Von Doreen Kruppa

Anna Kugler* ist Ende dreißig und heterosexuell. Statt des Wunsches, eng mit einer oder mehreren Liebesbeziehungen zusammenzuleben, hat sie ein „starkes Grundbedürfnis nach intensiven Freundschaften“ – und einem „Zuhause mit vielen Leuten“. Sie hat viele gute und langjährige Freund*innen. Bei mehreren davon würde sie sich „im Notfall gleichermaßen aufgehoben fühlen“. Einige ihrer Freund*innenschaften haben sich aus vergangenen Affären oder Liebesbeziehungen entwickelt. Sie hat eine ihr wichtige, enge Beziehung zu einem Kind aus dem Hausprojekt, in dem sie lebt. Anna integriert ihre Freund*innen auch in ihre Herkunftsfamilie – etwas, das sonst eher für Liebesbeziehungen typisch ist. Ihre Lebensweise im Freund*innenkreis sieht sie als dauerhaft an. Annas Lebensentwurf ist freundschaftszentriert.

Anna Kugler ist eine jener Personen, die ich für meine Studie interviewt habe. Darin untersuche ich, warum sich Menschen für freundschaftszentrierte Lebensweisen entscheiden, wie sie diese leben und mit welchen Hürden sie dabei konfrontiert sind. Denn sich umeinander kümmern, zusammenleben, den Alltag miteinander teilen, gemeinsam Kinder aufziehen und die Zukunft planen – dafür gelten gemeinhin die monogame, romantische Liebesbeziehung und die Kleinfamilie als die geeigneten Beziehungsformen. Sie werden uns in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen als ideale und scheinbar natürliche Lebensweisen vermittelt. Dabei findet Sorge füreinander für viele Menschen auch, und für einige sogar vorrangig in Freund*innenschaften statt – so wie bei Anna. Aber Vorurteile, Gesetze, die Wohnpolitik oder die Arbeitsverhältnisse im neoliberalen Kapitalismus erschweren eine solche Lebensweise.

Freundschaftszentriert bedeutet in diesem Kontext, dass Menschen Freund*innenschaften in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen, während sie Liebesbeziehungen oder Affären als gleich- oder nachrangig behandeln. Lebensweisen, bei denen Freund*innenschaften und Freund*innenkreise einen zentralen Stellenwert im Leben einnehmen, sind aus queeren Communitys bekannt, z. B. bei Lesben und Schwulen als „families of choice“. Sie werden jedoch häufig als Ersatz für ablehnende Herkunftsfamilien wahrgenommen und nicht als bewusst gewählte Alternative zum heteronormativen Lebensmodell. Dazu tragen auch am Familienbegriff ausgerichtete Bezeichnungen für alternative Lebensweisen bei, wie etwa

„Wahlfamilie“, wodurch unsichtbar wird, dass diese oft explizit gegen die heteronormative Ordnung der Kleinfamilie gerichtet sind.

Die Interviewten meiner Studie unterscheiden sich hinsichtlich Alter, geschlechtlicher und sexueller Verortung, Herkunft, Bildung und Elternschaft. Sie wohnen überwiegend in Wohngemeinschaften, großen Wohnprojekten oder alleine. Alle pflegen mehrere Freund*innenschaften, die unterschiedlich gestaltet sind. Zu ihren Beziehungsgefügen zählen bei allen enge Freund*innenschaften mit Expartner*innen, mehrere zählen auch enge Beziehungen zu Kindern von Freund*innen oder Mitbewohner*innen dazu. Bei den meisten sind Kollektive, Gemeinschaften und Communitys, in denen sie wohnen, lohnarbeiten, sich politisch engagieren oder künstlerisch tätig sind, wichtige Säulen in ihrem Leben.

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