Von Sibel Schick

In Chemnitz kam letzte Woche der Rassismus zum Ausbruch: Neonazis sind auf die Straße gegangen, riefen rassistische Parolen, zeigten den Hitlergruß, jagten rassifizierte Menschen durch die Straßen und bedrohten diese mit dem Tod. Das heißt, sie sind willkürlich und grundlos auf Menschen losgegangen, die sie aufgrund ihres Aussehens für nicht-deutsch gehalten haben, als seien diese Krähen, die von der Saat weggescheucht werden müssen.

Während es rassistische Pogrome mit Hitlergrüßen gibt, fragen sich TV-Talkshows: Gibt es in Deutschland überhaupt Rassismus? © Tine Fetz

Der Auslöser des Neonaziaufmarsches ist der gewaltsame Mord an Daniel H. am vergangenen Sonntag. Ein Blick auf sein Facebook-Profil jedoch erweckt den Eindruck, dass sein Tod den Neonazis möglicherweise Freude bereitet hätte, wäre der Täter kein Migrant. Daniel H. war nämlich nicht weiß, und er war ein Linker, der sich öffentlich gegen Pegida, AfD und Co geäußert hat. Offenbar kein Grund für die Neonazis, seinen Tod nicht als Anlass zu nehmen, um für rassistische Meinungsmache zu mobilisieren und Menschen körperlich anzugreifen, und das alles konnten sie fast ungestört durchziehen.

Es wird gesagt, die sächsische Polizei sei überfordert gewesen. Der Begriff „Überforderung“ gibt zu verstehen, dass die Polizei nicht über die Mittel verfüge, die Situation unter Kontrolle zu bringen und die von den Neonazis angegriffenen Menschen zu schützen. Da aber die sächsische Polizei schon bei kleineren Demonstrationen, sobald diese von antifaschistischen Strukturen organisiert werden, teilweise mit mehreren Wasserwerfern, Hubschraubern und SEK Präsenz zeigen kann (z.B. wie in Wurzen), ist die Schlussfolgerung unvermeidbar, dass sie nicht unbedingt überfordert sein muss. Die Kapazitäten sind also offenbar vorhanden, sobald linke Gruppen demonstrieren, und bei Neonazis ist die Polizei plötzlich überfordert.

Als Außenstehende müssen sich Menschen in aller Welt fragen, wie man den Hitlergruß in einem Land zeigen kann, das für den Holocaust verantwortlich ist. Diejenigen, die auf den Straßen Menschen mit dem Tod drohen, sind teilweise die Enkelkinder der Nazis, die während des Nationalsozialismus Millionen von Jüdinnen_Juden systematisch ermordet oder deren Mord ermöglicht haben. Ein anderer Teil von diesen sitzt heute im Bundestag.

Deutschland hat offenbar nichts aus der Geschichte gelernt, würden viele denken. Ich denke aber, dass deutsche Faschist*innen ganz viel aus der Geschichte gelernt haben. Sie wissen, wie es geht. Sie wissen, wie der Nährboden für systematischen Mord bereitet werden kann, und zwar indem eine Gruppe von Menschen entmenschlicht wird. Und sie sind gut darin. Noch am Dienstag schrieb Karolin Schwarz in einem Bericht für „VICE Media“, wie rasch sich eine Falschmeldung über einen zweiten Mord in Chemnitz verbreitet hat und dass diese Meldung nicht gelöscht wurde, auch nachdem klar war, dass es sich um eine Falschmeldung handelte.

Die Falschmeldungen sind eben Falschmeldungen, der Umgang der öffentlich-rechtlichen sagt etwas mehr darüber, wie sich die Mitte der Gesellschaft den Rassismus in Deutschland vorstellt. Am vergangenen Montag wurde beispielsweise die Sendung „Hart aber fair“ mit der Frage „Gibt es wirklich die tägliche Ausgrenzung?“ eröffnet. Zwei der vier Gäste, Karlheinz Endruschart und Tuba Sarica, haben während der gesamten Sendung versucht, den strukturellen und institutionellen Rassismus in Deutschland zu legitimieren und zu verharmlosen, indem sie immer wieder die Aufmerksamkeit auf den Rassismus innerhalb von Randgruppen lenkten. Ein klassischer Trick, um Rassismusdiskussionen zu blocken und das Problem unsichtbar zu halten.

Vor laufender Kameras wird der Hitlergruß gezeigt, und man diskutiert darüber, ob es „diesen Rassismus denn wirklich gibt“. Die Reaktion auf den Versuch, das Rassismusproblem Deutschlands sichtbar zu machen, ist, Augen rollen, seufzen und ein „nicht schon wieder“ von sich zu geben. Der Ernst der Lage kann nicht offengelegt werden, weil man mit Deutschen nicht darüber reden kann, ohne dass sie „ja, aber die Linken randalieren“ und „die Türkeistämmigen wählen die AKP, und daher kann es in Deutschland keinen Rassismus geben“ von sich geben. Ironisch ist, dass auch diese Reaktionen rassistisch sind, weil sie Rassist*innen in Schutz nehmen.

Und all die, die schweigen, und die, die sich in die Mitte von Neonazis und von vom Rassismus betroffenen Menschen stellen und nach „Kompromissen“ oder einem „Dialog“ suchen, weil sie sich das noch leisten können, weil sie noch unantastbar sind, sollten eigentlich wissen, dass es nur eine legitime Meinung zu Rassismus gibt, und zwar ganz klar dagegen zu sein. Solange sie die Neonazis und andere Vertreter*innen von menschenfeindlichen Gedanken als legitime Gesprächspartner*innen betrachten, mit diesen diskutieren, ihnen zuhören, vermitteln sie beiden Seiten, dass es Raum für Rassismus in dieser Gesellschaft gebe, dass er tolerierbar sei, weil sie ihm eben Raum geben und ihn eben tolerieren.

Deutschland hat sich nicht darum gekümmert, die Kinder und die Enkelkinder von Nazis zu integrieren und zu rehabilitieren, und jetzt haben wir schon wieder Nazis am Hals, die wachsen wie Pilze vor unserer Nase. Es ist verdammt viel zu tun. Zu Hause, auf der Straße, bei der Arbeit und nachts, wenn man den Kopf auf das Kissen legt, ist ganz viel zu tun. Noch ist aber Zeit. Überlegt euch also noch einmal und zwar ganz genau, wo ihr euch positionieren möchtet. Bevor es zu spät ist.