Interview: Jesse R. Buendia

Wie ist die Idee zu „Physically Sick 2“ entstanden?
Frankie Decaiza Hutchinson: Die „Physically Sick“-Sache startete letztes Jahr. Physical Therapy, Umfang und ich waren auf einem Boiler Room Event in Pennsylvania. Es war großartig, aber wurde von der Polizei abgebrochen und war in einer Trump unterstützenden Umgebung. Überall waren seine Plakate, was für uns – aus New York kommend – verstörend war. Das gab uns einen Eindruck davon, was bevorstehen würde. Dann wurde Trump gewählt und Daniel (Physical Therapy, Anm. d. Red.) meinte, wir sollten versuchen, etwas zu machen und dagegen zu protestieren. Wir veröffentlichten die Compilation am Amtseinführungswochenende von Trump. Letztes Jahr spendeten wir das Geld an vier verschiedene Organisationen, was großartig war und eine große Auswirkung hatte. Dieses Jahr entschieden wir uns, etwas direkter zu sein, und spenden das Geld an die Brooklyn Community Bail Fund Organisation, weil das Gefängnissystem in den USA ein totales Desaster ist und ein Inkubator für Rassismus. Es fühlt sich politischer und wirkungsvoller an.

© Lucas Michael

Die Mehrheit der Inhaftierten in den USA sind Schwarze Menschen und Personen of Color. Spielte die Rassismusdebatte auch ein Rolle?
Ja, absolut. Das Gefängnissystem in den USA ist moderne Sklaverei. Es war Daniels Idee, diese Organisation zu unterstützen, und wir sprangen mit auf den Zug und fanden es toll. Ich wusste vorher nichts über die Organisation und lerne immer noch viel über sie und was genau deren Arbeit ist. Es ist großartig, das zu unterstützen.

Wie habt ihr die Künstler*innen ausgesucht?
Es kam irgendwie zusammen. Emma (Umfang, Anm. d. Red.), Daniel und ich arbeiten super zusammen und haben einen ähnlichen Geschmack, aber gleichzeitig haben wir auch Kontakte zu anderen Personen, also passt irgendwie alles gut zusammen. Emma ist verknüpft mit weirdem „Alien“-Techno sowie DJs und Produzent*innen, die niemand kennt, weshalb großartige, weniger bekannte Künstler*innen auf der Compilation sind. Daniel ist schon lange in der Szene und kennt ältere Künstler*innen, was der Compilation ein historisches Element verleiht. Wie z. B. Anthony Parasol, der selbst im Gefängnis war und mit dem System zu kämpfen hatte. Die Künstler*innen, die ich aussuchte, sind Personen, die ich im letzten Jahr kennengelernt habe. Es war quasi eine Reflexion über die Reise, die ich letztes Jahr gemacht habe.

Was ist das Politische für dich in Techno und House? Siehst du Ähnlichkeiten zum Feminismus?
Wenn ich über Techno im politischen Zusammenhang spreche, ist Race das Erste, was ich erwähne. Ich fand nicht zu Techno wegen Schwarzer Künstler*innen, die Pioniere sind, sondern wegen Raves, die hinter Universitäten stattfanden und von weißen, reichen Kids veranstaltet wurden. Es war großartig, aber ich hatte keine Ahnung, von wem die Musik war. Als ich Emma traf, wurde Techno für mich politisiert. Emma erzählte mir von Jeff Mills und zeigte mir andere Schwarze Techno-Künstler*innen. Ich hatte davon keine Ahnung und es war verblüffend, weil ich ein junges, Schwarzes Kind in London war, das sich wie ein „Alien“ fühlte, und offensichtlich gab es andere Schwarze „Alien“-Kinder wie mich, die ich nicht kannte und über die mich niemand aufgeklärt hatte. So wurde Techno sehr politisch für mich, weil ich mich damit verbunden fühlte.

Ich habe das Gefühl, dass das Politische im Techno etwas verloren gegangen ist. Glaubst du, es kommt wieder?
Ich denke, es kommt wieder. Manche stimmen vielleicht nicht zu, aber ich versuche hoffnungsvoll zu sein, was wäre sonst der Grund, überhaupt irgendwas zu machen? Aber ich denke, es gibt mehr Bemühungen, zumindest in New York. Leute wollen Talente promoten, wie z. B. die old school Detroit Personen. Leute wollen mehr darüber sprechen. Es ist auf jeden Fall anders als vor einigen Jahren. Es ist großartig, dass nun viele Künstler*innen aus Detroit mehr Bookings bekommen.

Discwoman ist ein Kollektiv und eine Booking-Agentur in New York und repräsentiert verschiedene Talente in der elektronischen Musik. Gegründet wurde es 2014 von Frankie Decaiza Hutchinson, Emma Burgess-Olson und Christine McCharen-Tran.

In den letzten Jahren seid ihr ziemlich populär geworden, ihr habt „Technofeminismus“ zu einem populären Thema gemacht und auch viele andere weibliche DJ-Kollektive kennengelernt. Ist Intersektionalität ein Thema?
Ja, ich hab einige Gruppen gesehen, wie z. B. SIREN aus London, ein von weißen Frauen gegründetes Kollektiv, das die eigenen Privilegien sehr wohl wahrnimmt und reflektiert. Sie bemühten sich sehr, Diversität zu schaffen, Women of Color zu unterstützen etc. Genau so sollte es sein. Ich habe vorher noch nie weiße Frauen gesehen, die so etwas organisieren. Man würde sie aufgrund ihrer Bookings nicht als weiß ansehen. Es ist wirklich cool, weil sie nicht nur ihre eigenen Gesichter promotet haben, sondern wirklich darüber nachgedacht haben und Frauen eine Stimme gegeben haben, die vorher keine hatten. „Working Women“, ein anderes Kollektiv aus New York, bemühen sich auch, Women of Color zu buchen, und scheuen nicht die Diskussionen darüber. Es geht nicht darum, ein neues Kollektiv zu sein und alle Aspekte von Diversität zu haben, sondern um deine Handlungen. Bietest du diesen Leuten einen Platz? Etwas, an das ich ständig denken muss, wenn es um unsere Bookings geht oder wenn wir DJs für unsere Mix Serien anfragen. Wir denken darüber nach, welche Stimmen gehört und unterstützt werden müssen mit dem, was wir tun.

Viele weibliche, europäische DJs sind weiß. Nicht weil es mehr weiße weibliche DJs gibt, aber ich glaube, dass Women of Color oft keine Aufmerksamkeit bekommen. Glaubst du, Women of Color haben es schwerer, weil ihre Erscheinung einen Einfluss hat auf ihr Verhalten und auf die Art und Weise, wie sie sich präsentieren? Du arbeitest mit vielen weiblichen DJs of Color. Wie ist deine Erfahrung?
Ich glaube, ich kann mich mit meinen eigenen Erfahrungen als Schwarze Frau, die Sachen machen wollte und es schwer hatte, gut an die Frage annähern. Es ist generell schwer, nicht nur als DJ. Ich musste hart daran arbeiten, selbstbewusst zu werden und in der Lage sein zu können zu denken, dass ich alles machen kann. Meine Mutter ist alleinerziehend und wir kommen aus der Arbeiter*innenklasse. Von den meisten Schwarzen und asiatischen Mitschüler*innen war das Ziel, mit 21 zu heiraten und Kinder zu bekommen, was an sich in Ordnung ist, aber traurig, weil es von der Gesellschaft eingetrichtert wird, während Kindern, die mehr Geld haben, erzählt wird: „Du kannst zur Universität gehen, du kannst Ärzt*in werden, du kannst Politiker*in werden. Und du kannst Kinder haben, wenn du willst, und jemanden, der*die auf sie aufpassen kann.“ (lacht) Ich glaube, vor allem als DJ muss man über viele Hürden gehen, um an einen Punkt zu gelangen, an dem man denkt, man kann repräsentiert werden oder man kann spielen und alle diese Sachen, weil man voll Selbstzweifel und Unsicherheit ist. Als junge Person of Color ist es so ein großer Hügel, den man überqueren muss. Es ist traurig, denn viele Menschen kämpfen damit, ihren Selbstwert zu finden. Ich hatte auch viele Nachrichten von Personen, die keine direkte Rückmeldung auf das, was sie die ganze Zeit machen, bekommen haben und deshalb aufgeben wollen. Das ist das härteste Thema, denn vielleicht wirst du nie eine Rückmeldung bekommen. Vielleicht wirst du kein*e berühmte*r DJ oder Produzent*in. Aber ich weiß, dass die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, dort sind, wo sie sind, weil sie hart gearbeitet haben. Trotzdem sage ich nicht, dass das der einzige Weg ist, weil es nicht wahr ist. Es fühlt sich scheiße an zu sagen: „Du musst nur härter arbeiten. Du musst aufwachen und an dich glauben“, denn es ist unmöglich, eine Antwort darauf zu geben. Weißt du, was ich meine?

Hattest du in den letzten Jahren schlechte Erfahrungen, die intensiv oder schmerzhaft waren?
Ich finde, das ganze Ding hat seine eigene Intensität. Ich persönlich leide sehr unter Angst und das kann of sehr hart sein, weil du vor allem als Agent*in mit Emotionen und dem Geld von Menschen zu tun hast. Aber es gibt oft unerwartete Momente und Situationen, wo wir nicht perfekt waren oder etwas falsch gemacht haben. Ich war sehr hart zu mir, aber jetzt weiß ich, dass es so läuft. Manchmal müssen wir Fehler machen.