Von Yuki Schubert

Was ist Freiheit und wann wird sie einem genommen? Das ist eine zentrale Fragestellung in der Dramedy von Heder. Die Hauptfigur Tallulah oder kurz Lu (gespielt von Ellen Page) hat die Frage für sich beantwortet: Sie fühlt sich frei, weil sie sich mit ihrem Lifestyle keinen gesellschaftlichen Konventionen unterwerfen muss. Ihr bester Freund ist ihr Van, sie hat nichts dagegen, sich ihr Essen zusammenzuklauen, und sie träumt vom Aufstieg auf den Himalaja. Diese Charakterbeschreibung droht ins Klischee des ewigen Hippiegirls abzudriften. Gut, dass sich Heder für Ellen Page entschieden hat.

Tallulah nennt ihren Van ihr zu Hause. © Netflix
Tallulah nennt ihren Van ihr Zuhause. © Netflix

(Bildbeschreibung: Protagonistin Tallulah sitzt hinten in ihrem Van, der mit Lebensmitteln und Krempel voll bepackt ist.)

Page spielt Lu gewohnt unprätentiös mit einem Hauch von Rotzigkeit, Wortwitz und Herz. Ähnlich wie im Film „Juno“ will man mit der Hauptfigur befreundet sein. Ihre Freiheit sieht Lu nur von ihrem Freund Nico bedroht. Der Sohn von privilegierten Eltern aus New York begehrt zwar gegen das Spießertum seiner Mutter auf, wünscht sich aber ein geregeltes Leben mit Job, Kind und Wohnung. Eine absolut tolle Szene ist, als Nico sagt: „Aber ich liebe dich doch!“ Lu: „Dann hör auf damit.“ Diese Trockenheit und Abgeklärtheit erinnert an die legendäre Szene zwischen Han Solo und Prinzessin Leia.

Im nächsten Kapitel der Geschichte werden Beziehungsgeflechte aufgebaut, die sich nie entwickelt hätten, wenn es die Kindesentführung nicht gebe. Denn Lu hat nichts mit der wohlhabenden Carolyn gemeinsam. Die beiden treffen sich nur, weil Lu Hunger hat und Carolyns Essen vor ihrem Hotelzimmer stehlen will. Danach entspinnt sich eine irrwitzige Szene mit einer Frau, die alle fünf Minuten fragt, ob sie zu dick aussieht, inflationär mit „I love you“ herumwirft, nur an die Nacht mit ihrem Kerl denkt und scheinbar auf Drogen ist. Ihre Oberflächlichkeit wird getoppt durch das unverantwortliche Verhalten gegenüber ihrer Tochter. Als Madison droht, auf den Balkon herauszulaufen, greift Lu ein, während Carolyn ganz relaxt sagt: „Sie muss lernen.“

Carolyn versucht mit Hilfe der Polizei ihr Kind wieder zu finden. © Netflix
Carolyn versucht mithilfe der Polizei ihr Kind wiederzufinden. © Netflix

(Bildunterschrift: Carolyn sitzt mit einer Zigarette in der Hand und benommenem Blick bei der Polizei.)

Ein ebenso großer Graben liegt zwischen Lu und Nicos Mutter Margo (gespielt von Allison Janney). Margo ist ein Ordnungsmensch durch und durch. Sie befolgt Regeln und verlangt das auch von anderen. Anders als Lu unterwirft sie sich Konventionen und hat ein genaues, perfektes Bild von sich im Kopf. Daher gibt es für sie nichts Peinlicheres, als dass in ihrem Wohnhaus bekannt wird, dass sich ihr schwuler Ehemann von ihr scheiden lassen möchte. Sie versucht, stets kontrolliert zu sein, und hält damit ihre Gefühle oder Wünsche gerne unter Verschluss. Lu bringt diese Welt zum Einsturz, als sie der geschockten Margo offenbart, dass Madison ihre Enkelin ist. Die Story nimmt weiter Fahrt auf, als Lu polizeilich gesucht wird.

Heders Film besticht neben den guten Schauspieler*innen durch die vielen aktuellen Diskurse: Wie selbstsüchtig darf/kann eine Mutter sein? Wann hat eine Mutter ihre Rechte verspielt? Wie sehr darf ich über andere richten, vor allem wenn sie aussehen, wie sie aussehen?

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Regie: Sian Heder
Netflix, USA 2016
u.a. mit: Ellen Page, Allison Janney, Tammy Blanchard
Läuft ab dem 29. Juli auf Netflix

Ein wirklich großer Wehmutstropfen sind allerdings die Traumsequenzen. Behandelt wird darin die Angst, die Kontrolle zu verlieren (Margo), oder die Befürchtung, doch nicht so frei zu sein (Lu). Wir sehen Lu sowie Margo, wie sie den Boden unter den Füßen verlieren, zu schweben beginnen und sich an den Ästen von Bäumen festhalten. Wirklich? Buchstäblicher geht es nicht mehr. Filme wie „Lost Highway“ oder „Wilde Erdbeeren“ haben uns meisterlich gezeigt, was alles in Bezug auf Träume möglich ist. Abgesehen davon, dass solche Erwartungen an „Tallulah“ gar nicht gestellt werden, sollte man auf so lieblose Umsetzungen verzichten. Schließlich weiß jeder, der schon einmal geträumt hat, das Unterbewusstsein ist bei Weitem nicht so unkreativ und unmittelbar.