Eine Schwester für Greta
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Auf ihrem Blog „Kaiserinnenreich“ schreibt die Berliner Autorin Mareice Kaiser über das Leben mit zwei Kindern mit und ohne Behinderung, Inklusion, Feminismus und – seit dem Tod ihrer ältesten Tochter – über Trauer als Teil des Lebens. Der folgende Text ist ein Vorabdruck eines Kapitels aus ihrem ersten Buch „Alles inklusive“, das nun im Fischer Verlag erscheint. Sie beschreibt darin eine pränataldiagnostische Untersuchung in ihrer zweiten Schwangerschaft, nachdem ihre erste Tochter mit einer Chromosomenauffälligkeit geboren wurde.
Von Mareice Kaiser
Die Arzthelferin packt die Spritze aus, ich höre das Verpackungsmaterial knistern. Die Nadel ist viel größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. „Sie schauen ab jetzt lieber weg“, sagt der Arzt zu mir. Ich bin in guten Händen, sage ich zu mir selbst. Ich muss mich beruhigen. Ich bin alles andere als ruhig.
Die Chorionzottenbiopsie, für die ich heute hier bin, wird in dieser Praxis mehrmals pro Woche durchgeführt. Mit einer Hohlnadel wird schwangeren Müttern durch die Bauchdecke gestochen und Gewebe aus der Plazenta entnommen. Da die entnommenen Zellen das gleiche genetische Material haben wie das ungeborene Baby, können so genetische Auffälligkeiten festgestellt werden. Trägt das Baby in meinem Bauch wieder einen Chromosomenfehler in sich? Neben mir sitzt Thorben, Greta ist auch da. Sie liegt im Autositz, der neben der Behandlungsliege steht, auf der ich liege. Wenn ihr Monitor piept, korrigiert Thorben ihr Kinn. Wie immer in Situationen, in denen ich aufgeregt bin, ist Greta ganz ruhig. Sie schläft.
Bei 1000 Biopsien in Deutschland kommt es durchschnittlich zu drei Fehlgeburten. In der pränatalen Diagnostik geht es oft um Zahlen. Es geht um Risiken und Chancen, um Krankheiten, Behinderungen und Gesundheit. 96 Prozent aller Schwangerschaften enden in der Geburt eines gesunden Kindes. Bei neun von zehn Kindern mit der Diagnose Downsyndrom entscheiden sich die werdenden Mütter für einen Schwangerschaftsabbruch.
Chorionzottenbiopsien finden meistens um die zehnte oder elfte Schwangerschaftswoche herum statt. Eine Zeit, in der es auch ohne Punktion noch zum Spontanabort kommen kann. „Wenn eine Frau nach der Chorionzottenbiopsie die Praxis verlässt und im Fahrstuhl eine Blutung bekommt, ist es allerdings klar, dass das in Zusammenhang mit der Biopsie steht“, erklärt uns Frau Wolf, die Humangenetikerin. Ich lasse nicht locker mit meinen Fragen zu Risiken und möglichen Folgeschäden durch den Eingriff. Ich will auf alles vorbereitet sein, wenn das überhaupt geht, und will die Entscheidung für die Biopsie wohlbedacht treffen.
Sechs Wochen Zeit brauchten Thorben und ich, um zu wissen, welches der richtige Weg für uns ist. In vielen Gesprächen miteinander und mit Frau Wolf, in denen wir uns immer wieder fragten, wie wir mit einem negativen Ergebnis umgehen würden. Wenn wir noch ein mehrfach behindertes Kind erwarten würden. Schaffen wir es, noch ein krankes Kind zu pflegen? Dürfen wir über Leben und Tod entscheiden? Welches Leben ist lebenswert – welches nicht? Fragen, die niemand in sechs Wochen beantworten kann. Uns aber bleibt keine andere Wahl. Es fühlt sich an, wie in eine Ecke gedrängt zu sein und aus ihr nicht mehr herauszukommen. Ich möchte doch einfach nur ein Kind. Ein Geschwisterkind für Greta. Ein nicht behindertes Kind für Thorben und mich. Der Arzt zeigt mir mein Kind im Ultraschall. Das ist das normale Vorgehen vor einer Punktion: Das Baby wird gecheckt, die Lage der Plazenta kontrolliert, damit der Arzt mit der Nadel weder Kind noch Fruchtblase verletzt. „Alles sieht wunderbar aus“, beruhigt er mich und meint damit nicht nur mein Kind, sondern auch die Lage der Plazenta, in die er nun stechen will. Stechen muss. Ich spüre seine Anspannung. Es geht um ein Menschenleben, genau genommen um viele Menschenleben, um ein Familienleben. Greta ist der einzige Mensch im Raum, der entspannt ist. Zwischen ihr und mir sitzt Thorben auf einem Stuhl und hält meine schweißnasse Hand.
Es ist unbequem auf dieser Liege. Mein Kopf liegt auf einem Kissen, die Arzthelferin hat meinen Bauch desinfiziert. Es kann losgehen. Für mich kann es das aber nicht. Meine Panik wird immer größer, ich will nicht, dass die Spritze in meinen Bauch gestochen wird. Ich will nicht, dass der Arzt Gewebe entnimmt, ein paar Millimeter entfernt von meinem ungeborenen Kind, das im Ultraschall so perfekt aussieht. Ich will mein Kind nicht im Fahrstuhl verlieren!
Ich springe von der Liege auf und breche den Eingriff ab. In diesem Moment ist mein mütterlicher Instinkt, mein Baby zu schützen, größer als die Angst vor einem zweiten pflegebedürftigen Kind.
Nach drei Tagen Bedenkzeit kehren wir zurück in die Praxis für Pränataldiagnostik und Humangenetik. Ich lasse den Eingriff durchführen. Weil ich weiß, dass ich eine Schwangerschaft in Ungewissheit noch weniger ertragen würde. Ich bitte darum, vorher nicht im Live-Ultraschall mein Baby zu sehen, das ist für mich die falsche Dramaturgie. Nach dem Eingriff, der sehr schmerzhaft ist, nicht nur psychisch, nehme ich die Treppen und benutze nicht den Fahrstuhl.
Um die Zeit des Wartens möglichst abgelenkt zu verbringen, fahren wir an die Ostsee. Die Eltern einer Freundin stellen uns ihre Ferienwohnung zur Verfügung, die wir uns sonst nicht leisten könnten. „Ein Krankenhaus ist auch in der Nähe“, schrieb mir meine Freundin per Mail. Sie hatte meine Unsicherheit begriffen, denn die Panik war bei uns immer im Gepäck. Eine Klinik in der Nähe war eine der vielen Bedingungen für einen Urlaub zu dritt. Die Wohnung ist schön, Greta hat ihr eigenes kleines Bett neben unserem, in fünf Minuten sind wir am Strand.
Wir gehen mit Greta im Tragetuch an den Strand, verbringen die Nachmittage im Strandkorb. Drei Wochen nach der Biopsie klingelt das Telefon in der Ferienwohnung, das Herz schlägt mir bis zum Hals. Die Humangenetikerin sagt, dass wir ein gesundes, genetisch völlig unauffälliges Kind erwarten. „Möchten Sie wissen, was es wird?“, fragt Frau Wolf mich am Telefon. Das Wichtigste hat sie mir ja schon gesagt. Ob Junge oder Mädchen war uns schon bei Greta egal. Nun ist es uns noch mehr egal. „Ja“, sage ich trotzdem, aus Neugier. „Greta bekommt eine kleine Schwester“, sagt sie, und ich höre, wie sie sich freut, uns gute Nachrichten überbringen zu können. „Wirklich?“, frage ich. Ein Mädchen, ohne Chromosomenfehler. Beides kann ich nicht glauben, die Nachricht fühlt sich irreal an. Thorben wartet im Nebenzimmer, er erträgt die Spannung nicht.
Mareice Kaiser: „Alles inklusive. Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter“
S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2016, 288 S., 14,99 Euro, VÖ: 24.11.
Ich bin jetzt in der zwölften Schwangerschaftswoche, das Geschlecht des Kindes kann man normalerweise zu diesem Zeitpunkt noch nicht per Ultraschall sicher ermitteln. Wir wissen durch das Ergebnis der Chorionzottenbiopsie plötzlich sehr viel von unserem Kind. Es fühlt sich richtig und gleichzeitig falsch an.
Dass mein Kind durch meine Bauchdecke geschützt ist, ist für mich logisch. Es tut mir fast ein bisschen leid, dass wir seine Privatsphäre mit der Untersuchung stören mussten. Ein gesundes Kind in meinem Bauch. Wow. Nach dem Telefonat atme ich ein und aus und ein und aus. Ich wische die Träne von meiner Wange und gehe zu Thorben. „Greta bekommt eine gesunde kleine Schwester“, sage ich zu ihm – auch, um es selbst noch mal zu hören. Wir liegen uns in den Armen und weinen beide, erleichtert, dann gehen wir zu Greta und überbringen ihr die gute Nachricht. Sie schläft. Es sieht aus, als würde sie dabei lächeln.