Von Lisa-Marie Davies

Nigeria in den 1960er-Jahren: Ugwu, ein Dorfjunge ohne Bildung, beginnt beim linksintellektuellen Professor Odenigbo zu arbeiten, der ihm Lesen und Schreiben beibringt. Odenigbo wiederum verliebt sich in Olanna, die ihr privilegiertes Leben in Lagos aufgibt und zu ihm zieht. Zu dritt werden sie fast so etwas wie eine kleine Familie. Und dann gibt es noch den britischen Journalisten Richard, der für ein Buchprojekt nach Nigeria gekommen ist und eine Beziehung mit Olannas Schwester Kainene beginnt, die die Geschäfte ihrer reichen, aber auch korrupten Familie leitet. Was sie gemeinsam haben, ist die Hoffnung auf ein unabhängiges Biafra, das 1967 im Osten Nigerias ausgerufen wird und insbesondere der Igbo-Bevölkerung neue Perspektiven und Autonomie bieten soll. Doch dann kommt der blutige Bürgerkrieg und nichts ist mehr so, wie es einmal war.

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Die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie © Ivara Esege

Für ihre Bücher „Americanah“ und „Blauer Hibiskus“ wurde Chimamanda Ngozi Adichie mit zahlreichen internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet. Auch ihr Roman „Die Hälfte der Sonne“, der kürzlich als Taschenbuch erschienen ist, ist spannend geschrieben und verzichtet dabei auf simple Darstellungen, sind doch die Figuren sehr vielschichtig und tragen alle ihre eigenen Kämpfe aus. So ist etwa Odenigbo in der privilegierten Situation, Hausangestellte zu beschäftigen, gleichzeitig kämpft er gegen die Unterdrückung und Vorherrschaft der weißen Männer in Nigeria.

Kritisch thematisiert Adichie die Folgen der britischen Kolonialherrschaft. So lässt sich Odenigbo in Anwesenheit von Olannas Familie nicht davon abbringen, auf den immer noch vorherrschenden Einfluss Großbritanniens hinzuweisen:

„Ihr wollt die Dinge bloß nicht so sehen, wie sie sind!“ Odenigbo rutschte auf seinem Stuhl ein Stück nach vorne. „Wir leben in einer Zeit großer weißer Ungerechtigkeit. In Südafrika und in Rhodesien rauben sie den Schwarzen die menschliche Würde, sie haben geschürt, was im Kongo passiert ist, sie lassen die Afroamerikaner nicht wählen, sie lassen die Aborigines in Australien nicht wählen, aber am schlimmsten ist das, was sie hier machen. Dieser Verteidigungspakt ist schlimmer als Apartheid und Rassentrennung, aber wir merken es gar nicht. Sie sitzen hinter den Kulissen und ziehen die Strippen.“

Die Charaktere selbst tragen Widersprüche in sich – wie Olanna, die zwar für eine bessere Gesellschaft kämpft, sich jedoch auch um ihre korrupte Familie sorgt, als sie erfährt, dass diese durch einen Putsch möglicherweise in Gefahr gerät. Über die Dialoge ihrer Figuren gelingt es Adichie, den Leser*innen historische Tatsachen zu vermitteln, so wird gerade die Entstehung des Bürgerkriegs in Nigeria Ende der 1960er sehr verständlich vermittelt. Adichie hat mit ihrem politischen und rassismuskritischen Roman ein Werk geschaffen, das auch mit den westlichen Vorstellungen von Kolonialismus, wie sie bis heute in der Literatur zu finden sind, bricht.

adichieChimamanda Ngozi Adichie „Die Hälfte der Sonne“
Roman. Aus dem Englischen von Judith Schwaab
S. Fischer, 640 Seiten, 12,99 Euro, bereits erschienen

„Die Hälfte der Sonne“ ist 2006 erstmals in englischer Sprache, ein Jahr später in deutschsprachiger Übersetzung erschienen. Adichie wird von vielen als Vertreterin der „Afropolitan Literature“ gesehen – ein Begriff, der 2005 von der britischen Schriftstellerin Taiye Selasi geprägt wurde. Zu den „Afropolitans“ zählen u. a. auch Autorinnen wie Sefi Atta, Priya Basil oder Chika Unigwe. Sie repräsentieren eine neue Generation von Schwarzen „Weltenbürger*innen“, die nicht nur in Ländern wie Ghana oder Nigeria beheimatet sind, sondern sich auch in England oder in den USA zu Hause fühlen und damit herkömmliche Zuordnungen zu Nationalliteraturen ad absurdum führen. Insbesondere Adichies Roman „Americanah“, der 2013 veröffentlicht wurde und viel Aufmerksamkeit erhielt, thematisiert Fragen von Identität und Herkunft, Heimat und Zugehörigkeit.

Auch „Die Hälfte der Sonne“ enthält durchwegs Merkmale der „Afropolitan Literature“,  begegnet man doch Figuren wie Richard, dessen Leben in England und in Nigeria stattfindet. Während einige Kritiker*innen der „Afropolitan Literature“ vorwerfen, zu sehr auf die Geschichten von gesellschaftlich und wirtschaftlich besser gestellten Menschen zu fokussieren, schafft es Adichie, anhand des Charakters Ugwu und dessen Familie, unterschiedliche Lebenssituationen in Nigeria vor und während des Bürgerkriegs darzustellen.