Like a Virgin?
Von
Von Mithu Sanyal
Zahllose Mythen ranken sich hartnäckig um ein Stückchen Haut – und das, obwohl es gar nicht existiert. Eine Broschüre zum Thema „Jungfernhäutchen“ klärt auf.
Eine meiner Lieblingscomedians ist Aditi Mittal und einer meiner Lieblingswitze von ihr ist: „Jeder weiß, dass das Jungfernhäutchen einer Frau verantwortlich für die Ehre ihrer Familie ist. Ich habe meine Ehre an ein Fahrrad verloren.“ Der Haken ist nur, dass dieser Witz anatomisch falsch ist. Denn es gibt kein Jungfernhäutchen. Das war’s.
Nur: Das war es natürlich noch lange nicht. Weil nämlich diese nicht existierende Haut so fest mit unseren Vorstellungen von Weiblichkeit und Sexualität verwachsen ist, dass wir ihr nicht nur in allen möglichen Anatomiebüchern begegnen – im Gegensatz zu den Schwellkörpern der Klitoris, die gerne übersehen werden –, sondern sie jahrhundertelang routinemäßig überprüft wurde. Pardon: wird.
So müssen sich, um nur ein Beispiel zu nennen, Bewerberinnen für die Polizei oder das Militär in Indonesien noch immer einem Jungfräulichkeitstest unterziehen. Dabei werden den Anwärterinnen zwei Finger in die Vagina geschoben. Dass nicht einfach nachgeschaut wird, zeigt, dass etwas vorne und hinten nicht stimmt mit der Vorstellung einer straff über die Vaginalöffnung gespannten dünnen Haut, vergleichbar mit der Frischhaltefolie, die die Waren im Supermarkt versiegelt, um anzuzeigen, dass sie noch unberührt sind.
Um damit ein für alle Mal aufzuräumen, haben die Hollies, der Mädchenbeirat des interkulturellen Frauen und Mädchen Gesundheitszentrums Holla e.V., jetzt eine Broschüre herausgebracht: „Kein Grund für Stress. Es gibt kein Jungfernhäutchen“. Die zentralen Aussagen der Broschüre sind jedoch nicht nur für junge Mädchen, sondern für alle hilfreich, denn die Desinformation zum Thema ist nach wie vor groß. Hier die wichtigsten Punkte: das Jungfernhäutchen ist kein Häutchen. Tatsächlich handelt es sich um eine Ansammlung von ringförmig angeordneten Schleimhautfalten oder einen Schleimhautsaum, der sich ein bis zwei Zentimeter hinter dem Eingang der Vagina beendet und diese keineswegs hermetisch verschließt. Sollte er das in Ausnahmefällen doch tun, lautet der Fachbegriff dafür „Hymena latresie“ und es ist ein ernst zu nehmendes Problem, das medizinisch behoben werden muss, weil das Menstruationsblut sonst nicht abießen kann.
Und was ist mit dem vermeintlich wissenschaftlicheren Begriff „Hymen“? Das ist einfach nur ein griechisches Wort für das gleiche Konzept: Hymen bedeutet Membran oder Haut. Statt dessen verwenden die Hollies den Begriff „vulvinale Korona“, weil die Schleimhautfalten ein wenig wie eine gezackte Krone aussehen. Damit orientieren sie sich an der Wortschöpfung der Sexologin Ella Berlin, die Vulvina als diskriminierungsfreien Be griff für das innere und äußere weiblichen Genital zusammen nutzt, und am schwedische Sprachrat, der bereits 2009 den ideologisch aufgeladenen Begriff „Mödomshinna“ (Jungfernhäutchen) abgeschafft und durch „vaginale Korona“ ersetzt hat. Das entspricht bei uns einem Eintrag in den Duden.
Die vulvinale Korona wird nicht beim „ersten mal“ vom Penis durchstoßen und ver- schwindet danach auch nicht auf geheimnisvolle weise. Unsere ersten Sexualpartner*innen sind wir selber. Embryos onanieren bereits im Mutterleib. Sich selbst Lust zu bereiten, ist nicht nur so natürlich wie das Atmen, es geht dem auch voraus. Doch wenn über Sex in Bezug zu Jungfräulichkeit gesprochen wird, ist damit lediglich heterosexueller und genitaler Sex gemeint. Den kann man einer Vulva ebenso wenig wie einem Penis ansehen. Die vaginalen Hautfalten sind äußerst dehnbar. Sogar eine Geburt überstehen sie problemlos. Aus diesem Grund ist auch die Weisheit, dass Mädchen ihre „Jungfräulichkeit“ beim Sport oder Fahrradfahren verlieren können, schlicht Aberglaube.
Das „erste Mal“ muss weder schmerzen noch bluten. Ich bin damit aufgewachsen, dass Mädchen in Filmen wie dem „Schulmädchenreport“ seufzten „Ich habe solche Angst“ und ihre ebenso naiven Sexualpartner sie mit den Worten beruhigten: „Keine Sorge, ich werde dir nicht zu sehr wehtun.“ Dabei muss Sex weder beim ersten noch beim einmillionsten Mal schmerzen. Die berühmten Blutstropfen auf dem Bettlaken nach der Hochzeitsnacht sind kein Beweis für die Jungfräulichkeit der Braut, sondern für eine Verletzung. Also genau das, wofür Blut – mit Ausnahme von Menstruationsblut – ansonsten auch steht. Zum Glück ist die vaginale Schleim haut unglaublich heilfähig und wächst ohne Narben wieder zusammen.
Niemand – auch kein*e Gynäkolog*in – kann erkennen, ob jemand bereits genitalen Sex hatte, indem er*sie sich die Korona anschaut. Vulvinale Koronen unterscheiden sich mehr von Mensch zu Mensch als vor und nach dem ersten Geschlechtsverkehr. Alle Studien, die dazu gemacht wurden (um beispielsweise in Fällen von sexuellem Missbrauch festzustellen, ob Kinder genital penetriert wurden), kamen zu dem Ergebnis, dass sich das anhand der Korona schlichtweg nicht beweisen lässt. Es ist hierbei noch nicht einmal möglich zu er kennen, ob jemand bereits ein Kind geboren hat – außer kurz nach der Geburt.
Das Jungfernhäutchen kann nicht chirurgisch rekonstruiert werden. Revirginisierungs-OPs sind kein medizinischer Eingriff, sondern fallen unter die sogenannten Schönheitsoperationen. Das bedeutet, dass sie keinerlei Standards oder Qualitätskontrollen unterliegen. Da es nicht möglich ist, etwas wiederherzustellen, das nicht existiert, werden stattdessen die weichen Fältchen der Korona erst angeschnitten und danach zusammengenäht. Chirurg*innen be schreiben die zwanzigminütige Operation, „als würde man Butter nähen“. Dies ist ein unnötiger Eingriff an gesundem Gewebe mit eben fallsunnötigem Operationsrisiko (unter Vollnarkose). Auch kann das gewünschte Ergebnis nicht garantiert werden: Häufig fallen die Stiche heraus, bevor die teuer erkaufte Jungfräulichkeit unter Beweis gestellt werden kann.
Dass diese OPs trotzdem auch in Deutschland boomen, zeigt, wie relevant die Broschüre der Hollies ist. Sie endet mit Tipps für den All tag, was man auf die Frage „Bist du noch Jungfrau?“ antworten kann: „Glaubst du an Horoskope?“