Von Jacinta Nandi

Im Roman “Erschlagt die Armwn“ beschreibt Shumona Sinha, wie die Mitarbeiterin einer französischen Asylbehörde, angewidert vom System, einen Migranten niederschlägt. Ein Skandal! Kurz darauf wird Sinha gefeuert – als Dolmetscherin der Migrationsbehörde. Jacinta Nandi traf Shumona Sinha letzes Jahr für das Missy Magazine. Nun wird die Schriftstellerin mit dem Internationalen Literaturpreis 2016 des Hauses der Kulturen der Welt und der Stiftung Elementarteilchen ausgezeichnet.

droits cédés à l'Olivier jusqu'au 4 décembre 2016
“Ich versuche nicht, eine Französin zu sein. Ich bin es einfach, wache auf, kontrolliere, ob noch genug Wein und Käse im Kühlschrank ist. Ich bin zu Hause in Paris, ich kann ich selbst sein in Paris.“ © Patrice Normand

Frau Sinha, die Hauptfigur in Ihrem Roman, ist eine indische Übersetzerin, die in Paris lebt – genau wie Sie es waren, als Sie das Buch geschrieben haben. Wie autobiografisch ist Ihr Text?
Mein Roman ist inspiriert von meinen eigenen Erfahrungen als staatliche Übersetzerin, die mit Geflüchteten arbeitet. Es ist ein politisches Buch, obwohl es in keinem Fall parteipolitisch ist. Aber es ist ein Roman, der versucht, eine problematische Situation zu beschreiben – die aktuelle Asylsituation. Wir würden alle gerne in einem magischen gelben U-Boot leben, oder? Aber die Realität ist, dass die Länder in Europa nur eine gewisse Kapazität haben, Auslände*innen aufzunehmen. Und im Moment können wir sehen, dass sie damit nicht gut umgehen, etwa hier in Frankreich. Frankreich explodiert gerade wie ein Luftballon! Mein Roman nutzt diese politische Lage, um Fragen zu stellen über Identität, die individuelle Freiheit der Menschen und ihre Bewegungsfreiheit. Das System zwingt die Geflüchteten zu lügen. Das Asylsystem zwingt sie, so zu tun, als seien sie politisch verfolgt, aber die Realität ist, dass sie einfach ein besseres Leben für sich suchen.

Aber Sie wollen doch nicht behaupten, dass alle Geflüchteten in Europa lügen?
Natürlich gibt es Kriege und Völkermorde, und zwar jeden Tag  aber mein Buch handelt –  nicht von Menschen aus diesen Ländern. Sondern von den armen Menschen, die aus Bangladesh, Indien oder Pakistan nach Frankreich kommen. Ich würde sagen, dass 99 Prozent dieser Menschen lügen, wenn sie behaupten, dass sie politische AsylbewerberInnen seien. Aber sie müssen lügen, da man nicht angeben kann, aus ökonomischen oder ökologischen Gründen zu kommen.

Würden Sie Frankreich als rassistisches Land bezeichnen?
Auf keinen Fall! Gibt es Rassismus in Frankreich? Natürlich. Aber ich habe Rassismus von jeder Hautfarbe ausgehend gesehen. Ehrlich gesagt gibt es in Frankreich eine Hierarchie, die Menschen mit Verbindungen zu Frankreichs Ex-Kolonien automatisch höher einstuft – und jene aus Indien sind Außenseiter*innen für immer.

Sie fühlen sich als Migrantin indischer Herkunft nicht akzeptiert? Aber Sie haben doch so viele Bücherpreise gewonnen.
Gut, auf einem bestimmten Level fühle ich mich total akzeptiert. Aber wissen Sie, normalerweise laufe ich nicht mit einem T-Shirt herum, auf dem ‚Berühmte französische Autorin!‘ steht. In meinem Alltag sehen mich die Menschen als Ausländerin, als Touristin – sogar als Eindringling. Ich gebe Interviews fürs Radio, fürs Fernsehen, was fantastisch ist. Aber auf dem Weg zu Radio France fragt mich der Taxifahrer, aus welchem Land ich komme. Wenn ich es sage, wechselt er ins Englische – weil er sich einfach nicht vorstellen kann, dass jemand, der aus einem Land wie Indien kommt, französisch sein könnte. Ich muss dann sagen: Nein, bitte,  sprechen Sie Französisch! Ich bin französisch!

Sie fühlen sich offenbar so französisch, dass Sie auf Französisch schreiben, obwohl Sie das erst als Erwachsene gelernt haben. Haben Sie je drüber nachgedacht, auf Englisch zu schreiben?
Ich habe als elfjähriges Mädchen in Kalkutta angefangen zu schreiben. Ich schrieb damals auf Bengalisch, Bengalisch ist meine Heimatsprache. Englisch war meine Schulsprache, aber Englisch war nie in meinem Herzen. Mit 22 fing ich an Französisch zu studieren. Ich wollte immer Schrifstellerin werden, sogar als junges Mädchen, aber als ich anfing französisch zu lernen, verliebte ich mich sofort in die französische Kultur. Sie müssen sich vorstellen, wie das war in Indien. Sie haben einen bengalischen Nachnamen, waren Sie jemals dort?

Nein, niemals. Mein Papa ist bengalisch, aber ich war nie in Indien.
Ach so, dann wissen Sie das nicht. Indien ist so dominiert von der britischen Kultur, von Großbritannien. Es ist erstickend. Als ich anfing, Romanistik zu studieren, fühlte sich das wie ein Tor in eine andere, freiere Welt an. Ich dachte, ich kann diese Sprache benutzen, um meine eigenen Abenteuer zu erleben. Als ich nach Frankreich kam, hatte ich ab 2003 ein Blog auf Bengalisch und ich merkte bald, dass ich nicht mehr auf Bengalisch schreiben kann. Ich dachte auf Französisch, ich übersetzte Gedanken auf Französisch, ich träumte auf Französisch. Ich träumte von Sachen, die zu Hause in Kalkutta passiert waren, und die Menschen dort sprachen Französisch. Es war diese komische Art von Schizophrenie, die dazu geführt hat, dass ich auf Französisch schreibe.

Fällt Ihnen das nicht schwer?
Es war ein großer Schritt für mich, weil ich sonst überwältigt wäre vom Gewicht der indischen Gesellschaft, die mich zurückgehalten hätte. Ich bin total indisch – meine beiden Eltern sind indisch. Aber ich bin trotzdem frei, weil ich auf Französisch schreibe. Meine Kulturen sind gemischt. Ich versuche nicht, eine Französin zu sein. Ich bin es einfach, wache auf, kontrolliere, ob noch genug Wein und Käse im Kühlschrank ist. Ich bin zu Hause in Paris, ich kann ich selbst sein in Paris.

geb_SU Shumona Sinha: “Erschlagt die Armen!“
Edition Nautilus, 128 S., 18 Euro.

Haben Sie also das Gefühl, dass das Französische Ihnen erlaubt zu schreiben, wie Sie wollen?
Ich schulde den FranzösInnen und auch der französischen Kultur unglaublich viel. Wenn ich auf Französisch schreibe, kenne ich keine sozialen oder religiösen Grenzen. Eine Sprache ist nicht nur eine Ausdrucksweise, sondern auch das, was Sie ausdrücken wollen – die Form und der Inhalt. Dadurch hat sich meine ganze Denkweise geändert. Ich komme aus einem Land wie Indien, aber dank der französischen Sprache kann ich trotzdem schreiben wie eine freie Frau.