Von Bini Adadamczak

Die Verurteilung der Aktivistinnen von Pussy Riot führte der Weltöffentlichkeit vor Augen, wie dringend nötig feministischer Widerstand im heutigen Russland ist und welche Konsequenzen dafür drohen. Doch in die westliche Berichterstattung mischen sich häufig arrogante Untertöne. Russland sei rückständig und müsse dem Vorbild des Westens folgen. Genau das hat aber zur gegenwärtigen Misere geführt, denn für Frauen hat sich das Leben in Russland vor allem durch den Zusammenbruch der Sowjetunion verschlechtert. Nicht dass es davor gut gewesen wäre, aber Frauen konnten in der UDSSR auch Pilotin statt nur Püppchen sein, hatten bessere Bildungschancen und eine höhere gesellschaftliche Stellung. Anlass genug, einen Blick zurück zu werfen auf die feministischen Kämpfe im Sozialismus und die Errungenschaften der Russischen Revolution von 1917. Bini Adamczak sprach mit der 85jährigen Kommunistin und Historikerin Waltraut Schälike, die in Berlin geboren wurde, aber seit ihrer Kindheit in Moskau lebt. Zwei Mitglieder der Pussy Riots, die jetzt im Gefängnis sitzen, befürchten, ihnen könnten die Kinder weggenommen werden.

Waltraud Schälike
„Ich wollte keine Deutsche sein“,
Dietz Verlag, 344 S., 24,90 Euro.

In ihrer Autobiographie „Ich wollte keine Deutsche sein“ beschreiben Sie, dass es in den 1920er Jahren unter Kommunistinnen oder Kommunisten in Deutschland verpönt war, Kinder in die Welt zu setzen. Warum?
Es war nicht verpönt, sondern gefährlich ein Kind zu kriegen, da die jungen KommunistInnen immer mit einer Verhaftung rechnen mussten. Eine Verhaftung der Eltern gefährdete das Kind, anderseits konnten die Gefahren für das Kind ein Grund für das Versagen der Eltern im Gefängnis werden. Außerdem gehört ein Revolutionär der Revolution, und nicht der Familie. Letztere galt als Hauptinteresse der KleinbürgerInnen. Mein Vater wurde, als ich neun Monate alt war, tatsächlich verhaftet und zu einem Jahr Haft verurteilt.

Sie beschreiben, welche Dreifachbelastung es für Ihre Mutter bedeutete, ein Kind großzuziehen, Lohnarbeit zu tätigen und dabei noch politisch aktiv zu sein. Hätte die Kinderbetreuung nicht solidarischer zwischen den Genossinnen oder Genossen verteilt werden können? Im sozialistischen Feminismus wird ja meist der Eindruck erweckt als gäbe es nur die zwei Optionen: Mutter oder Staat.
Meine Eltern bauten unsere Familie nach dem Grundatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau und auch der Kinder auf. Und solidarisch war die Kinderbetreuung schon damals in dem Sinne, dass meine Mutter sich mit einer Freundin die Erziehung ihrer beiden Kinder teilte. Als mein Vater im Gefängnis saß, blieb eine andere Genossin der KPD oft bei mir.  Mein Vater fuhr mich auch im Kinderwagen spazieren, was die Leute auf den Staßen Berlins ziemlich aufregte, da „Männer so was doch nicht tun!“ Papa aber stolzierte mit dem Kinderwagen grinsend weiter.

Von welcher Idee waren Ihre Eltern geleitet?
Meine Eltern wollten nicht nur die Welt verändern, sondern auch eine Familie erzeugen, in der es überhaupt keine Unterdrückung gibt. Ich bin in einer solidarischen Familie aufgewachsen, bei uns zu Hause gab es keine Männer- und Frauenteilung der Arbeit.

Drückte sich diese Haltung auch in der Erziehung aus?
Mama war fast besessen von der Idee der Gleichberechtigung der Frauen – und ihrer Tochter. Sie wollte, dass ich mich von keinem Jungen aus Liebe zu ihm „unterkriegen lasse“ und aus Liebeskummer, den ich damals hatte, das Lernen  vernachlässige. Mama verstand unter Gleichberechtigung, dass eine Frau alles kann und darf wie ein Mann, da gibt es überhaupt keinen Unterschied. Aber viele Männer – so sagte sie es – wollen die Frau nur als Spielzeug benutzen und sehen in ihr keinen selbstbewussten Menschen.

Diese Unterordnung der Gefühle unter die Disziplin, der Liebe unter die Arbeit, war ein wichtiges Motto im traditionellen Sozialismus. Die Revolutionärin Alexandra Kollontai etwa wünschte sich eine Zukunft, in der die Liebe im Leben von so genannten Frauen einen kleineren Anteil hätte, aber die Arbeit dafür einen größeren. Kurz: dass Frauen ein bisschen mehr wie Männer würden. Wäre für eine sozialistische Emanzipation nicht auch das Gegenteil denkbar: mehr Weiblichkeit, also weniger Arbeit, mehr Liebe?
Mit Ihrer Frage haben Sie zu 100 Prozent recht! Ich bin der Ansicht, dass sich die Menschen nur in einer menschlichen Gesellschaft wie dem Kommunismus so richtig mit ihren Verhältnissen zueinander, Liebe, Freundschaft oder Solidarität, beschäftigen können. Anders als heute, wo die Arbeit so viel Zeit und Kraft kostet und die Gesellschaft ganz andere Gefühle und Einstellungen der Menschen zueinander erzeugt und unterstützt.

Sie haben beschrieben, wie Sie zu Hause erzogen wurden. Wie war es in der Schule?
Ich behauptete ständig, dass es zu Hause keine Männer- und Frauenarbeit geben darf. Und überhaupt hängt der Unterschied zwischen Jungens und Mädels nur von der entsprechenden, verschiedenen und oft eben falschen Erziehung ab! In den Familien meiner MitschülerInnen war das gar nicht so wie ich das forderte und sie widersprachen mir. Ich behauptete, dass mein Mann in meiner künftigen Familie Geschirr abwaschen wird: „Einen anderen heirate ich nicht!“ Die Jungs grinsten als Antwort. Ich war so eine richtige maximalistische Feministin.

Liebe fand scheinbar ausschließlich zwischen so genanten Jungen und so genannten Mädchen statt. Die junge Sowjetunion hatte Homosexualität legalisiert – unter Stalin wurde sie wieder kriminalisiert. Wie erlebten Sie das als Jugendliche?
Mit 13 haben wir mal ein altes Buch über sexuelle Perversionen im Bücherregal des Vaters meiner Freundin Elga entdeckt. Er war Psychiater und wir haben es natürlich sofort heimlich gelesen. So wussten wir auf einmal „alles“. Unsere Reaktion? Kein Schock. Nur Verwunderung, dass auch so etwas vorkommt. Aber wir sind keine Sadisten, keine Masochisten, keine Homosexuellen, kennen auch keine. Abgemacht!

Haben Sie die Liebe zwischen so genannten Mädchen oder die Liebe zwischen so genannten Jungen nie auf eine andere Weise kennen gelernt?
In der Dorfschule hat sich ein Mädchen aus der oberen Klasse in mich verliebt, das ich nicht kannte. Eines Tages gestand sie mir das auf unserem gemeinsamen Heimweg. Im ersten Moment bekam ich, 15 Jahre alt,  einen riesigen Schreck: Da sagt mir auf einmal ein ganz unbekanntes Mädchen, dass es Marianne heißt und mich liebt und noch dazu mit einer tragischen Stimme. Und was soll ich da tun? Da erinnerte ich mich an das geheime Buch, da stand ja, dass es Menschen gibt, die sich in Menschen ihres eigenen Geschlechts verlieben und das ist angeboren. Ich sagte dem Mädchen, dass ich in einen Jungen verliebt bin und mein Herz besetzt ist und damit ist nichts zu machen. Sie sagte „Danke“ und kehrte um. Manchmal sah ich sie dann in der Schule, aber sie kam nie mehr in meine Nähe. Ich sagte niemandem davon, spürte instinktiv, dass es nicht mein, sondern ihr Geheimnis ist.

Und wie war die Beziehung zu Ihrer besten Freundin?
Elga und ich verliebten uns beide in Jungs und erzählten  einander über unsere Verliebtheiten. Wir hatten – vielleicht aus Gewohnheit oder Tradition – so gar kein Bedürfnis einander beim Treffen einen Kuss zu schenken, dafür lachten wir gerne zusammen so wie ich mit niemanden anderem lachen konnte. Höchstens vielleicht noch mit meiner Mutter als zwei alte, verrückte Frauen in der Mitte einer Berliner Straße als wir was Ulkiges sahen.

Wie sehr war der Bereich von Liebe und Sexualität in der Sowjetunion der 1930er und 40er Jahre von der Politik der Revolution durchdrungen und wie stark wurde er von alten bürgerlichen Traditionen geprägt? Die stalinistische Politik versuchte ja die Veränderungen des Alltags, die zur Zeit der Revolution vorgenommen worden waren, wieder zurückzudrehen. Inwieweit war das, etwa an der 1942 eingeführten geschlechtlichen Trennung des Schulunterrichts, spürbar?
Ich bin im Hotel „Lux“ aufgewachsen, wo die internationalen KommunistInnen lebten. Da herrschten andere Prinzipien über Liebe und Familie als die, die Stalin offiziell durch die Gesetze 1944 einzuführen versuchte und die uns empörten. Im Bereich Familie, Liebe, Sexualität gab es in der Sowjetunion natürlich eine offizielle Moral. Aber die Menschen haben sich so verhalten, wie es ihnen am nähsten war. Sie fügten sich der Parteimoral oder nicht, mit der Gefahr aus der Partei ausgeschlossen zu werden.

Wie entzogen sich die Menschen der offiziellen Parteimoral?
Offiziell galt in der Sowjetunion der 1940er und danach, dass Mann und Frau, die sich liebten, sich offiziell als Familie beim Staat registrieren sollten. Und moralisch war es demnach, einen einzigen Mann oder eine einzige Frau bis zum Tode zu lieben. All das galt im „Lux“ nicht. Liebesverhältnisse galten als eine sehr persönliche Angelegenheit, in die sich niemand einmischen durfte. Das war zumindest der Standpunkt meiner Eltern, den ich mein ganzes Leben lang verteidigte. Ich selber lebte mit meinem ersten Mann im „Lux“ ein paar Jahre zusammen, ohne mit ihm offiziell registriert zu sein.

Als die Russische Revolution 1917 ausbrach, brachte sie auch eine sexuelle Revolution mit sich: die fortschrittlichsten Ehe- und Scheidungsgesetze der Zeit, aber auch eine neue Sexualmoral. Berühmt hierfür wurde vor allem die feministische Kommunistin Alexandra Kollontai
Alexandra Kollontai war in unseren StudentInnenkreisen sehr beliebt und geachtet. Aber nicht im Sinne der künftigen sexuellen Revolution, so weit gingen wir nicht.

Was meinen Sie damit?
Wir waren für Freiheit in der Liebe, aber gegen die Freiheit im Sex. Liebe mit Sex – ja. Sex ohne Liebe – nein. Das war unser Motto. Unsere Maxime lautete: „Kein Kuss ohne Liebe“. Sie hat mir persönlich bestimmt so manches im Leben versaut.