leider an eine Freundin verliehen und seitdem nie mehr wiedergesehen hat.

Nur über ihr Magazin oder ihre Kunst reden wir kaum. Um zu verstehen, wie ungewöhnlich das ist, muss man vielleicht eine Weile in New York gewesen sein, wo es ganz offen als Teil des Jobs gesehen wird, sich und seine kreativen Absichten zu jeder Tages- und Nachtzeit zu promoten und die Menschen selbst auf Privatpartys durch den Raum streifen, um „Kontakte“ zu machen. Hannah ist nicht so, sie erzählt gerne von ihrer Arbeit, aber erst wenn man sie fragt. Also frage ich und fülle die Lücken per Netzrecherche.

Die erste Ausgabe ihren Magazins „Sweets & Bitters“ erschien 2012, finanziert via Kickstarter und in kleiner Auflage von 1000 Stück. „A seasonal mini-cookbook, illustrated with photo essays & top-notch design, mailed to your door four times a year“, schrieb Hannah damals auf der Webseite für die Kampagne. Jedes Heft widmet sich einem Thema, in Volume 1 waren dies „Sunday Picnics“. Ästhetisches findet sich dort neben profan Praktischem. Rezepte für Cold Brew Coffee, Scones und gefüllte Eier, eine Anleitung für selbstgemachtes Insektenspray, dazu Tipps, wie man den Glamourfaktor hebt: „Whether cloth napkins, fine silver, or crystal cocktail glasses, pick something nice to elevate your picnic. Just pack it carefully!“

Das passt irgendwie sehr gut zu Hannahs Stil, der einfach und alltagstauglich ist, aber mit einem bemerkenswerten Blick für das Ästhetische ausgestattet. Sie benutzt auch das Wort „fun“ sehr oft.

Inzwischen sind drei Ausgaben von „Sweets & Bitters“ erschienen und Hannah arbeitet an der vierten. Leben kann sie davon nicht, aber die Hefte tragen sich über den Verkauf und dienen als eine Art Visitenkarte, über die sie weitere bezahlte Aufträge bekommt – als Foodjournalistin oder Stylistin für andere Magazine. „Ich wusste bis vor Kurzem gar nicht, dass das ein bezahlter Job ist.“ Ob sie das Kochen und die Arbeit mit Essen als Teil ihrer Kunst versteht? Ja, meint Hannah, aber eher so wie das Abspülen, Nichtstun oder Spazierengehen Teil von Kunst ist. Wenn sie früher mit einem Projekt nicht weiterkam, hat sie gekocht, das macht den Kopf gerade. Ansonsten sei es eben das, womit sie ihr Geld verdient. Ob Kunst oder nicht, ist dann nicht so wichtig.

Hannah ist keine New Yorkerin, vielleicht liegt es daran, dass sie mehr zuhört als von sich zu reden. Auf der anderen Seite sind die meisten anderen der dauerselbstpromotenden Hoffnungsvollen, die hier anlegen, um „es zu schaffen“ auch nicht aus der Stadt. Insofern liegt es vielleicht auch einfach an Hannah, dass sie nicht so ist. Aufgewachsen ist sie auf einer Farm in North Bend, Washington, einem Vorort von Seattle, der dafür berühmt ist, dass dort Twin Peaks gedreht wurde („Die Sägemühle ist nur ein paar Meilen von meinem Elternhaus entfernt“). Ihre Familie hielt Hühner, Ziegen und andere Tiere, zur Schule ging sie in einer kleinen Privatschule mit nur 40 Leuten. Seit dieser Zeit träumt sie davon, wieder Hühner zu haben. Als sie nach der Kunsthochschule von Providence nach New York zieht, landet sie zufällig in Red Hook, in der WG eines Freundes. Sie sucht einen Garten, findet ihn in um die Ecke und kauft sich vier Hennen – „Männchen darfst du in New York nicht halten“.

Dann kommt der Oktober 2012, Hurricane Sandy. Zwei Tage lang steht das Wasser in Hannahs Erdgeschosswohnung bis knapp unter der Decke. Die Hühner überleben nur, weil Nachbarinnen durch das brusthohe Wasser zum Stall hinüber waten um sie zu sich in die Wohnung zu retten. Als das Wasser wieder zurückweicht, muss sie fast alles wegwerfen. Monatelang schlafen sie und ihr Freund auf den Sofas von Freunden und Verwandten. Dann findet Hannah die Wohnung im vierten Stock.

„Wir hatten großes Glück. Red Hook ist inzwischen auch schon fast unbezahlbar“. Hannah wollte aber unbedingt in dem Viertel bleiben. Sie sagt, wäre sie nicht in Red Hook gelandet, wo sich die Leute auf der Straße grüßen, hätte sie es vermutlich gar nicht lane ausgehalten in New York. Sie schaltet die New York Times ein, um ihre Geschichte zu streuen und für sich, ihren Freund und ihre Hühner ein neues Zuhause zu finden. „Danach kamen sehr viele Angebote von Leuten, die die Hühner nehmen wollten.“ Und irgendwann dann auch der Tipp für die Wohnung, in der sie jetzt lebt.

Für ein Zimmer und den Blick nach Manhattan zahlen sie und ihre Freund 1500 Dollar, „ein Schnäppchen in der Gegend“. Das Schlafzimmer ist mit einem Vorhang abgetrennt und die Fahrräder hängen im Wohnzimmer an der Wand, aber das ist hier nicht ungewöhnlich. Mit den sich stetig hochschraubenden Mieten in der Stadt werden die Leute immer findiger, stapeln sich und ihren Besitz auf immer weniger Raum.

Das Wichtigste neben dem Garten: Die Wohnung hat eine voll ausgestattete Küche, in der Hannah neue Rezepte testen, Kuchen backen, Marmeladen kochen oder Fotostrecken produzieren kann.

Nachdem die Hühner im Bett sind und die Sonne im Hudson River versunken ist, grillen wir Pizza. Hannahs Vorschlag. Ich habe keine Ahnung, wie man Pizza grillt, aber es klingt lustig und wenn man neu in eine Stadt kommt, macht man eh fast alles mit auf der Suche nach interessanten Erfahrungen. Wir holen den Pizzateig in ihrer Wohnung ab und gehen um die Ecke zu ihrer Freundin Julie. Die wohnt illegal in einem ehemaligen Laden, in den vorherige findige BewohnerInnen kleine Boxen gebaut haben, so dass nun fünf Menschen dort als WG wohnen. Auch das ist hier nicht ungewöhnlich, aber Julies Interieur ist besonders bezaubernd, als hätte jemand ein paar Bauwagen in einem leeren Eisenwarenladen geparkt und dazwischen Wände aus Bücherregalen gezogen. Wendeltreppen und Leitern führen nach oben zu kleinen Schlafhöhlen. Vor dem Schaufenster zur Straße wuchert ein Dschungel aus Zimmerpflanzen. Es ist wie ein Fantasyroman mit jungen Großstadtmenschen in der Hauptrolle.

Sorry für die schlechte Bildqualität. War damit beschäftigt, Pizzateig auszurollen. Links vor dem Grillen, rechts der angegrillte Pizzaboden, der auf seinen Belag wartet.

Außerdem hat Julie hinter dem Haus einen bushaltestellengroßen Hof, in dem wir die Pizzen grillen. Es dauert ewig bis die Kohle heiß ist und in der Zwischenzeit sind wir völlig betrunken, aber als die Pizza fertig ist und wir sie von Papiertellern essen, um nachher nicht abspülen zu müssen, ist es eine der besten, die ich je gegessen habe. Knusprig, rauchig, mit riesigen Klumpen Parmesan oben drauf und den winzigen aromatischen Tomaten aus dem Garten. Das ist so unerwartet gut wie auf einer pretentiösen Vernissage auf eine Person wie Hannah zu treffen. Wie diese sagen würde: „Delight can strike in unexpected places.“

Die aktuelle Ausgabe von „Sweets & Bitters“ zu „Foodways“ könnt ihr für $16  hier auf Hannah Webseite bestellen. Ich habe sie gerade gelesen und sage: tut es solange sie noch nicht ausverkauft ist.

Sorry für die schlechte Bildqualität. War damit beschäftigt, Pizza in meinen Mund zu stopfen. Und außerdem schon ziemlich betrunken.