Es gibt nur eine Simz
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Vier junge Mädchen – Camouflage-Weste am Körper, Schutzhelm auf dem Kopf – stehen vor einem weißen Himmel und schreien. Zwei haben den Mund so weit aufgerissen, dass ihre Augen geschlossen sind. Aber sie schreien nicht aus Angst, sondern stoßen einen Schlachtruf aus. Simbi Ajikawo alias Little Simz hat die Mädchen für das Cover ihrer Single „Offence“ fotografiert.
Der erste Vorbote zu Ajikawos neuem Album „GREY Area“ kommt einem Kriegsgeschrei gleich. „I said it with my chest and I don’t care who I offend“, ruft sie in der Hookline des Tracks. Etwas so zu sagen, wie sie es meint, das hat Ajikawo schon früh gelernt. Mit neun Jahren fing sie an zu rappen, mit zehn stand sie das erste Mal auf einer Bühne in Nord-London. Ihr erstes Mixtape „Stratosphere“ droppte sie als Little Simz 2010 – mit 15 Jahren. „Ich war sehr ehrgeizig. Es klingt verrückt, aber ich habe immer gewusst, dass ich an den Punkt kommen würde, an dem ich Alben rausbringe, die die Leute auf der ganzen Welt
hören“, meint sie. „Dass ich mal auf Festivalbühnen stehen würde – das alles habe ich vor mir gesehen, seit ich klein war. Nur wann und wie genau, das wusste ich nicht.“ Stets höher, schneller, weiter – nie zurückschauen, das ist ihr wichtig und das betont sie auch in unserem Gespräch. Doch Simbi Ajikawo lässt in ihren Tracks immer wieder durchblicken, dass ihr Unsicherheit und Angst keineswegs fremd sind. So schreit sie: „Stop fucking with my heart!“, in „Boss“ und fürchtet sich im Song „Therapy“ vor Antworten auf Fragen, die sie sich nie zu stellen gewagt hat. Wie Therapie seien auch die Aufnahmen zu „GREY Area“ gewesen, sagt Ajikawo. Denn aller Zielstrebigkeit zum Trotz: Wie schnell es nach ihren ersten beiden Platten nach oben ging, das hat sie doch ein bisschen aus dem Tritt gebracht.
2017 war sie als Little Simz vier Monate auf Tour, zwei davon als Support für die britische Comicband Gorillaz. Das hieß, mitunter sechs verschiedene Länder innerhalb einer Woche abzuhaken. Manchmal ging dabei das Gefühl für Zeit und Raum verloren – zwischen all dem Trubel schlich sich die Einsamkeit ein. Ajikawo ging direkt ins Studio. „Die ganze Energie, die ich auf der Tour gesammelt habe – die gute und die schlechte –, habe ich mitgenommen“, erinnert sie sich. „Im Studio konnte ich mich davon befreien. Kreativ sein, das hat für mich immer etwas Therapeutisches, aber so stark wie bei den Aufnahmen zu ‚GREY Area‘ habe ich das noch nie gespürt.“

Der Titel ihres dritten Albums steht auch für das Navigieren durch die Grauzonen, die das Erwachsenwerden mit sich bringt. Das ist im Fall von Little Simz natürlich eine besondere Angelegenheit: Während viele mit Anfang zwanzig über ihren ersten Karriereschritt nachdenken, hatte sie sich mit 23 schon eine internationale Karriere aufgebaut, und das unabhängig von Major Labels. Als die Rapperin also gleichzeitig über ihre persönliche und ihre künstlerische Entwicklung grübelte, schauten ihr viele Leute zu und stellten Fragen. Einfach mal nicht zu antworten, das war neu für Simz: „Es passiert leider schnell, dass andere Leute dich ausnutzen, wenn sie merken, dass du ein großzügiger Mensch bist. Ich musste lernen, manchmal egoistisch zu sein und zu sagen: ‚Sorry, das hat nichts mit dir zu tun. Ich muss mich zuerst um mich kümmern, bevor ich für andere da sein kann.‘“ Egoismus könne auch empowernd sein, denn „es gibt schließlich nur eine Simz“, so die Rapperin.
Und diese Simz kann nicht genug betonen, wie dankbar sie ihrer Familie und ihren Freund*innen für den unaufhörlichen Support ist. Ajikawos Mutter hat sie allein großgezogen. Die Geschwister, viele davon Pflegekinder, haben ihr zu ihren ersten Auftritten verholfen und ihr ständig Musik vorgespielt: Afrobeats, HipHop, Grime. Dieser Zeit setzt Ajikawo mit dem Song „101FM“ ein Denkmal. Mit gut gelegten Babyhaaren, New-Era-Kappe und ohne Ticket in die U- Bahn springen, um im Studio den Flow des Rappers Dizzee Rascal nachzuahmen – darum geht’s.
Dieser Song sticht auf „GREY Area“ heraus: Es ist der einzige Track, der komplett auf einem Sample basiert. Sonst setzt Ajikawo zum ersten Mal auf Live-Instrumentation, zum Großteil improvisiert mit ihrem Produzenten Inflo. Für diesen Job die richtige Person zu finden, sei gar nicht so leicht gewesen. Schließlich ist diese für die Übersetzung der eigenen Ideen zuständig. Ajikawo hatte zu Beginn der Aufnahmen noch nichts in der Hand, aber sie wusste genau, wie der Vibe auf „GREY Area“ sein sollte. Und so fiel ihre Wahl auf Inflo: „Er ist wie ein großer Bruder für mich. Wir haben das erste Mal zusammengearbeitet, da war ich neun oder zehn Jahre alt. Als wir im Studio zusammentrafen, war es, als hätte sich nichts verändert. Wir haben einfach eine besondere Chemie und sprechen dieselbe musikalische Sprache.“
Ajikawo weiß genau, was sie will. Darüber spricht sie gern. Die konkreten Erfahrungen, durch die sie sich bei den Aufnahmen gewühlt hat, sind weniger Thema. Die Sprache von Little Simz ist eine emotionale. Das sei auch naheliegend bei ihrem Sternzeichen, Fische, sagt sie. Schnell und tough ist ihr Flow trotzdem und damit eine krasse Ergänzung der lässigen Instrumentals. Bass, Schlagzeug, Gitarre und auch ein Streichquartett fanden ihren Weg auf „GREY Area“. So entstand ein organischer Sound zwischen R’n’B und Old School Funk. Über den hinweg teilt Ajikawo gegen diejenigen aus, die sie unterschätzen. Sie schwingt sich ungern zu politischen Kommentaren auf, aber ihre Texte verfehlen ihre Wirkung nicht. Die schreibe sie für alle Altersgruppen, alle Gender. In „Venom“ heißt es: „Pussy’s sour. never getting credit where it’s due cause you don’t like pussy in power.“ So viel Angriffslust gab’s auf noch keinem Little-Simz-Album. „Als ich ins Studio kam, haben wir bei Null angefangen. Alles, was ich im Kopf hatte, waren lose Ideen. In dem Moment, in dem ich vorm Mikrofon stand, sprudelte es aus mir heraus. Ich kann mich erinnern, dass Inflo anfing, die Drums für ‚Offence‘ zu spielen. Dann kam der Bass und das Erste, was ich sagte, war: ‚Me again.‘ Von da an fanden wir unseren Flow.“
An ihre vorherigen Platten ging Ajikawo mit verschiedenen Konzepten heran: „Stillness in Wonderland“ basiert lose auf dem Kinderbuch „Alice im Wunderland“. Ihr Debüt „A Curious Tale Of Trials + Persons“ ist voll mit Charakteren, die für Etappen ihrer künstlerischen Entwicklung stehen. Auf „GREY Area“ braucht Ajikawo keine Rollen mehr – das Album habe sich quasi vor ihr offenbart, sagt sie. Dafür musste sie lernen, den Dingen ihren Lauf zu lassen.
„Flo war am Anfang etwas irritiert. Er fragte mich: ‚Wofür hast du mich denn hierherbestellt?‘ – ich war es einfach gewohnt, alles selbst zu machen. Mit ihm habe ich gelernt, anderen Menschen Raum dafür zu geben, ihren Zauber auf mein Album zu packen.“ Außerhalb des Studios strebt Ajikawo weiterhin nach größtmöglicher Kontrolle. Sie veröffentlicht auf ihrem eigenen Label Age 101. Neben dem Rappen greift sie manchmal zur Gitarre, saß im Studio am Schlagzeug, sie fotografiert. Um sich kreativ auszudrücken, ist Little Simz jedes Mittel recht. Sie könne sich auch vorstellen, mal ein Album ganz allein zu produzieren. „Aber nicht nur, um zu zeigen, dass ich es kann. Wenn, dann soll es gut werden. Wenn du mich nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner meines Outputs fragst, dann ist das, glaube ich, Wachstum. Ja, Wachstum ist mein Medium.“
Little Simz „GREY Area“ Age 101 / AWAL
Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/19.