Trennungen, Todesfälle, Verluste, Verletzungen, Gewalt und am Ende steht das Darüber-Hinwegkommen. Ich gebe zu, ich verstehe das Konzept des Darüber-Hinwegkommens nicht. Was meint das? Die Veränderung bestimmt mein Leben nicht mehr? Es tut nicht mehr weh? Ist mir gleichgültig geworden? Wie wird das gemessen? Anhand einer Milliliteranzeige vergossener Tränen oder der Summe kraftloser Stunden im Bett?

Ein ganzer Order voller Trauerfälle © Tine Fetz

Das ICD-10 sagt, zwei Wochen Trauer sind okay. Danach muss eine*r zumindest so weit über Was-auch-Immer hinweg sein, dass wieder regulär funktioniert wird, sonst lautet die Diagnose „Depression“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer das liest und das nicht total absurd findet. Aber darum geht es hier nicht.

Die eigene und fremde Aufforderung des Über-etwas-Hinwegkommens sind mir in der Vergangenheit besonders bei den Themen Trennung, Tod und Gewalt untergekommen. Dabei kam der Druck sowohl von mir selbst, als Teil internalisierter Vorstellungen, wie mensch mit Dingen umzugehen hat, wie auch verbal und nonverbal als massiver Druck von außen.

Trennung: Ich habe Jahre um meine erste Liebe getrauert. Und ständig kommentierten Leute: „Du musst langsam mal darüber hinwegkommen.“ „Stimmt“, dachte ich und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass die Verletzung und der Verlust nichts sind, das ich einfach wegwischen kann. Sie war damals meine Vertraute, die Person, bei der ich mich sicher gefühlt habe, mein Gefühl von Da-gehöre-ich-Hin.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Tod: Noch stärker verspüre ich den Druck, wenn es um meinen Umgang mit dem Verlust meiner Mutter geht. Und gleichzeitig verstehe ich hier noch viel weniger, was dieses Prinzip eigentlich meint. Bei jedem freudigen Erlebnis und jedem Umbruch in meinem Leben erscheint auch die Trauer als Gast. Ich weine auch nach bald 20 Jahren noch viel um meine Mutter. Frage mich, wie sie meine Lebensentscheidungen fände/findet, wie unsere Beziehung aussehen würde, fühle mich hilflos, allein und von ihr verlassen. Ich finde mich dann selbst oft lächerlich, weil ich denke „nach 20 Jahren ist doch mal gut … Komm drüber hinweg!“ Aber wenn ich es versuche, scheitere ich jedes Mal an der Frage, wie sieht Über-etwas-Hinwegkommen aus? Ist es die Akzeptanz, dass die Person fort ist? Nicht mal das gelingt mir immer. Weniger, ich gebe es zu, aber auch jetzt noch beeinflusst der Tod meiner Mutter mein Leben, meine Entscheidungen, meinen Alltag. Bedeutet Darüber-Hinwegkommen, dass ich aufhöre, die Frage nach dem „Warum“ zu stellen?

Gewalt: Wenn es um Gewalt geht, sehe ich mich besonders mit der Idee konfrontiert, über Dinge hinwegkommen zu müssen. Ich sehe Person X und möchte gehen. Sofort! Ich möchte mich auch nach Jahren nicht mit ihr in einem Raum aufhalten, nicht mit ihr konfrontiert sein. Sie soll mich nicht ansprechen. Wenn ich erfahre, dass Leute mit ihr befreundet sind, halte ich Abstand. Ich will nicht, dass die Person irgendwas über mein Leben weiß, und kommuniziere das auch. Und wieder von außen die Anfrage, ob es nicht langsam an der Zeit wäre für das Darüber-Hinwegkommen, statt anzuerkennen, dass ich klare Grenzen zwischen mir und dieser Person brauche.

Meine Theorie zum Darüber-Hinwegkommen ist folgende:
Zu allererst einmal ist es eine Floskel neoliberaler Verwertungslogiken. Darüber-Hinwegkommen ist auch nichts anderes als der Prozess des Wieder-Teil-des-Systems-sein-Können, des Wieder-Funktionierens und damit der (kapitalistischen) Verwertbarkeit. Nicht über Dinge hinweg zu sein und sich somit in Trauer, Angst, Wut und Verzweiflung zu befinden, ist zudem für andere oft unbequem und nicht besonders gut konsumierbar.

Nur selten sind es weiße ableisierte cis hetero Dudes, denen diese Aufforderung angetragen wird. Ein Beispiel: Ich kenne 5798 Geschichten, in denen Queers von nicht queeren Leuten gesagt bekommen, sie sollten doch mal darüber hinwegkommen, wie scheiße die Eltern, die Tante, die Welt auf ihr Coming-out reagiert haben. Die Aufforderung, über etwas hinwegzukommen, ist eigentlich die Aufforderung, systemkonform zu sein. Diskriminierungserfahrungen werden damit bagatellisiert. (Beziehungs-)Gewalt wird bagatellisiert. Es ist nichts als der Versuch, Widerstand und Aufbegehren zu ersticken.

Verlust (auch in Form von Abweisung) ist ein großer Teil vieler queerer Biografien. Er ist Ausdruck der Gewalt, die wir erleben. Verlust von Menschen in unserem Umfeld aufgrund von Mord und Selbstmord, Verlust von Familie aufgrund von Abweisung und Gewalt. Ständige größere und kleine Verluste und Verletzungen durch gesellschaftliche Sanktionen. Wie soll mensch da über irgendwas „hinwegkommen“? Jeder Verlust ist eine zusätzliche (mögliche) Destabilisierung unserer ohnehin ständig infrage gestellten Existenz. Das bedeutet, dass jeder Verlust einer Person, der wir vertrauen und die uns Sicherheit gegeben hat (und entsteht dieser Verlust nur durch eine Trennung), sehr viel stärker wirkt als bei Menschen, deren Existenz gesellschaftlich nicht ständig infrage gestellt wird, die nicht so enorm auf Netzwerke angewiesen sind. Über Verluste hinwegzukommen, muss mensch sich leisten können! Das Gleiche gilt für das Drüber-Hinwegkommen von Situationen und Erlebnissen, bei denen es um Diskriminierung und/oder Gewalt geht. Die Aufforderung, darüber hinwegzukommen, ist nicht nur unsagbar kackscheißig, sondern kann auch nur von Menschen kommen, die nicht verstehen, dass es sich nicht um einen einzelnen, zusammenhanglosen Vorfall handelt, sondern um ein Symptom von Herrschafts- und Machtverhältnissen – von Rassismus, Heteronormativität, Ableismus etc. … Ein Darüber-Hinwegkommen wäre also an einen Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse geknüpft. Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen: „WIR sind es nicht, die über Dinge hinwegkommen müssen!“

Fazit: Die Idee vom Darüber-Hinwegkommen ist bescheuert und macht in den seltensten Fällen Sinn! Weder als Teil von Verwertungsideologien, noch als Antwort auf Trauma, Gewalt und Diskriminierungserfahrungen. Darüber-Hinwegkommen ist als Konzept fragwürdig und entstammt dem Kackscheiße-komm-mal-klar-Sortiment!