Von Tanja Krone

Die soziale Praxis des Teilen und Tauschens erfährt derzeit eine Renaissance. Kann sie eine Alternative zum kapitalistischen Marktgebären bieten? Oder ist die „Sharing Economy“ längst selbst ein profitables Geschäftsmodell geworden? Diese Fragen verhandelte das vom Goethe-Institut organisierte Kultursymposium Weimar 2016, das unter dem Titel „Teilen und Tauschen“ Anfang Juni in Weimar stattfand. Missy-Autorin Tanja Krone traf dort Christina von Braun, Kulturtheoretikerin, Autorin, Filmemacherin und Mitbegründerin des Studiengangs Gender Studies an der Berliner Humboldt-Universität. Im Interview sprechen sie über den Trend der Sharing Economy, die Sehnsucht nach einer nicht-monetären Gesellschaft und darüber, warum Schuld und Geld untrennbar zusammenhängen.

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Christina von Braun © privat

Wenn der Glaube an das Geld heute beinahe religiöse Züge annimmt, ist es dann möglich, diese „Religion“ abzuschaffen und alternativ „Teilen und Tauschen“ als eine Form des Wirtschaftens zu etablieren?
Auf jeden Fall kann man Geld nicht mehr abschaffen. Das ist vollkommen illusorisch. Das Geld ist erstens zu alt und zweitens spielt es eine ganz wichtige Rolle dabei, soziale Kohäsion herzustellen, also eine Gemeinschaft zu bilden. Es leitet sich ja zum Teil aus der „Gesellschaft der Gabe“ ab, die der französische Soziologe Marcel Mauss beschrieben hat, in der eine*r dem/der anderen gibt und der/die andere etwas zurückgeben muss, um Konflikte zu vermeiden. Die Gabe nicht zu erwidern, läuft auf eine Kriegserklärung hinaus.

Wohin führt das?
Daraus entsteht ein sozialer Zusammenhalt und Druck, der auf dem Gedanken beruht, dass jede*r sich dem/der anderen schuldet. Als um etwa 1800 die freie Marktwirtschaft entstand und das Papiergeld anfing zu wirken, wurde die Politik zu einem Anhängsel der Ökonomie und damit von ihr abhängig. Seitdem gibt es eine Sehnsucht danach, in die einstigen stabilen Verhältnisse einer „Gesellschaft der Gabe“ zurückzukehren. Wenn heute von „Teilen und Tauschen“ die Rede ist, dann geht es um die Frage, ob man innerhalb der monetären Gesellschaft, wo die Geldwirtschaft über Politik und über unsere Form des sozialen Zusammenhalts bestimmt, noch einmal auf eine andere Form von zwischenmenschlicher Kommunikation zurückgehen kann.

Warum gibt es diese Sehnsucht nach anderen Kommunikationsformen?
In „The Great Transformation“ hat der Anthropologe Karl Polanyi schon 1944 beschrieben, wie die Ökonomie im Industrialisierungsprozess allmählich anfing, über die Politik zu bestimmen. Er stellte die Frage, wieso ganz plötzlich überall in Europa diese totalitären Staaten entstehen konnten, die mit dem Anspruch auftraten, dass alle Menschen Genossen, Kameraden, Brüder, gleichen Blutes seien. Polanyi sagt, alle seien darauf reingefallen, weil es eine solche Sehnsucht danach gab, jenseits der monetären Ökonomie die Gemeinschaft wiederherzustellen, die vor der freien Marktwirtschaft existiert hatte. Und ich glaube, das gilt bis heute.

Wie kann diese Sehnsucht heute aussehen?
Die sozialen Medien etwa versuchen, mit modernen Kommunikationsformen Gemeinschaften herzustellen. Wie weit sie dann tatsächlich ergänzend sein können für das monetäre System oder das monetäre System sie benutzt, um an die einzelnen Konsument*innen heranzukommen, ist eine andere Frage. Aber auf jeden Fall besteht diese Sehnsucht.

Sie weisen darauf hin, dass ein Großteil des heutigen Geldes keinen materiellen Gegenwert mehr hat, sozusagen fiktiv ist. Was passiert, wenn wir etwas benutzen, das vielleicht gar nicht mehr existiert?
Das macht Angst. Einige Leute an der Börse versuchen, diese Angst zu kompensieren, indem sie noch mehr Nullen produzieren. Ihr Ziel ist es, irgendwann genügend Geldmasse auf ihren Konten zu akkumulieren, um diese wiederum in Lebensqualität umzusetzen oder um damit über andere Menschen Macht auszuüben. Für die anderen bleibt nur die Angst übrig und eine Sehnsucht danach, dass wieder so etwas wie eine Gemeinschaftsverantwortung entsteht. Und die existiert auch gar nicht wenig in Deutschland, wie man jetzt bei den Hilfsangeboten für Geflüchtete gesehen hat. Da ist tatsächlich ein Verantwortungsgefühl für andere entstanden, auch wenn sicherlich unbestreitbar ist, dass sich viel von dieser Verantwortung aus dem Holocaust-Schuldgefühl ableiten lässt.

Sie meinen, dass die aktuelle Unterstützung für Geflüchtete immer noch mit dem Abtragen einer Schuld aus dem Nationalsozialismus verbunden ist?
Eindeutig. Wenn Deutschland, und zum Teil auch Österreich, sich in dieser Situation so anders verhalten haben als die anderen Länder, dann sehe ich dahinter auch das Erkennen einer Möglichkeit, endlich etwas von dieser Schuld abtragen können. Nicht nur im Sinne einer monetären Wiedergutmachung, sondern auch im Sinne einer Integration von dem, was wir aus unserer Mitte vertrieben haben. Gleichzeitig ist in Deutschland wirklich eine Bereitschaft da, Verantwortung für den/die anderen zu übernehmen. Ich spreche von den Leuten, die sich an den Bahnhof gestellt haben und Wasserflaschen oder Schlafsäcke mitgebracht haben.

Wird für dieses Geben, diese „Gabe“ eine Gegenleistung erwartet?
Ja, die Entschuldung, also von dieser Schuld befreit zu werden.

Und wer soll das machen?
Ich glaube, es läuft nicht so, dass jemand irgendwo ein Kreuz macht und alles ist vergessen. Es geht eher darum, von sich selber sagen zu können, dass man etwas dafür getan hat, diese Schuld mit abzutragen.

Ist es in einer „Gesellschaft der Gabe“ wichtig, dass das, was ich gebe, den gleichen Wert hat wie das, was ich nehme?
Viel wichtiger ist das Schuldverhältnis. Es geht darum, dass man sich einander schuldet. Wenn alle Schulden gleichzeitig beglichen würden, wäre das so, als würden alle auf einmal ihr Geld von der Bank abheben wollen. Es käme zu einem Run und zum Zusammenbruch, weil gar nicht genug Geld da ist, um alle auszuzahlen. Die Schuld funktioniert anders. Es entstehen Abhängigkeiten und zugleich das Gefühl, dem anderen etwas zu geben, damit diese Abhängigkeit aufhört. Sie hört aber nicht auf. Sie ist vielmehr Garant des Zusammenlebens.

Gäbe es dazu eine Alternative? Wie wäre es zum Beispiel mit Liebe?
Liebe ist etwas Flatteriges, ändert sich auch mit jeder historischen Epoche. Es ist nicht so sicher, wie dieses Sich-dem/der-anderen-Schulden.

Die Schuld ist die stärkste Bindung, die wir haben können?
Ja, und darauf basiert auch der Glaube. Ich schulde mich Gott. Gott hat mich erschaffen, also schulde ich ihm meine Existenz. Auch das ist ein Schuldverhältnis.

In den europäischen Krisenländern wie etwa in Griechenland gibt es viele Modelle und Praktiken, bei denen die Leute zurück zum Tausch gehen. Es ist ein Versuch, sich einem Markt zu entziehen und gleichzeitig zu überleben und etwas Neues zu etablieren.
Das ist absolut der Fall, es ist nur sehr, sehr schwierig heute. Meistens funktionieren diese alternativen Währungen oder diese Tauschsysteme nur vor dem Hintergrund eines großen Systems – mit Euros oder Dollars. Es ist sozusagen ein Surplus, aber es ersetzt nicht wirklich.

Es besteht auch die Gefahr, dass eine Idee, die zunächst auf einen sozialen Missstand reagiert, so gut funktioniert, dass „der“ Markt diese Idee vereinnahmt. Welche Beweggründe etwa hatte VW, als Sponsor dieses Symposiums aufzutreten? Geht es hier um ein echtes Interesse an „sharing“ als solidarischem Prinzip?
BMW und Mercedes machen beim Carsharing längst mit und haben entdeckt, dass sie damit noch mehr Autos verkaufen können. Die Praxis des Carsharings ist also bereits marktkonform gestaltet worden. Und VW wird sich daran vermutlich in Zukunft beteiligen wollen. Aber tatsächlich stellt sich die Frage: Inwieweit kann es überhaupt etwas geben, das nicht vom Markt vereinnahmt wird?

In ihrem Buch „Der Preis des Geldes“ sprechen sie davon, dass durch die Einführung des Geldes der menschliche Körper zunehmend monetarisiert wurde und sich das bis heute fortsetzt. Was heißt das genau?
Eigentlich hätten die Lehman-Leute den Preis für ihre Spekulationen zahlen müssen. Stattdessen aber mussten die Schwächsten in der sozialen Kette den Preis zahlen, also die 5 Millionen Arbeitslosen und all die Leute in Amerika, die durch die Pleite ihre Behausung verloren hatten. Die USA konnten damals zum ersten Mal seit 35 Jahren ihr Rekrutierungssoll erfüllen – junge Leute wurden arbeitslos, gingen zur Armee, weil sie keinen anderen Job mehr fanden. Sie mussten mit ihrem Körper ganz konkret für die Pleite zahlen. Dann kommen ganz andere Formen der Monetarisierung des Körpers dazu, etwa die Prostitution. Es gibt sie erst, seit es die Geldwirtschaft gibt. Die Prostituierte setzt ihren Körper gegen Geld im Sexualverkehr ein. Genauso wie der männliche Söldner, der im Feld sein Leben, also seinen Körper für Geld einsetzt.

Ist das auf alle Lebensbereiche übertragbar? Sie verweisen auch auf Reproduktionstechnik. Wie funktioniert es da?
Die Reproduktionstechnik ist einer der boomendsten Sektoren der Wirtschaft heute. Der Ökonom Jeremy Rifkin hat schon vor Jahren gesagt, wer diesen Sektor beherrscht, der beherrscht die Zukunft der Menschheit. Das Geld vermehrt sich, und allmählich vermehren sich die Menschen auch nach den Gesetzen des Geldes.

Und wie ist das übersetzbar? Kann ich mir meine Nachkommen jetzt kaufen?
Ja, so können Sie es praktisch beschreiben. Sie zahlen eine Leihmutter, Sie zahlen einen Samenspender, Sie zahlen eine Eizellenspende und können sich auf diese Weise, wenn Sie wohlhabend sind, Kinder leisten.

Christina von Braun ist Professorin i.R. für Kulturwissenschaften, Autorin, Filmemacherin und hat den Studiengang Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin mitgegründet, den sie bis 2002 leitete. Ihr 2012 erschienenes Buch „Der Preis des Geldes“ beschäftigt sich mit der Geschichte des Geldes. Außerdem ist sie Kodirektorin des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.

Also geht es offenbar immer darum, sich etwas leisten zu können. Warum ist es so ungerecht?
Weil substituiert wird: Diejenigen, die Schuld an einer Spekulationsblase und den vielen Nullen haben, delegieren den Preis, den man für die Spekulationen zahlen müsste, an die Schwächsten in der Gesellschaft.