Von Josephine Apraku, Shaheen Wacker, Nela Biedermann, Kristin Lein, Jacqueline Mayen, Mic Oala

Diesen Juni findet in Berlin der Black-Lives-Matter-Monat statt. Die Organisatorinnen sind ein feministisches Frauen*kollektiv, ihr Ziel ist es, Räume, Ressourcen und Kontakte zu mobilisieren, um langfristig eine Infrastruktur für Widerstand zu organisieren. Das Gespräch ist eine Verständigung untereinander über die Perspektiven und Motivationen, Black Lives Matter Berlin zu organisieren. Es gibt keine Interviewer*innen, aber Fragen und Antworten – „for us, by us“.

Die Organisatorinnen des Black-Lives-Matter-Monats: Mic Oala, Shaheen Wacker, Nela Biedermann (stehend), Josephine Apraku, Jacqueline Mayen, Kristin Lein (stehend). © Feministisches Frauen*kollektiv

Was motiviert uns dazu, unter dem Namen „Black Lives Matter Berlin“ Widerstand zu organisieren?
Josephine Akrapu:
Für mich geht es vor allem um die Verbindung von globaler und lokaler Vernetzung. Ich werde auch nicht müde, das zu sagen: Rassismus gegen Schwarze Menschen ist international, also müssen wir Bewegungen wie Black Lives Matter (BLM) international denken. Genau das ist es übrigens auch, was mich dazu befähigt, den BLM Monat zu organisieren – Rassismus gegen Schwarze Menschen ist eine kollektive Erfahrung.

Shaheen Wacker: Wenn ich sage „Black Lives Matter“, dann sage ich auch, dass mein eigenes Leben zählt, dass ich als Mensch, meine Erfahrungen und mein Leben nicht nur als Teil der Schwarzen Community, sondern als Teil der Gesamtgesellschaft von Bedeutung sind. Das klingt vielleicht komisch, aber das ist mir eigentlich erst im vergangenen Jahr wirklich bewusst geworden. Rassismus in Deutschland bedeutet für mich vor allem psychische Gewalt. Eine Folge davon ist Depression. Ich habe mich lange damit beschäftigt, wie es sein kann, dass meine – wie ich finde absolut normale – Reaktion auf alltägliche psychische Gewalterfahrungen in dieser Gesellschaft pathologisiert wird. Jemand hat mal gesagt: „It is no measure of health to be well adjusted to a profoundly sick society“. Das klingt logisch, oder? Deswegen eine Therapie zu machen, hat sich für mich immer so angefühlt, als würde ich aufgeben. Als würde ich zulassen, dass man mich für verrückt erklärt. Dabei ist die Welt krank und nicht ich. Aber eine Therapie ist im besten Fall ein Weg, in dieser Welt zu überleben.

Ein anderer Weg ist es, aktiven Widerstand zu leisten. Indem ich mich politisch mit Leuten organisiere, die ebenfalls der Ansicht sind, dass es für alle gesünder ist, gemeinsam die Gesellschaft zu verändern, statt an den Menschen rumzudoktern, die diese Gesellschaft krank macht. Politisch aktiv zu sein, vor allem unter dem Slogan „Black Lives Matter“, befreit mich von Isolation und von dem Gefühl, in dieser Gesellschaft machtlos zu sein. Ich verstehe BLM als eine Bewegung, die sich sowohl nach außen als auch nach innen richtet. Genauer genommen bewegen wir uns sogar von innen nach außen. Jede Person ist als Teil dieser Bewegung zugleich ihr Zentrum. Ich sehe intersektionale Kollektive, in denen Menschen aus den Schnittmengen ihrer Diskriminierungserfahrungen neue, machtkritische Methoden entwickeln als die treibende Kraft einer alternativen Gesellschaft. BLM ist für mich ein erster konkreter Schritt in diese Richtung.

Nela Biedermann: BLM bedeutet für mich, aus einer geschützten Position heraus die Realität neu in den Blick zu nehmen. Es bedeutet, Diskriminierung nicht mehr zu entschuldigen, sondern klar einzuordnen. Die verschiedenen Schichten an Traumata, die aus Rassimuserfahrungen resultieren, in mir aufzudecken und zu begreifen, wie sie mich als soziales Wesen verändern. Diese Erkenntnisse, die ich aus der geschützten Position des Zusammenschlusses heraus gewinne, helfen mir extrem, mein persönliches Potenzial zu entfalten. Ich bin in einer weißen Familie in Mitteleuropa aufgewachsen. So lange bis jemand mich wegen meiner Hautfarbe klassifizierte – das passierte mit fünf Jahren auf einem Spielplatz – habe ich mich sicher, geborgen und vor allem gleichwertig gefühlt. Später habe ich rassistische Stilblüten in verschiedensten Formen selbst erfahren und natürlich auch bei anderen erleben müssen.

Oft gehört: Wenn man etwas gut kann, dann spielt die Hautfarbe keine Rolle, dann wird man immer seinen Weg machen. Aber auch: Streng dich besonders in der Schule an, du bist anders, deshalb musst du besser sein. Diese Ambivalenz, die Naivität und teils auch die Überforderung der Menschen um mich herum, die mein Schwarzsein entweder ignorierten oder entschuldigten, spiegelt unsere gesellschaftliche Realität sehr gut wieder. Dabei erscheint es mir als so einfach zu begreifen, dass Race ein soziales Konstrukt ist, von welchem Menschen profitieren – Sei es, um Geld damit zu machen oder um sich schlichten Gemüts über einen anderen zu erheben und daraus irgendeinen Selbstwertschub zu generieren. Race, Rassismus haben also eine Funktion in unserer Gesellschaft, womit schon die Jüngsten im Sandkasten Mauern bauen können. Als Pragmatikerin habe ich keine andere Chance, als den Kampf gegen besagte Strukturen aufzunehmen. Seitdem der politische Mensch in mir erwachte, ist für mich das politische Handeln einzige Konsequenz. 

Was hat euch in der Beschäftigung mit Black Lives Matter am meisten erstaunt?
NB: Mich erstaunt, dass meine Beschäftigung mit BLM Leute aus meinem Umfeld trotz aller Reflektiertheit zu Fragen geführt hat wie: „Dir ging es doch bisher ganz gut, was willst du denn damit beweisen?“ Auch interessant ist, dass mein politischer Einsatz – ein bisschen wie in einer Hitparade – beurteilt wird: „Ich kann deine Probleme im Vergleich mit der Flüchtlingsproblematik gerade gar nicht verstehen.“ Es erstaunt mich auch, dass man 2017 immer noch die Ursprünge und Zusammenhänge zwischen (deutschem) Kolonialismus und unserer kapitalistischen Ökonomie unterschätzt und verdrängt. Ja, wir leben hier in Deutschland mit einer mehrheitlich weißen Bevölkerung, dennoch gab es hier schon immer Schwarze oder nicht-weiße Menschen, mehr oder weniger sichtbar. Es erstaunt mich, dass die Wahrnehmung vieler Deutscher eine ganz andere ist. Die Welt war nie weiß, genauso wenig wie Deutschland. Sie ist es nicht und wird es nie sein.

Wie stehen wir dazu, dass unsere Gruppe sich aus Schwarz und weiß positionierten cis Frauen zusammensetzt?
Kristin Lein: Das ist ja organisch entstanden. Nach der ersten BLM-Demo letztes Jahr war das Bedürfnis nach mehr und plötzlich waren wir sechs Personen, die weitermachen wollten – eine musste sich dieses Jahr leider zurückziehen, dafür haben wir jetzt eine andere liebe Person. Die Hälfte von uns kannte sich nicht, aber weil wir im Gespräch bleiben wollten, haben wir noch eine zweite Demo auf die Beine gestellt und versucht, möglichst vielen Schwarzen Positionen Raum zu geben. Das wollen wir dieses Jahr weiterführen und ausbauen. Ich glaube, das ist intersektionaler Feminismus at work (1). Für mich war immer klar, dass wir helfen und unterstützen, aber der Raum nicht uns gehört, dass wir nur Gäste sind. Kann man das so sagen?

SW: Ich würde nicht sagen, dass ihr „nur Gäste“ seid. Ihr seid ein wichtiger Teil unseres Kollektivs. Auch weil diese Konstellation zeigt, dass alle in dieser Gesellschaft sich für Veränderung verantwortlich fühlen und aktiv werden können, unabhängig davon, ob sie direkt von einer bestimmten Diskriminierungsform betroffen sind oder von verschiedenen – oder vermeintlich von gar keiner. Wir haben in unserem Aufruf gesagt: „Wir verbinden existierende Räume, Ressourcen und Kontakte, um uns gemeinsam im Widerstand zu organisieren.“ Der Raum von dem du sprichst, Kris, also unsere Gesellschaft, gehört uns allen. Jede von uns hat das Bedürfnis, die eigenen Energien, Ressourcen und Privilegien einzusetzen, um etwas zu verändern, und ich wünsche mir, dass dadurch so viele Menschen wie möglich inspiriert werden, dasselbe zu tun – nicht nur Schwarze Menschen, nicht nur (cis) Frauen.

Außerdem sehe ich in dieser Konstellation viel komplexere Positionierungen und Identitäten als nur die von Schwarzsein, weißsein, Cissein, Frausein und ich wünsche mir, dass Black Lives Matter Berlin auch noch viel komplexer wird. So komplex wie die Realitäten in unserer Community eben sind. Ich sehe intersektionale Kollektive, in denen Menschen aus den Schnittmengen ihrer Diskriminierungserfahrungen neue, machtkritische Methoden entwickeln, als die treibende Kraft einer alternativen Gesellschaft. BLM ist für mich persönlich ein erster konkreter Schritt in diese Richtung.

JA: Kristin und Shaheen haben das schon angesprochen, im Grunde ist es simple Logik: Als Feministinnen können sich Mic und Kristin nicht zurücklehnen und sagen: „Rassismus? Och nee, interessiert mich nicht. Ich kämpfe für die Gleichberechtigung von Frauen*.“ Letztlich betrifft uns, die wir den Black-Lives-Matter-Monat organisiert haben, das auf verschiedene Art alle. Unabhängig davon, ob wir mit Blick auf ein Diskriminierungsverhältnis privilegiert sind oder nicht, müssen wir Verantwortung übernehmen. Natürlich fallen die Verantwortlichkeiten unterschiedlich aus, aber sie sind da. Ich sehe es so: Wenn die Rechte von Person XY missachtet werden, dann sind es immer auch meine Rechte, die missachtet werden. Wenn ich mich für diese Person einsetze, handle ich auch in meinem Interesse. Welche Prägung und Inspiration – familiär und politisch – fließt in unsere Arbeit ein? Gab es einen bestimmten Moment der Politisierung

SW: Meine Erziehung ist definitiv die Grundlage meiner politischen Praxis. Wenn ich von meinen Eltern spreche, meine ich meine Mutter und meine Oma. Diesen Frauen verdanke ich alles. Allein das Privileg, in einem Matriarchat aufgewachsen zu sein. Ich habe von meinen Eltern gelernt, was Feminismus in der Praxis bedeutet, was Widerstand bedeutet, was Solidarität bedeutet. Aber meine Eltern sind beide weiße Frauen, und es war schmerzvoll, eines Tages feststellen zu müssen, dass uns diese Realität auch trennt. Ich habe mich dann viel mehr mit afroeuropäischer und afroamerikanischer Geschichte beschäftigt, um das auch historisch nachvollziehen und meine Erfahrung darin verorten zu können. Am meisten hat mich, glaube ich, erstaunt festzustellen, dass weiße Menschen tatsächlich in einer anderen Realität leben als Schwarze Menschen und People of Color. Dass das Privileg weißsein als so selbstverständlich wahrgenommen wird, war der größte Schock für mich. Als ich verstanden habe, wie allgegenwärtig white supremacy ist, wie international und wie es gleichzeitig gar kein Thema ist, das war, glaube ich, der größte Schock für mich.

JA: Ich finde spannend, was du sagst, Shaheen. Dass weiße Menschen in einer anderen Realität leben als ich, hab ich schon früh bemerkt. Ich glaube, dass das in meinem Fall daran liegt, dass ich sowohl im Kindergarten als auch in der Schule meine bittersten Rassismuserfahrungen gemacht habe. Schon da fand ich es erschreckend, wie einige der anderen Kinder „heimlich“ mit mir befreundet waren und dann offen auf dem Schulhof gegen mich gehetzt oder mich beschimpft haben. Diese Erlebnisse prägen mich bis heute. Sie haben den größten Einfluss auf meine akademische und praktische Arbeit.

Am bedeutendsten für mich ist, dass ich mich explizit als Schwarz definiere. Mir war zu Beginn gar nicht bewusst, was für eine krasse Auswirkung diese klare Selbstpositionierung für mich haben würde: In einer Gesellschaft, die mir Komplexität abspricht und mich festschreibt, ist mich selbst zu definieren revolutionär. Besonders auch, weil Schwarzsein eine Kollektividentität ist. Ich bin, weil du bist, weil wir sind. Wir alle sind miteinander verbunden. Für mich liegt darin so unendlich viel Potenzial für Kreativität und so viel Handlungsspielraum, weil ich dadurch jenseits von binären Logiken zu denken imstande bin.

NB: Ich bin wie Shaheen in einem matriarchalen Haushalt aufgewachsen. Meine Oma war der Motor unserer Familie und eine sehr meinungsstarke Frau, was oft zu heftigen Diskussionen führte. Im Nachhinein hat mir diese Energie aber geholfen, mich in Auseinandersetzungen zu positionieren und Meinungsverschiedenheiten auch mal auszuhalten. Ich habe außerdem versucht, mir ihren Wissensdurst, komplexes Denken und eine gewisse Art präventiven Pragmatismus – wenn du etwas nicht weißt, frage! Wenn du etwas nicht kannst, lerne – anzueignen. Sehr ausgeprägt ist bei uns Frauen auch ein eigenwilliger Humor und immer einen Mittelfinger für die Welt in der Hosentasche zu haben. Ich verstehe heute auch meine Mutter besser und sehe, wie schwer sie es gehabt haben muss als Frau, die Individualität, persönliche Freiheit und künstlerische Entfaltung als lebenswichtig empfindet.

Als Pianistin hat sie mir die Kraft der Musik nahegebracht, über Beethoven erklärte sie mir Leidenschaft, über Bach Eigenwilligkeit. Es gab und gibt viel Ungeklärtes zwischen uns, aber Musik und bildende Kunst waren immer eine Brücke zum Wir. Eine drastische rassistische Erfahrung, die mit einer Faust in meinem Gesicht endete, nachdem ich ein Konzert besuchte, löste in mir eine Kaskade von Gefühlen aus. Angst und Depression machten mir die Bewältigung von Alltäglichem schwer. Der bedingungslosen Liebe meiner Tochter verdanke ich eine Katharsis, die sich nachfolgend einstellte. Ich wurde stärker und konsequenter in meinem Bestreben, meinem Kind und ihrer Generation eine bessere Welt zu hinterlassen.

KL: Angefangen hat alles mit der Musik. Soul ist politisch. Das Kämpferische habe ich definitiv von meiner Mama, aber darüber zu lernen, Widerstand zu leisten gegen Diskriminierungen, verdanke ich – ohne pathetisch klingen zu wollen – unglaublich vielen Schwarzen bzw. PoC-Aktivist*innen. Große Augenöffner waren die Texte von May Ayim (2) und Noah Sows Buch „Deutschland Schwarz Weiß“, die ich parallel zum Studium (Medien- und Kulturwissenschaften) gelesen habe. Im Studium hat dann auch endlich der Austausch mit anderen stattgefunden, der mir vorher gefehlt hat. Ich hab mit 16 oder so das erste Mal die Biografie von Malcolm X gelesen, aber es hat dann noch ca. zehn Jahre gedauert – da sind wir wieder bei den unterschiedlichen Realitäten, die Josie und Shaheen ansprachen. Ehe ich begriffen habe, wie die Strukturen hier in Deutschland funktionieren und welche Verantwortung ich mit meinen weißen Privilegien habe – gerade auch, aber nicht nur meiner Schwarzen Tochter gegenüber –, und da war meine Tochter auch schon fünf, und ich war erstaunt, wie viel mehr Sinn alles plötzlich gemacht hat, und wie naiv ich trotz des vorher gesammelten Wissens noch war.

JM: Ehrlich gesagt kann ich keinen konkreten Moment ausmachen, den ich rückblickend als Initialzündung bezeichnen würde. Das war eher ein wachsender Prozess der Bewusstseinswerdung. Während meines Studiums habe ich angefangen, mich verstärkt mit Rassismus und Sexismus zu beschäftigen. Das war anfangs sehr ego-motiviert. Ich wollte mich, mein Verständnis von mir selbst und die Strukturen meiner Umwelt besser verstehen. Besonders die Texte und Gedichte von May Ayim haben mir dabei sehr geholfen. Aber wirklich fruchtbar, motivierend und vor allem schmerzstillend waren die Begegnungen mit anderen Schwarzen Gleichgesinnten. Zum Beispiel in einem Seminar über Schwarzen Feminismus, der mir meine erste und einzige Schwarze Dozentin bescherte. In Worten lässt sich kaum ausdrücken, wie unglaublich belebend und richtig sich das angefühlt hat, mit einer Schwarzen Freundin und anderen Schwarzen in einem Seminar über Schwarze deutsche Geschichte zu sitzen, dass von einer Schwarzen Frau geleitet wird. Mir wurde langsam klar, dass das, was ich hier mache – Schwarzes Wissen anhäufen zu können, Schwarzen Feminismus zu entdecken und zu leben sowie zu lernen, mich bedingungslos selbst zu lieben –, überindividuell ist und nur durch den jahrzehntelangen Aktivismus Schwarzer Menschen vor mir möglich war.

Welche Bedeutung haben antirassistische Initiativen für dich als Schwarze deutsche Frau?
JA: Ich verstehe Widerstand wie einen Staffellauf: Wir sind ein Team. Ich baue auf der Arbeit der Läufer*innen vor mir auf und gebe den Staffelstab an die nächsten ab.

JM: Frauen wie May Ayim, Audre Lorde oder Katharina Oguntoye (3) haben das Fundament gegossen, auf dem ich mich heute so selbstverständlich bewegen kann. Ich bin unseren Vorkämpferinnen dafür zutiefst dankbar. Sie haben Kämpfe ausgetragen, die wir heute so nicht mehr kämpfen müssen. Ihre Leistungen haben meiner Generation ein – im Verhältnis zur voriger Generation – privilegierteres Heranwachsen ermöglicht. Was mein Status quo ist, war Teil ihrer Vision. Genau da möchte ich anknüpfen. Nach der zweiten BLM-Demo letzten Sommer war ich ganz high von dem Gedanken, dass Schwarze Kinder und Jugendliche dabei waren und sie leibhaftig erfahren konnten, dass es Schwarze Menschen gibt, die sich diese ganze Scheiße hier nicht gefallen lassen. Ich musste an das afroamerikanische Proverb „each one teach one“ denken, ein Satz, der in der Zeit der Versklavung Schwarzer Menschen in den USA aufkam. Jegliches Wissen musste an andere Schwarze Personen weitergegeben werden. Genau so möchte ich verfahren, ob im Kleinen oder Großen. Die Visionen meiner Generation sollen der Status quo der nachfolgenden sein.

Was wollen wir unseren kleinen Geschwistern, unseren Kindern, die ja auch mit rassistischen Gesellschaftsstrukturen aufwachsen, mitgeben?
KL: So ganz spontan würde ich Audre Lorde zitieren: „Mich um mich selbst zu kümmern, ist keine Nachgiebigkeit gegen mich selbst, sondern Selbsterhaltung, und damit ist es ein Akt politischer Kriegsführung“ und sagen, dass sie die Freundinnenschaften suchen und pflegen soll, mit denen sie sie selbst sein kann. Dazu gehört der Austausch mit Menschen, die die gleichen Erfahrungen machen und gemeinsame Strategien und Widerstand entwickeln, genauso wie einfach nur sorglos Dinge tun.

SW: Radikale Selbstliebe, auf jeden. Und damit meine ich nicht, hör nur auf dein Ego und scheiß auf alle. Aber ich glaube, ich hätte mir, als ich jünger war, viel Leid ersparen können, wenn ich mehr auf mich gehört hätte, auf mein Gefühl, wenn sich was irgendwie schon falsch und unangenehm angefühlt hat … Audre Lorde spricht in ihrer Arbeit oft darüber, dass wir uns nicht vor dem verschließen sollen, was uns wehtut. Wenn du jung bist und dazugehören willst, verdrängst du solche Gefühle oft. Aber wenn du dieses Unwohlsein, den Schmerz zulässt, hilft er dir zu verlernen, was dir diese Gesellschaftsstrukturen beibringen. Es ist nicht deine Aufgabe, die Harmonie zu bewahren, wenn dich jemand verletzt, sexistisch oder rassistisch behandelt oder du so was mitbekommst. Du entwickelst ein Gefühl dafür, wie sich die Gewalt anfühlt, und somit auch ein kritisches Verständnis dafür. Gleichzeitig ist radikale Selbstliebe das, was dich davon abhält, diese Gewalt zuzulassen. Du lernst, wo deine Grenzen sind, und es braucht gar keine weitere Rechtfertigung als die Liebe zu dir selbst, um ein NEIN auszusprechen und zu behaupten.

Black Lives Matter Berlin
sind Josephine Apraku, Shaheen Wacker, Nela Biedermann, Kristin Lein, Jacqueline Mayen und Mic Oala. Sie organisieren am 24. Juni eine Black-Lives-Matter-Demonstration durch Berlin gegen den mangelnden Willen zur Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland und für Schwarze Sichtbarkeit. Im Vorfeld finden zahlreiche Veranstaltungen statt, mehr unter www.blacklivesmatterberlin.de und www.facebook.com/BLMberlin.

JA: Ich denke bei solchen Sachen, und darüber schmunzeln schon einige, immer an meine jüngere Schwester. Wenn ich ehrlich bin, dann würde ich der gar nicht so viel mitgeben, einfach weil sie so toll ist und so’n kritischer und empathischer Mensch. Das hält mich natürlich nicht davon ab, sie trotzdem ständig vollzuquatschen. Wenn ich auf meine Teenager-Jahre zurückblicke, dann würde ich mir heute selbst gerne sagen, dass ich auf ’nem guten Weg bin. Das knüpft eigentlich an all das Gesagte an: Mach weiter, deine Perspektive auf die Welt ist legitim, deine Kritik ist schon jetzt zu hoch für einige, kümmer dich um dich selbst, hab Spaß mit deinen Freund*innen und es ist voll okay, ignorante Leute gehen zu lassen – du machst das schon ganz richtig so. Außerdem hat es mir geholfen, zu lesen und zwar von Menschen, die all meine Gedanken schon vor mir hatten, dadurch war ich dann in bester Gesellschaft.

NB: Das ist ein schöner Gedanke, Josy. Ich glaube die Generation meiner Tochter hat einen viel entspannteren Umgang mit z.B. Berlins Multikulturalität als meine. Für den Fall, dass  sich das Gefühl des Entwurzeltseins vielleicht doch irgendwann einmal einstellt: „Home is where the unconditional Love is“. Vergiss nicht, dass Heimat vor allem keine geografische Ursprünge hat.

Mic Oala: Ja, du bist hier zu Hause und das kann dir niemand absprechen! Nationalstolz ist gefährlicher Blödsinn, egal auf welche Nation bezogen. Die Identifikation über ein Herkunftsland oder eine soziale Stellung, in die wir zufällig hineingeboren werden, ist konstruiert und inakzeptabel, denn sie ist nicht unser Verdienst und dementsprechend kein Grund, stolz zu sein und ebenso wenig sich klein machen zu lassen, sich toleriert oder geduldet zu fühlen. Unsere Wurzeln prägen uns, unsere Unterschiedlichkeit ist eine Bereicherung für jede Gesellschaft und sogar eine Notwendigkeit, um zu lernen, zu wachsen und uns als Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Respect our existence or expect our resistance!

 

 

Anmerkungen:

Die Fragen in dem Interview haben sich die Aktivist*innen der Black Lives Matter Gruppe in Berlin selbst überlegt, eine Diskussion geführt und das Ergebnis daraufhin niedergeschrieben.

1) Der Ansatz der Intersektionalität geht davon aus, dass sich unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse und Unterdrückungserfahrungen – Sexismus, Rassismus, Klassenverhältnisse, Ableismus etc. – überkreuzen und miteinander verbinden, und dass dies im Kampf dagegen berücksichtigt werden muss.

2) May Ayim (1960–1996) setzte sich in Essays und Gedichten mit dem Rassismus in Deutschland auseinander. 1986 gab sie mit Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz das Buch „Farbe bekennen“ heraus.

3) Katharina Oguntoye ist ebenfalls Herausgeberin des Buches „Farbe bekennen“ und seit den 1980ern in der Schwarzen Frauenbewegung aktiv. Audre Lorde ist eine Schwarze US-amerikanische Autorin und Aktivistin. Sie lehrte ab Mitte der 1980er-Jahre an der Freien Universität Berlin und war eine wichtige Inspirationsquelle für die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland. Mehr hierzu im Gespräch „Black to the Future“ über die Geschichte Schwarzer Frauenbewegung in ak 624.