Von Judith Werner

Auf dem Holztisch dampfen die Tortellini im Tomatensud, der Büffelmozzarella glänzt milchig weiß unter den saftig grünen Basilikumblättern. In der Küche des kleinen toskanischen Bauernhauses sitzen drei Brüder und reden über ihre Kindheit. Eine pittoreske Szene toskanischen Familienlebens, könnte man meinen. Doch die Geschwister Anati sind hier nur Gäste an dem Ort, der einst ihre Heimat war.

© GMfilms

Die israelische Regisseurin Tamar Tal begleitet in ihrem Dokumentarfilm „Shalom Italia“ Emmanuel, Reuven und Andrea Anati bei ihrer Spurensuche: Während des Zweiten Weltkriegs musste sich die jüdische Familie vor den deutschen Truppen verstecken. Um der Deportation zu entgehen, flohen sie in einen nahe gelegenen Wald, wo sie unter Todesangst und Entbehrungen in einer Höhle ausharrten. Eine Story wie gemacht für einen Hollywoodstreifen – Tamar Tal entschied sich jedoch dafür, das Ganze dokumentarisch festzuhalten.

Es ist eben nicht nur eine Geschichte, die sie erzählt, sondern ein kaleidoskopartiger Blick auf ein gemeinsames Schicksal: Emmanuel, mit 84 Jahren ältester der drei Brüder, hat seine Kindheit so gut wie möglich verdrängt und verspürte nie das Verlangen, aus Israel nach Italien zurückzukehren. Der elf Jahre jüngere Reuven hingegen kann sich an die Zeit in der Höhle kaum erinnern und ist auf die Erzählungen der Geschwister angewiesen. Er ist es, den die Neugier antreibt, sich auf die gemeinsame Reise zu begeben und das einstige Versteck aufzuspüren. Der heute 82-jährige Andrea hingegen scheint die Flucht zu einer Abenteuergeschichte verklärt zu haben und schwärmt vom damaligen Leben im Wald.

Tamar Tal Anati, die mit ihrem Dokufilm „Life In Stills“ (2011) international für Aufsehen sorgte und zahlreiche Preise gewann, ist keine unbeteiligte Beobachterin: Die Anati-Brüder gehören zur Familie ihres Ehemanns. Es ist also auch ein Stück weit ihre eigene Suche, die sie mit der Kamera verfolgt. Vielleicht gerade auch weil sie die Protagonisten ihres Films persönlich kennt, gelingt es ihr, ihnen Raum zu geben. Oft ist die Kamera weit entfernt, etwa wenn die Brüder durch das alte Dorf spazieren, in dem sie eine Frau entgeistert wiedererkennt.

Der Film dringt nicht gewaltsam in die Psyche der Figuren ein, versucht nicht, menschliches Leid heranzuzoomen. Im Fokus stehen vielmehr das Erinnern und die damit verbundenen Schwierigkeiten: Welcher der Brüder kennt die wahre Geschichte – und gibt es überhaupt so etwas wie Wahrheit? Geschickt erlaubt sich Tal einzelne Close-ups, zum Beispiel wenn Emmanuel, der Anthropologie-Professor, über Legendenbildung und Historie spricht: „Es gibt verschiedene Versionen und verschiedene Versionen, an die die Menschen glauben.“ Ein kurzes Blinzeln, ein Räuspern – für einen Moment glaubt man den Schmerz erblicken zu können, den zu fühlen er sich ein Leben lang verboten hat.

„Shalom Italia“ IL/DE 2016
Produzentin/Buch/Regie: Tamar Tal Anati.
Mit: Emmanuel Anati, Andrea Anati, Ruben Anati, 71 Min., Start: 04.05.

Die Erzählungen der Brüder – so versteht man am Ende – sind allesamt wahr, insofern sie ihr eigenes Erleben widerspiegeln. Jeder glaubt an die Geschichte, die ihm ein Weiterleben nach dem Trauma möglich gemacht hat. Und so feiert der Film mit malerischen Ausblicken auf toskanische Hügel und der italienischen Liebe zu gutem Essen, die die drei Brüder aufs Genussvollste zelebrieren, vor allem eins: das Leben.