Von Konstanze Ameer

Nilay Taş* ist 18 Jahre alt. Sie lebt in einer kleiner Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, besucht ein Gymnasium und steht kurz vor dem Abitur. Die deutsche Staatsangehörigkeit hat sie abgelehnt. Ein Interview.

Wie ist es für Sie, hier zu leben?
Das ist schwer, die Stadt ist ziemlich klein. Dadurch, dass hier nicht so viele Menschen wohnen, fühlt man sich auch ein bisschen eingeengt, man lebt hier ja in der Minderheit. Das ist schon zu spüren.

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„Die anderen durften Fabeln schreiben, wir mussten Städte in der Deutschlandkarte einzeichnen.“ © Lightspring / Shutterstock

Können Sie beschreiben, wie das zu spüren ist?
In unserer Schule gibt es 800 Schüler. Ich bin die einzige Türkin, eine der wenigen Ausländerinnen. Ich höre die typischen Ausländerwitze. An meiner jetzigen Schule passiert das nicht so oft, aber an meiner alten Schule ist es oft passiert.

Manchmal sind diese Dinge auf mich bezogen, manchmal allgemein oder bezogen auf andere. Aber wenn man quasi dazugehört, fühlt man sich angegriffen. Die, die das machen sind Leute, die keinen direkten Kontakt zu mir haben. Leute, mit denen ich noch nie gesprochen habe.

Manchmal passiert das zum Beispiel, wenn ich etwas sage, was grammatikalisch falsch ist. Dann sagen sie: „Typisch, Türkin!“ oder „Lern mal die Sprache!“ Eine Zeit lang habe ich mich nicht getraut, mich im Unterricht zu melden, weil ich immer dachte: Jetzt sage ich etwas Falsches. Aber jetzt haue ich das auch einfach so raus. Dann sollen sie mich eben korrigieren, das stört mich nicht mehr.

Früher, als ich klein war, habe ich das sehr ernst genommen und gedacht, das ist für mich jetzt eine Beleidigung. Manchmal machen wir unter engen Freunden Witze über die Menschen, die so denken, weil wir wissen, dass es falsch ist, so zu denken. Manche Schüler werden von den Lehrern bevorzugt, manche benachteiligt. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass man eine andere Herkunft hat.

Wir haben manchmal mit unserer Deutschlehrerin Probleme. Wir sind drei Ausländerinnen in der Klasse. Es ist noch nicht lange her, dass wir immer, wenn wir Gruppenarbeiten machen mussten, in eine Gruppe zusammengesteckt wurden und ganz andere Aufgaben bekamen als die anderen. Das ist für mich keine Abiturvorbereitung. Die anderen durften Fabeln schreiben und wir mussten Städte in der Deutschlandkarte einzeichnen. Das hat mich geschockt.

Und wie sind Sie damit umgegangen?
Die ganze Klasse hat das gemerkt, nicht nur wir drei. Also sind die anderen mit uns zur Schulleitung gegangen und wir haben das angesprochen. Die Schulleitung will das am Donnerstag in der Schulkonferenz ansprechen. Die haben das Problem ganz klar wahrgenommen.

Gab es in ihrem Leben eine Zeit, in der es schwierig war, hier zu leben?
Es gab Zeiten, wo ich gedacht habe: Ich will hier nicht leben, ich kann das nicht. Ich werde hier total ausgeschlossen. Das gab es, besonders an meiner alten Schule. Da war es noch schwieriger, Ausländerin zu sein. An meiner neuen Schule ist das kein so großes Problem.

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass es ein Gymnasium ist, − also ob bildungsspezifische Sachen eine Rolle spielen − aber ich glaube es. Wenn man das Thema Migration oder Integration in der Schule hat… In Geografie kam es vor, dass über ein Gebiet gesagt wurde, dass es da viele Ausländer gibt. Und dann kam sofort die Frage nach Kriminalität auf − da wird man angeguckt. Ich fühle mich dann angesprochen. Da fühle ich mich als eine der wenigen angesprochen.

Was verbinden Sie mit dem Wort Integration?
Wir hatten das Thema in der Schule und jemand meinte: „Wenn ich in ein anderes Land ziehen würde, da müsste ich mich an alles halten und da würde ich auch die Religion ändern.“ Das sei Integration. Also das würde für mich auf keinen Fall in Frage kommen, dass man sich komplett ändert und assimiliert und anders wird. Da würde man ja selbst seine Individualität verlieren. Das ist meine Meinung dazu.

Ich muss die Sprache lernen, ich muss mich an Regeln und Gesetze halten und die kulturellen Gegebenheiten spielen auch eine Rolle. Aber vollkommen meine eigene Kultur aufzugeben, weil ich jetzt hier lebe − das kommt für mich überhaupt nicht in Frage. Integration muss von beiden Seiten kommen.

Für mich ist Integration die Akzeptanz und das Zusammenleben verschiedener Menschen. Es kann nicht sein, dass nur ich die Leute verstehen soll. Ich möchte auch, dass sie mich verstehen. Das Zusammenkommen verschiedener Meinungen, Kulturen, Sprachen usw. − das ist für mich Integration. Integration ist für mich, sich mit dem zu verstehen, der anders ist als ich und sich gegenseitig so wahrzunehmen, wie man ist.

Ihr Vater hat mir erzählt, dass Sie die Einbürgerung abgelehnt haben?
Ja.

Würden Sie mir etwas zu ihren Gründen sagen?
Natürlich hat es viele Vorteile, wenn man deutsche Staatsbürgerin ist. Trotzdem weiß ich nicht, ob mir das etwas bringen würde, ob man mich deshalb plötzlich als Deutsche sehen würde. Ich glaube, das wäre ja nicht der Fall, deswegen… Das hätte etwas rechtlich verändert, aber sozial bekomme ich das ja nicht. Deswegen habe ich das abgelehnt.

Deutschland ist meine zweite Heimat. Ich lebe hier seit ich sieben bin, aber zur Gesellschaft hingezogen fühle ich mich nicht. Vielleicht hat das auch nur etwas mit mir und meiner Persönlichkeit zu tun, aber im Großen und Ganzen − was ich die Jahre mitgenommen habe, ist der Eindruck, dass ich von den Leuten her, die die Mehrzahl ausmachen, nie zu denen gehören werde.

Natürlich habe ich einen Freundeskreis und es gibt Leute, die ich länger kenne: Ist ja klar, dass ich zu denen gehöre! Aber Zugehörigkeit zur ganzen Gesellschaft ist schwierig. Ich habe vor, nach dem Abitur zu gehen. Ich habe den Eindruck, dass es schwierig ist, hier zu studieren. Die Stadt zu verlassen, würde mir nicht viel ausmachen. Selbst, wenn ich in Deutschland studiere, würde ich hier weggehen.

Wenn Sie Deutschland verlassen: Was meinen Sie, wie Sie auf diesen Lebensabschnitt zurückblicken werden?
In Deutschland zu leben, hat mir sehr viel beigebracht. Das muss ich schon sagen. Das ist alles ein Teil von mir, was mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Dadurch, dass ich manchmal ausgeschlossen wurde, habe ich verstanden, keine Vorurteile gegenüber anderen zu haben. Es ist auch nicht so, dass ich alles vergesse, wenn ich jetzt woanders hingehe. Auch wenn ich gehe – ich werde wieder zurückkommen wollen.

Das Interview erschien zuerst in der Broschüre „Hier zu leben, hat mich sehr wachsen lassen. Lebenssituationen von einheimischen und geflüchteten Muslim_innen aus Mecklenburg-Vorpommern“, herausgegeben von der Amadeu Antonio Stiftung. Die Broschüre entstand im Rahmen der Kampagne „MV für alle“, die sich angesichts erstarkender rechter Parteien und zunehmendem Alltagsrassismus für eine demokratische Kultur und gegen Rassismus in Mecklenburg-Vorpommern engagiert – gerade in Zeiten des Wahlkampfs.

Wie haben Sie die schwierigen Phasen überstanden, von denen Sie berichtet haben?
Ich weiß nicht. Ich glaube, nach etwas Schlechtem kommt immer etwas Gutes. Man sagt sich: Ich kann mich ja doch mit den Leuten verstehen, die nicht so sind wie die, die mich ausgrenzen. Ich kann das alles ja nicht verallgemeinern und sagen: Alle Deutschen sind Rassisten. Das würde ich niemals sagen! Und manchmal, wenn ich eine engere Beziehung aufgebaut habe und mit jemandem darüber rede: Ich will das komplett ausschalten, was die anderen sagen, das ist mir komplett egal. Ich mache mir darüber heute nicht mehr so viele Gedanken und kann auch darüber lachen. Was ich früher sehr ernst genommen habe, nehme ich jetzt nicht mehr so ernst.

Was hilft Ihnen, wenn Sie angefeindet werden?
Mein Glaube. Der spielt für mich eine sehr, sehr große Rolle. Ich bin eine Person, die nicht viel erzählt. Ich rede nicht von meinen Problemen. Die behalte ich für mich. Ich will auch andere nicht damit belasten. Ich höre gerne anderen zu, aber von mir spreche ich nicht so gerne. Meinen Eltern erzähle ich das auch nicht. Ich kläre alles selbst. Wenn ich angegriffen oder beleidigt werde, dann sag ich etwas dazu. Das passiert dann einfach. Ich kann das überhaupt nicht ab, ungerecht behandelt zu werden. Auch für andere setze ich mich gerne ein. Wenn ich etwas für richtig halte, dann sage ich das auch.

* Nilay Taş ist ein Pseudonym