Von Chris Köver

Männer, die als Soldaten kämpfen, „Jungs-Banden“, die die Straßen verunsichern? Was für ein absurdes Szenario! In Naomi Aldermans viertem Roman „The Power“ (Deutsch: „Die Gabe“) sind nicht Männer, sondern Frauen das sogenannte „starke Geschlecht“. Sie dominieren das Militär, die Kirche, die Wirtschaft, die Politik und das Verbrechen. Sie sind die Gefahr, die gebannt werden muss. Und sie sprechen mit Männern, als seien diese ihr Spielzeug.

Es ist etwas vorgefallen. Was, das erzählt Alderman als Rückblick auf eine Vergangenheit, die – YouTube, Google Mail, Smartphones – unsere Gegenwart ist. Es beginnt mit den 14- und 15-jährigen Mädchen, die eines Tages feststellen, dass ihr Körper zur tödlichen Waffe geworden ist. Ein neues Organ ist ihnen gewachsen, ein Muskelstrang, der sich über das Schlüsselbein spannt und Strom erzeugen kann. Mit einer einzigen Berührung können sie jetzt unerträgliche Schmerzen zufügen, Lähmungen und Verbrennungen bis hin zum Tod. Es ist das Gefühl purer Macht, die größtmögliche Erregung, die Alderman ihre Protagonistinnen erleben lässt: „Etwas geschieht. Das Blut hämmert in ihren Ohren. Ein kribbelndes Gefühl breitet sich über ihren Rücken aus, über die Schultern, entlang des Schlüsselbeins. Es sagt: Du bist stark.“

Erst ist es ein Spiel, die Mädchen balgen sich, testen ihre Kräfte. Als jedoch klar wird, dass

auch ältere Frauen über die Gabe verfügen, wenn sie von jüngeren „aufgeweckt“ werden, bricht unter den Mächtigen Panik aus. Jungen werden zu ihrem Schutz in eigene Schulen segregiert. Eltern lassen ihre Söhne nachts nicht mehr auf die Straße.

©Rolex/Bart Michiels

Alderman schrieb „Die Gabe“ bereits vor 2016, also lange bevor unter dem Hashtag #metoo auf der ganzen Welt über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt diskutiert wurde. Es ist allerdings so gut wie unmöglich, den Roman heute ohne diesen Hintergrund zu lesen: Frauen auf der ganzen Welt entdecken scheinbar über Nacht eine neue, bislang ungeahnte Macht. Sie sprechen öffentlich aus, was ihnen widerfahren ist, und versetzen Männern damit teils beachtliche Schläge (wenn auch…