Von Stella Hindemith

Als ich Jugendliche war, lernte ich, dass Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar war, denn damals tobte gerade die Debatte um die rechtliche Gleichstellung ehelicher und außerehelicher Vergewaltigungen. Zu dieser Zeit hatten mich – wie viele Mädchen – schon genug ältere Männer mit ihren vermeintlichen Komplimenten bedroht um zu verstehen, welcher Platz mir in der Gesellschaft zugewiesen wurde.

Die Andeutung der Gefahr eines möglichen sexuellen Übergriffs fand in so unterschiedlichen Situationen Gestalt, dass mir gar nicht in den Sinn gekommen wäre, dass das Thema mit Politik zu tun haben könnte –  es schien ja ein natürliches Problem zu sein. „Man“ ging eben nicht nach Einbrechen der Dunkelheit durch Parks, trampte nicht alleine, trank nicht zu viel Alkohol, zog nicht dies oder das an, hielt sich von bestimmten Gruppen, Orten, Veranstaltungen fern und vor allem dachte „man“ sehr viel darüber nach, wo genau diese Orte, Gruppen, Veranstaltungen eigentlich waren, wie sie zu ermessen, einzuschätzen und zu erkennen waren.

Die Möglichkeit einer Vergewaltigung war der stille, rote Faden entlang dessen wir unser Leben zu organisieren hatten; wer das nicht wusste, war ein Kind. Der Plan hieß ausweichen, wo auch immer es ging. Dass es keine Räume geben sollte, in denen Vergewaltigung nicht verboten war, schien mir eine Frage der Rationalität gesellschaftlicher Ordnung zu sein, nicht eine Frage politischer Meinungen. Meine Bekannte N. erzählte mir morgens im Bus zur Schule von ihrer Mutter, die jahrelang von ihrem Ex misshandelt und vergewaltigt worden war. Sie hätten freundliche Nachbarn gehabt, die regelmäßig die Polizei wegen Ruhestörung gerufen hätten. Dass, erklärte mir N., sei der einzige Weg gewesen. Krass, sagte ich. Ja, krass, sagte sie.

In diesen Tagen fragte ich meine Mutter, was sie von Feminismus halte. Feminismus hatte in den 1990er-Jahren den Ruf einer zweifelhaften Ideologie latzhosentragender Frauen; auch wenn ich nicht wusste, was Feministinnen wollten, hatte ich verstanden, dass ich besser keine werden sollte. (Schlimmer wäre nur gewesen, Latzhosen zu tragen.) Trotzdem schien mir, als würde nicht so richtig viel am Feminismus vorbeiführen.

Tamika Mallory und Linda Sarsour haben Debatten um Antisemitismus beim Women’s March in den USA ausgelöst © Tine Fetz

Was ich davon halte? Nichts, sagte meine Mutter und schwieg. Als ich weiter fragte, sagte sie, sie hätte in den 1980er-Jahren an der Uni Frauen kennengelernt, die sich Feministinnen genannt hätten und die hätten sie nicht überzeugt. Weißt du Kind, sagte sie (und, ja, das sagte sie wirklich genau so), weißt du Kind, sagte sie also, ich hatte den Eindruck, das sind deutsche Frauen, die wollen, dass es ihnen so gut geht wie den deutschen Männern. Und ich glaube nicht, dass das die Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft beseitigen würde. Sie würde es schon ungeheuerlich finden, dass ihre Kolleginnen schlechter bezahlt werden würden als ihre Kollegen, bloß helfe es ja den Putzfrauen nicht weiter, wenn Journalistinnen so viel verdienen würden wie Journalisten. Außerdem, fügte sie hinzu, hatte sie immer den Eindruck gehabt, dass bei den Feministinnen so viele Antisemitinnen dabei gewesen seien, sie hätte einfach den Eindruck gehabt, dass sie da nicht erwünscht sei. Und was ist mit Gewalt?, fragte ich. Die geht uns doch alle an. Die geht jedenfalls jede an, sagte meine Mutter. Aber deshalb gehöre ich noch lange nicht zu irgendeinem uns.

Auch ich lernte Feminismus später an der Uni kennen, zunächst allerdings durch Texte, nicht durch Menschen. Der Feminismus, der mir begegnete, hatte scheinbar nichts mit dem zu tun, den meine Mutter beschrieben hatte. Die Lektüre über Queerfeminismus, Intersektionalität und die verschiedenen Phasen und Strömungen im Feminismus versprach verheißungsvolle, für mich neue Perspektiven auf politische und gedankliche Bündnisse. Die aktivistische Praxis hingegen schien in Bezug auf Antisemitismus nicht zu halten, was die Theorie versprach: Das „Mitdenken“ von Antisemitismus schien stets darauf beschränkt zu sein, nicht zu vergessen, ihn als eine vieler möglicher Diskriminierungsformen in Flyertexten, Reden oder Bündnis-Sloganunterzeilen aufzuzählen. „Gegen jede Form von Rassismus, Homophobie und Antisemitismus!“, hieß es auch dort, wo BDS oder F.O.R. Palestine mitmischten.

So hat es dieses Jahr trotz der Debatten um Antisemitismus beim Women’s March in den USA, die dazu geführt haben, dass die diesjährige Demonstration dort nur halb so viele Organisationen unterstützt haben wie 2018 und trotz der Zunahme von Antisemitismus in Berlin, beim Berliner Women’s March keine öffentliche Positionierung zum Thema gegeben. Laut dem „Tablet Magazine“ ist Antisemitismus von Anfang an ein Problem unter den Organisatorinnen des Women’s March in den USA gewesen. Breit diskutiert wurde vor allem über zwei Personen aus dessen Vorstand: Problematisiert wurde Linda Sasours Unterstützung von BDS, insbesondere aber die ausbleibende Distanzierung von Tamika Mallory von Louis Farrakhan. Mallory hatte auf Facebook ein Foto von sich und Farrakhan gepostet und ihn als „greatest of all times“ bezeichnet. Louis Farrakhan, Kopf der amerikanischen „Nation of Islam“, ist u. a. Autor des verschwörungstheoretischen und kreativhistorischen Werks „The Secret Relationship between Blacks and Jews“, in dem er behauptet, Jüdinnen und Juden seien hauptverantwortlich für den atlantischen Sklavenhandel gewesen. (Warum Mallory als Repräsentantin des Women’s March ihn öffentlich lobt, ist – nebenbei bemerkt – auch wegen diverser sexistischer, homo- und transfeindlicher Bemerkungen von Farrakhan fragwürdig.)

Kurz vor der diesjährigen Demonstration wurde schließlich die Women’s March Agenda veröffentlicht. Das Papier stellt einen positiven Bezug zu BDS her, außerdem werden die vermeintlich größten Bedrohungen für die Meinungsfreiheit aufgezählt – wie das „silencing“ sozialer Bewegungen, die sich für die Rechte der Palästinenser*innen einsetzen. Die Agenda reproduziert somit einen der hartnäckigsten antisemitischen Topoi, nämlich das Gerücht, es gäbe wirkmächtige Kräfte in der Gesellschaft, die dafür sorgen, dass Israel nicht kritisiert werden kann bzw. die gegen Menschenrechte für Palästinenser*innen seien. So wie der Women’s March eine globale Bewegung ist, ist Antisemitismus ein globales Phänomen. Die antisemitischen Denkfiguren, um die es in den USA geht, sind hier nicht weniger relevant als dort. BDS ist 2018 übrigens bereits beim Berliner Women’s March mitgelaufen – es hätte also schon längst Anlass für Auseinandersetzungen gegeben.

Das Ausbleiben eines Statements zu all diesen Fragen deutet mindestens auf die Indifferenz gegenüber der Reproduktion und Verbreitung von Antisemitismus hin. So gehört es beim Women’s March – wie in so vielen Bündnissen – zwar dazu, in irgendwelchen Texten zu schreiben, man sei gegen Antisemitismus. Wie in so vielen anderen Bündnissen auch ersetzt dieses Bekenntnis dann aber inhaltliche Auseinandersetzungen und öffentliche Positionierungen dazu, was dies bedeutet.  

In den beiden auf die Demonstration folgenden Wochen fanden an verschiedenen Orten und Institutionen bundesweit Gedenkveranstaltungen zum 27.01. statt, dem Tag der Befreiung von Auschwitz. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist in Zeiten zunehmenden Antisemitismus und Rechtspopulismus besonders schmerzhaft, spätestens seit den ersten Wahlerfolgen der AfD 2014 vielerorts gleichzeitig nicht mehr selbstverständlich. Charlotte Knobloch, die vor dem Bayerischen Landtag sprach und mit deutlichen Worten die AfD kritisierte, wird seit ihrer Rede vermehrt bedroht. Nur wer bedenkt, dass sie Überlebende und Jüdin ist, kann ermessen, was dies möglicherweise für sie bedeutet. Und wer möchte, kann auch erahnen, wie sich für Jüdinnen und Juden zurzeit mal wieder der Kreis schließt, antisemitische Angriffe kommen von rechts und links und überall. In dieser Situation muss sich jede Einzelne die komplizierte Frage stellen, ob sie sich dennoch an Protesten wie dem Women’s March beteiligt, um demokratische Grundrechte zu verteidigen, dafür aber zu der antisemitischen Agenda des Protests zu schweigen. Ich bin jedenfalls mal wieder zu Hause geblieben.

Stella Hindemith studierte Kultur- und Literaturwissenschaften in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene NGOs zu Antisemitismus, Gender und Rechtsextremismus, außerdem als Dramaturgin in Projekten kultureller Bildung.