Interview: Juli Katz

Macht der Begriff des „Proletariats“ überhaupt noch Sinn? Luise Meier sagt: Ja. In ihrem Buch „MRX Maschine“, das bei Matthes & Seitz in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ erschien, geht es nicht um Karl Marx‘ historisch-biografische Hintergründe, sondern um den Beweis, dass man auch heute noch mit seinen Thesen arbeiten kann – nicht um ihn unreflektiert zu feiern, sondern um ihn praktisch anzuwenden und manchmal zu erweitern. Wie viel Sabotage brauchen wir? Missy-Autorin Juli Katz traft die Schriftstellerin Luise Meier zum Interview.

Luise Meier: „Wir müssen uns entscheiden, hinter welcher Art von Feminismus wir stehen.“ © Josefa Baum

Luise, wieso glauben wir so sehr an Arbeit?
Luise Meier: Wir sind alle innerhalb einer Leistungsideologie aufgewachsen, die uns permanent eintrichtert, dass wir nur durch Arbeit – die auch messbar sein und sich in Geld widerspiegeln muss – unseren Platz in der Gesellschaft rechtfertigen können. Und dass wir nur als Individuen durch Geld und Arbeit Entscheidungen treffen und uns ermächtigen können. Das ist der einzige Weg, der uns vermittelt wird, um zu einer Befriedigung unserer Bedürfnisse zu kommen. Das ist dieses „Wieso jammerst du denn rum? Du könntest dir ja einen Job suchen und dir alles kaufen, was du brauchst!“.

Dein Buch „MRX Maschine“ wird als Plädoyer zur Sabotage gefeiert. Woher kommt deine Faszination am Sabotieren?
Es gab Momente in meinem Leben, in denen ich entschieden habe, Sachen nicht zu machen, anstatt sie gut zu machen. Das gab mir das unglaublich viel Freiheit und je mehr ich versuche, kritisch mit Normen und Anforderungen umzugehen, desto mehr öffnet sich mein politisches Denken. Außerdem ist das Mittel des Streiks spannend, wenn man ihn nicht nur auf Lohnarbeit, sondern auch auf andere Lebensbereiche überträgt. Scheitern ist immer etwas, das aus Versehen passiert oder das man eigentlich verhindern will – aber Sabotage ist absichtliches Nichtfunktionieren. Wenn das eine in das andere umschlägt, kann das einen gesellschaftsverändernden und kämpferischen Impuls bekommen.

Normalerweise sprechen ausschließlich diejenigen über das Scheitern, die es überwunden haben.
Mir geht es darum, dass sich beim Scheitern alternative Möglichkeiten in der Gemeinschaft herausbilden, die sich außerhalb von Ideen, die wir von Erfolg haben, abspielen: Wie verändern sich Familien und Freundschaften oder allgemein Beziehungen zu anderen, aber auch zu sich selbst, wenn man es schafft, in Stunden des Scheiterns füreinander dazusein? Daneben werden wir dazu erzogen, Angst vor dem Scheitern zu haben – aber bei Menschen, die sich jenseits dieser Erfolgskategorien bewegen, steckt oft eine kritische Perspektive auf Gesellschaft dahinter. Könnten wir mit dem Scheitern besser umgehen können, wenn man dadurch nicht automatisch aus bestimmten menschlichen Beziehungskreisen rausfallen würde?

Was Marx nach außen hin analysiert, wendest du nach innen an. Wo finde ich mein inneres Proletariat und wie kann ich es aktivieren?
Marx grenzt den Begriff des Proletariats ein und meint damit das Industrieproletariat, was meistens als männlich, weiß und europäisch oder nordamerikanisch definiert war. Mich interessiert, wie Spaltungsmechanismen nach rassistischen oder sexistischen Mustern an solchen Abgrenzungen immer ansetzen konnten. Außerdem erleben wir gerade eine Auflösung von klassischen Arbeitsverhältnissen und auf kultureller Ebene einen Selbstoptimierungswahn – ein Unternehmertum, den Kapitalisten, der immer weiter in uns eindringt, uns effizienter machen will und zum Arbeiten antreibt. Aber muss es dann nicht auch etwas in uns geben, das diesem „unternehmerischen Selbst“ gegenüber zum Proletariat wird? Danach habe ich gesucht. Im Moment, in dem ich zu müde oder zu krank zum Arbeiten bin, steht mein innerer Unternehmer mit meiner inneren Proletarierin in Konflikt – da findet Klassenkampf auf einer verinnerlichten Ebene statt. Für mich wäre eine utopische Idee, dass man bei so einer Idee von mutiertem oder entgrenztem Proletariat tendenziell mit allen solidarisch sein kann. Es geht darum, dass Konflikte nicht mehr internalisiert, sondern gesellschaftlich, kollektiv, politisch verhandelt werden.

Der Begriff des Patriarchats fehlt in Marx‘ „Kapital“, für die „MRX Maschine“ aber ist er unabdingbar. Wieso?
Marx hat den Kapitalismus analysiert; das Spannende ist erstens, dass er deswegen fortbesteht, weil er von anderen Machtstrukturen – wie dem Patriarchat und Rassismus – profitieren kann. Wenn seine strukturelle Macht wackelt, zapft er eben andere Ausgrenzungs-, Desolidarisierungs- und Unterdrückungsmechanismen an und wendet sie gegen Andersseiende. Wenn man das nicht mitdenkt, gibt man dem Kapitalismus seine effektivste Waffe in die Hand. „Teile und herrsche!“ Zweitens wird das Patriarchat oft so gedacht, als würden alle Männer über alle Frauen herrschen; der Patriarch leitet sich aber von der Figur eines Vaters ab. Die Kritik am Patriarchat richtet sich damit auch gegen eine Hierarchie unter Männern, die sich aufgrund biologischer Beziehungen ergibt oder auf Geburtsrechte bezieht. Es ist nötig, auch Männern immer wieder bewusst zu machen, dass es sich dabei um einen viel umfassenderen emanzipatorischen und antiautoritären Impuls handelt.

Du verwendest den Begriff einer „daddyfizierten Weiblichkeit“ und plädierst auf Desidentifikation statt Daddyfikation. Was heißt das überhaupt?
Auf der einen Seite steht die Identifikation mit einem bestimmten Frauenbild, das uns von außen auferlegt wird. Das wird von Unternehmen so konzipiert, dass wir es gar nicht erreichen können, weil sie sonst kein Geld machen würden. Auf der anderen Seite zielt daddyfizierte Weiblichkeit darauf ab, dass Erfolg bedeuten würde, innerhalb der bestehenden Machtstrukturen Anerkennung zu bekommen und sich zu unterwerfen, um aufzusteigen. All die Rebellion, die dazwischen stattfinden und sich gegen die Kriterien des Aufstiegs selbst richten könnte, wird nicht realisiert, denn einzig Anerkennung durch patriarchal geprägte Instanzen wird als Erfolg, feministisch oder Emanzipation gesehen.

Ist es nicht super, Familie und Karriere miteinander vereinbaren zu können?
Es ist problematisch, wenn wir denken, alles wäre geregelt, wenn die Spitzenmanagerin genauso viel verdient wie der Spitzenmanager, aber zu Hause eine andere Frau für einen Bruchteil des Lohns auf die Kinder aufpasst und die Wohnung putzt. Dann ist die Frage von gleichem Lohn für gleiche Arbeit nur selektiv beantwortet. Denn natürlich sollte es gar keine Managerposition mehr geben. Wenn nur eine bestimmte Gruppe aufsteigen kann, werden andere ausgeschlossen. Was früher über die Geschlechter geregelt wurde, wird immer mehr zur Klassenfrage, man kann das eine nicht vom anderen isolieren. Wir müssen uns entscheiden, hinter welcher Art von Feminismus wir stehen.

Du referierst auf bell hooks, die das gesellschaftliche System als „imperalist white supremacist capitalist patriarchy“ beschreibt – wie muss ein Feminismus aussehen, der diesen Status quo sprengen kann?
Feminismus muss kritisch bleiben und sich nicht damit zufriedengeben, in männlich besetzte Positionen zu schlüpfen, sondern gleichzeitig an der Auflösung dieses Frauenbildes arbeiten, das behauptet, die Armee wäre familienfreundlicher, wenn eine Frau im Verteidigungsministerium sitzt. Meine Idee von Feminismus ist, dass eine Frau in jeder Position, die sie erobert, weiter kritisiert, was diese Position beinhaltet, wie man sie unterlaufen kann und so weiter. Dafür steht der Sabotagegedanke, den ich bei Valerie Solanas wiederfinde; er ist aggressiv und behauptet eine kämpferische Position, die nicht sagt, nach der Gleichstellung sei Schluss.

Inwiefern kann die „MRX Maschine“ nur nichtfunktionieren, wenn sie mit Valerie Solanas‘ SCUM-Manifest in Wechselwirkung steht? Du zitierst: „SCUM wird auf jedem Job so lange nicht arbeiten, bis man sie hinauswirft, und dann einen neuen Job suchen, um auch dort nicht zu arbeiten.“
Marx unterscheidet zwischen Proletariat und Lumpenproletariat, was so was wie Abschaum meint. Für mich besteht eine wichtige Aufgabe darin, diese Unterscheidung aufzuheben. Solanas benutzt den Begriff SCUM mit dem Gedanken, dass Frauen, die revolutionär sind, Abschaum seien – und besetzt ihn positiv. Das setzt für mich in dem Punkt an, dass man mit sabotiert, wo man arbeitet: Man entzieht dem Kapitalismus das Produktionsmittel, nämlich den Menschen, den er braucht, um sich zu vermehren und zu existieren. Aber Arbeit ist nicht nur Lohnarbeit, sondern auch Arbeit an Selbstoptimierung, dem eigenen Lebenslauf, der Familie oder daran, einem Frauen- oder Männerbild zu entsprechen sowie einer bestimmten Sexualität, die als erstrebenswert gilt. Damit werden die Felder, auf denen man abfucken kann, viel größer. Man sollte im Hinterkopf behalten, dass man Sachen auch einfach mal lassen kann. Und dass man, statt sich wie die eigene Vorarbeiterin über die eigene Faulheit zu ärgern, auch mal an die politische Dimension denken kann. Das ist für mich das, worauf Marx und linke Politik hinauswill: Es geht um Freiheit und Bedürfnisbefriedigung und damit um eine bestimmte Art von Egoismus. Mit diesem Maßstab sollten wir noch mal prüfen, ob wir mit unserer Form der Lebensführung, Arbeit oder Bild von Karriere und Geschlecht auf unsere Kosten kommen in diesem System.

Luise Meier „MRX Maschine“
Matthes & Seitz, S. 127, 14 Euro

„MRX Maschine“ funktioniert nach der Formel: FUCK-UP + Solidarität = Revolution. Wie sieht dieser Abfuck aus und wer ist zur Revolution aufgerufen?
Der Abfuck teilt sich in zwei Ebenen auf: Das eine ist das absichtliche Streiken, das andere ist das Scheitern aus Versehen. Ich finde, man kann Kapitalismus beschreiben als eine Ansammlung von Menschen, die angesichts völlig irrationaler Ansprüche und Aufgaben permanent damit beschäftigt sind, sich selbst nicht abzufucken und andere davon abzuhalten abzufucken. Ich denke, das hört nur auf, wenn wir nicht nur uns selbst, sondern vor allem auch den Menschen um uns herum erlauben abzufucken. Dann gibt es Momente, in denen man solidarisch miteinander wird, und in denen schon revolutionäre Praxis passiert, nicht weil danach ein politisch neuer Zustand hergestellt ist, sondern weil im Prozess selbst eine andere solidarische Form der Bedürfnisbefriedigung praktiziert wird. Dafür ist Solidarität im Abfucken total wichtig – vor allem wenn Leute nicht passen, scheitern, anders sind oder Ideen haben, die erst mal unrealistisch klingen. In diesen Momenten versteht man, wieso man das Bestehende kritisieren muss, das uns dafür keinen Platz lässt.

Wie funktioniert das Prinzip von UNWORK, das du beschreibst, bei dir?
Das funktioniert natürlich innerhalb des Kapitalismus nicht widerspruchsfrei. Das geht erst hinterher. Ich war ein Jahr lang in Hartz IV, hab mein Studium abgebrochen, im Copyshop gearbeitet und mal lange nichts gemacht. Man kriegt einen anderen Blick auf die Verhältnisse – ganz anders, als wenn es gerade gut läuft –, wenn man sich dem Weg, den man irgendwann mal gewählt hat, nicht verpflichtet fühlt. Abfucken – nicht um danach Karriere zu machen, sondern um die Welt der Karriere kritisieren zu können. Aus verschiedenen Positionen sieht man eben auch verschiedene Sachen, die man anderen nicht pädagogisch erklären oder aufzwingen kann. Auch für Leute, die nicht komplett mit irgendwas aufhören wollen, ist es gut, zu wissen, dass die Momente des Scheiterns auch immer welche des kritischen Blicks sind – und damit wichtige und vor allem politische Momente.