Von Sylvia Köchl

Ravensbrück, eine Bahnstunde nördlich von Berlin, im April 2015: Bei den Feierlichkeiten zum siebzigsten Jahrestag der Befreiung des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers wird eine „Gedenkkugel“ niedergelegt. Sie soll „alle lesbischen Frauen und Mädchen“, die hier oder im nahegelegenen Mädchen-KZ Uckermark inhaftiert waren, sichtbar machen. „Sie wurden als ,Verrückte‘, Widerständige, ,Asoziale‘ und aus anderen Gründen verfolgt und ermordet“, lautet die Inschrift. Die Gedenkkugel – anstelle eines Gedenksteins, der unverrückbar da steht oder fest in der Erde verankert ist – war als Kommentar gedacht: Sie kann weggerollt werden, sie beschädigt nichts, sie braucht keine Erlaubnis. Ein Jahr später, im Mai 2016, war sie wieder verschwunden. Die Leitung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück hatte offenbar eine Weisung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten erhalten, die „illegale“ Kugel zu entfernen.

Eine Kugel steht im Gegensatz zu einem Gedenkstein weder unverrückbar dar, noch ist sie im Boden verankert. © Christina Gransow

Aber was ist denn das Problem, fragen sich seither viele, denen durch diese Aktion überhaupt erst klargeworden ist, dass ausgerechnet am Gedenkort Ravensbrück, dem einstigen zentralen Frauenkonzentrationslager der Nazis, Lesben keinerlei Erwähnung finden. Wo Frauen sind, sind auch Lesben, und wurden Lesben – oder wen die Nazis dafür hielten – etwa nicht als unerwünschte gesellschaftliche Gruppe verfolgt? Seit den 1980er-Jahren wird eben darüber gestritten, unter Forscher*innen, Aktivist*innen, KZ-Gedenkstätten und Kommunen. Gab es die Homosexuellenverfolgung, an die mit Gedenkzeichen erinnert werden soll, überhaupt? Haben die Nazis Lesben und Schwule wirklich gleichermaßen verfolgt und ist es zulässig, beide Gruppen im gleichen Atemzug zu nennen?

Forscher*innen wiesen schon früh darauf hin, dass es bedeutende Unterschiede gab: Schwule galten als „Volksfeinde“, die als Individuen, aber auch als Gruppe samt ihrer eigenen Kultur systematisch aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ entfernt werden sollten. Tausende wurden in KZs deportiert und dort mit einer speziellen Markierung versehen: Sie hatten auf ihrer Häftlingskleidung ein rosa Stoffdreieck zu tragen, den „Rosa Winkel“. Da jedoch in Deutschland und Österreich, den Kernländern des ehemaligen „Dritten Reichs“, Homosexualität auch nach 1945 strafrechtlich verboten blieb, mussten selbst die in den 1970ern neu entstandenen Schwulenbewegungen jahrzehntelang darum kämpfen, dass die Häftlinge mit dem „Rosa Winkel“ überhaupt als NS-Opfer wahrgenommen wurden und ihrer gedacht wurde.

Frauen, die als Lesben verfolgt wurden, gerieten dabei kaum in den Blick. Auch wenn das Wissen über ihre Situation in der Nazizeit bis heute vergleichsweise gering ist, war eines schnell klar: Einen „eigenen“ Häftlingswinkel gab es in den KZs für sie nicht. Es mag lächerlich klingen, aber genau diese Tatsache hat viel mit jener Auseinandersetzung zu tun, die im Mai 2016 zur Entfernung der Gedenkkugel in Ravensbrück führte.

Aus der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, die im Auftrag der Landesregierung die Gelder zur Erhaltung der KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück verteilt und deren Gremien auch inhaltlich über Gestaltungsfragen bestimmen, war im November 2016 zu hören, der Antrag auf ein Gedenkzeichen für die lesbischen Opfer in Ravensbrück sei „nach kontroversen Diskussionen zurückgestellt worden“. Und das, obwohl die für die Gedenkkugel verantwortliche, neu gegründete Gruppe Autonome feministische FrauenLesben aus Deutschland und Österreich im Vorfeld über fünfhundert Unterstützungserklärungen von namhaften Organisationen und Einzelpersonen aus ganz Europa und darüber hinaus gesammelt und dem Antrag beigelegt hatte. Es war dies nicht der erste Antrag und nicht die erste selbstorganisierte Aktion.

Auch 2017 wird es kein offiziell genehmigtes Gedenkzeichen geben. „Wir sind enttäuscht und empört!“, so eine österreichische Aktivistin der Initiative. „Die Verfolgung lesbischer Frauen wird also weiterhin ignoriert und verleugnet.“ Sexistische und pa­triarchale Machtstrukturen der damaligen und heutigen Zeit würden nicht mitbedacht, lesbisches Leben nicht unter diesen Bedingungen betrachtet werden. So würde die Verfolgung von Lesben durch die Nazis als angeblich „nicht systematisch“ und „weniger schlimm“ im Vergleich mit der Verfolgung von Schwulen diffamiert.

Der große „Mahnmal-Streit“, auf den sich die Aktivistin dabei bezieht, ist jener rund um den Berliner Tiergarten. Nach jahrelanger Vorarbeit von Akti­vist*innen beschloss der deutsche Bundestag 2003, hier ein Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Homosexuellen zu errichten. Doch was ursprünglich als „Mahnmal deutscher Schwulenverfolgung“ konzipiert war, sollte nun alles können: der historischen Verfolgung …