Von Sophie Baumberg
Interview: Marie Hecht

Karinas Lippen zittern. Sie hält auch nichts ab, denke ich. Es ist gerade Ende Oktober und sie zittert schon. Sie schlingt ihre Arme enger um den in einer Lederjacke steckenden Oberkörper. Ich stelle mir ihre Rippen unter der Jacke vor. Manchmal, wenn wir uns umarmen, versuche ich, sie mit den Fingern zu streifen. Aber dann drückt sie meine Hand weg.
Es wird langsam dunkel, sagt sie. Mehr sagt sie nicht. Ich weiß, dass sie gehen will. Die Anderen wissen es auch. Aber keiner von uns antwortet ihr. Wir wollen noch eine rauchen. Nachdem wir die hier geraucht haben. Wir sitzen seit halb vier an der Haltestelle. Bis jetzt ist nichts passiert. Das hier ist unsere Zone. Die Kleinen gehen nur geduckt an uns vorbei. Die Älteren machen manchmal Terz. Sie gehen langsam auf uns zu, schütteln den Kopf, schieben das Kinn missbilligend vor. Aber am Ende gehen sie dann auch weiter, auf ihren Rollator und ihre Meinung gestützt wie zuvor. Es ist uns egal. Wir können sie ja nicht aus der Stadt schieben, und sie uns auch nicht. Gegenüber sind die Wohnblocks. Eigentlich ganz normale Hochhäuser. Bissig grau, ein paar Schmierereien unter den Balkons des ersten Stocks. Die Alten sitzen da oben und rauchen, oder schauen einfach auf die Haltestelle, an der wir sitzen und rauchen. Schieben das Kinn vor, schütteln nur den Kopf. Rufen auch manchmal herunter, dass wir es zu nichts bringen werden. Wir lachen dann und stecken uns noch eine an. Aus einem der Balkone blühen im August immer meterhohe Sonnenblumen. Karinas Mutter pflanzt sie an. Sie sagt, da haben unsere Nachbarn wenigstens was zum Glotzen und was zum Lächeln. Aber wir wissen, sie werden eh glotzen, auch, wenn der Balkon im Winter ganz leer sein wird. Und sie werden eh nicht lächeln, auch wenn da oben die Queen höchstpersönlich herunterwinken würde.

©Foto: privat

Die Straßenbahn kommt alle zehn Minuten. Jedes Mal, wenn der gelbe Wurm sich an uns vorbeischlängelt, murrt Karina und fragt: Erst zehn Minuten? Mehr sagt sie nicht. Keiner von uns antwortet ihr.
Einer bringt immer Boxen mit. Dann läuft so ein Scheißrapper; der beste, den unsere Stadt hervorbringen konnte. Über eine halbe Million Spaten. Sie ficken, sie schlafen, sie fressen, sie sind alle talentfrei. Das ist die Gosse mein Freund/Doppel D ungebräunt/Du bist ein Schönling, ich hässlich/Dresden bleibt dreckig. Wir hören das schon immer. Anfangs noch ironisch, später dann hielten wir es für cool. Jetzt hören wir es einfach, weil es genauso zu uns gehört wie die Kippen und die Lederjacken und die ranzigen Stoffschuhe.
Wir reden kurz, ob wir noch in die Stadt wollen. Eigentlich hat aber keiner Lust. Karina fragt, ob wir nach Hause gehen wollen. Aber das wollen wir nicht. Wenn wir sagen, wir gehen in die Stadt, dann sind wir immer schon in der Stadt. Aber das ist nicht dasselbe. Das sind zwei verschiedene Städte, nur der Name auf der Adresse ist derselbe. Die eine ist immer warm, von den Leuten, den Läden, den Lichtern. Da sind die Menschen. Jeder kennt uns da, aber anders als hier. Hier wissen alle, wer wir sind. Dass wir eigentlich Gassenkinder sind. Unsere Großeltern sitzen oben in den Balkons, unsere Eltern schieben Nachtschichten in den Metallbetrieben, Krankenhäusern und Bäckereien.
Da sind wir Andere. Bessere. Wenn wir durch die Innenstadt streifen, erkennt man uns. Die Blicke, das Flüstern, das lieben wir. Sie sehen unsere Klamotten, die wir uns zusammengespart haben. Die Zigarettenpackungen. Die Mädchen wollen was anfangen oder zu uns gehören wie Karina. Die Jungs starren auf Karinas Arsch, wenn wir an ihnen vorbeilaufen. Warum wir zu den angesagten Rudeln gehören, haben wir vergessen. Wahrscheinlich haben wir früher, so vor ein, zwei Jahren, mal krasse Scheiße abgezogen. Daher der Respekt. Jetzt sind wir einfach oben, haben den OG-Status, ohne uns zu bewegen.
Eine Bahn hält an der Haltestelle gegenüber an. Karina öffnet den Mund, schaut in unsere Richtung. Dann schließt sie ihn wieder. Sie weiß, dass sie nervt, wenn sie nach den zehn Minuten fragt.
Dann sehen wir sie. Schau mal, sagt einer von uns. Da ist wieder der olle Fisch. Der olle Fisch ist eigentlich gar kein Fisch, sondern ein Obdachloser. Wahrscheinlich ist der olle Fisch einmal eine Frau gewesen, als er noch ein Mensch war. Das muss aber schon lange her sein. Seit Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten nennen die Leute in der Stadt diese Obdachlose den „ollen Fisch“. Jeder kennt sie. Man riecht sie zehn Meter gegen den Wind, sagen wir immer. Sie riecht wie etwas, das schon lange vergammelt ist. Der Geruch ist unerträglich. Karina musste schon einmal würgen, als der olle Fisch an ihr vorbeigelaufen ist. Sie hält eben nichts ab. Der Fisch, die Frau, sie trägt diese Holzschlappen. Das ganze Jahr. In ihnen stecken immer ihre nackten Füße. Außerdem steckt sie in einem Gewand, einem Kartoffelsack, mit bunten Streifen, darüber ein Ledermantel. Ihre Beine ragen aus dem Sack heraus. Sie sind dürr, zwei verschrumpelte Stiele, grau, mit Pusteln überzogen. Wie Mondkrater, sagen manche von uns. Das Gesicht ist eingefallen, die Augen groß und leer. Sie starren in eine andere Welt, an uns vorbei. Der Mund scheint nicht ganz zum Gesicht zu gehören, denn er verzerrt sich, spuckt, brummelt Worte, ist ganz nervös. Während der Mund wütend ist, bleiben die Augen in ihrer Apathie hängen. Augen und Mund sind wie zwei Gebäude aus verschiedenen Epochen, ein Kulturpalast wurde in den Sechzigern neben barocke Wohnhäuser gebaut, nun müssen sie sich den Touristen als gezwungene Einheit präsentieren. Die Haare des Fischs hängen vom Ansatz bis in die Spitzen fettig und dünn am Kopf herab. Wir vermuten, dass von ihnen der meiste Gestank ausgeht.
Der Fisch torkelt nun auf unsere Seite der Haltestelle zu. Das machen die Penner oft. Sie fahren in der Kälte mit den Bahnen hin und her, betteln gelegentlich. Der Fisch hat uns noch nie angebettelt. Wir glauben nicht, dass er sprechen kann. Zumindest nicht so, dass ganze Sätze dabei herauskommen.
Die hat das letzte Mal geduscht, da stand die Mauer noch, sagt einer von uns. Die anderen lachen.
He, weißt du, was geil wäre? Die mal richtig schön einseifen, sagt ein Anderer. Jo, und dann mit dem Schlauch abspülen, sagt der Eine wieder. Geil, sage ich. Karina hält sich die Hand vor Nase und Mund. Als ob sie schon was riecht, denke ich. Dann ist der olle Fisch auf unserer Seite. Er geht an uns vorbei. Wir halten den Atem an. Die Zigaretten glühen vor sich hin. Es ist nur ein Augenblick, aber vielleicht auch ein Jahr vergangen, dann steht der Fisch drüben am Fahrkartenautomat. Würden wir uns anstrengen, wir könnten sie immer noch riechen.
Aber im Ernst, sagt dann einer von uns. Warum machen wir das nicht einfach? Seifen sie ein. Karina geht schnell hoch und holt Shampoo. Wir holen uns jeder zwei große Wasserflaschen aus dem Aldi. Der olle Fisch wird sich über die Dusche freuen. Du spinnst, sagt Karina. Wir aber denken darüber nach. Dann sagt Einer: Ja, hab ich voll Bock drauf. Ne echt. Ist sowieso langweilig hier und ich will noch in die Stadt. Ja, sagt ein Anderer. Die fährt doch eh mit der nächsten Bahn wieder zurück. Habe mal gesehen, wie sie sich dann erstmal unter eine Brücke gesetzt hat, bis sie wieder gefahren ist. Da passen wir sie ab. Wir sagen nichts, ein paar von uns nicken, die Anderen denken über den Plan nach.
Karina sagt nichts. Sie schaut auf den Boden. Dann sieht sie mich an. Das ist nicht euer Ernst, sagt sie. Einer sagt: Du musst ja nicht mitmachen, du hast eh nie Spaß. Sie sieht immer noch mich an. Er will dich eh nicht ficken, sagt Einer von uns. Keiner hier will das. Lass dir erstmal Brüste wachsen. Wir wollen ne Doppel D, mindestens. Ein paar von uns lachen. Ich schaue auf den Boden. Ich höre Karinas Schritte, dann nur noch das Pfeifen des Winds.
Also, sagt Einer, machen wir das jetzt? Jo, wir nicken. Drei Leute holen Wasser und Shampoo, die anderen vier gehen dem Fisch nach, sagt ein Anderer.
Als die Bahn kommt, setzen wir uns ein paar Sitzreihen vom Fisch entfernt hin. Sie steht da, wo man die Fahrräder und Kinderwägen und Hunde abstellen kann. Wir haben sie noch nie sitzen sehen, in den Jahren, die wir sie kennen. Sie steht immer.
Ich schaue aus dem Fenster. Es ist dunkel, draußen verschwimmt alles zu roten und blauen Lichtern. Die Menschen, die Spaten in langen dunklen Mänteln sind nur Schemen, die sich langsam im Licht der Laternen bewegen. Als wären sie sich ihrer Sache ungewiss, als gäbe es eine Gefahr, an der sie nicht zu schnell vorbeilaufen sollten.
Es ist fast niemand in der Bahn. Wir legen die Füße hoch. Der Fisch schwankt hin und her, windet sich mit jeder Kurve, die Bewegungen der Bahn scheinen ihn stärker mitzureißen als uns, wenn wir stehen würden. Ein Fisch, der an Land zappelt, bis er erstickt.
Die barocken Gebäude entlang der Elbe werden in der Nacht angestrahlt. Sie sind der ganze Stolz unserer Stadt, denn gute Deutschrapper haben wir hier nicht, die wir anstrahlen könnten. Allgemein sind die Menschen hier nicht so schön. Besonders im Winter. Doppel D, ungebräunt, plärrt es aus den Boxen, die wir mitgebracht haben.
An der fünften Haltestelle stolpert sie aus der Bahn auf den Gehsteig in eine Gruppe hinein. Sie verziehen die Gesichter, die Spaten, sie kräuseln die Nasen, manche husten. Der Fisch torkelt aus ihnen heraus in die Fußgängerzone hinein. Die Beleuchtung der bereits geschlossenen Läden strahlt sie an. Sie ist nicht weniger Fratze, nicht weniger Ausdruckslosigkeit als die Puppen hinter den Schaufenstern. Sie sind zwei Enden eines Spektrums. Die Puppen sind die schöne Leere, der Fisch nur noch hässliche Leere. Wir folgen ihr, an den Läden vorbei, an den Statuen vorbei, bis hin zur Brücke. Der Andere hatte recht. Sie setzt sich da hin, ins Halbdunkle, auf einen plattgetretenen Pappkarton. Wir warten. Zehn Minuten später kommt der Rest von uns. Wir nehmen uns alle eine Flasche.
Dann gehen wir langsam auf sie zu. Einer von uns hat Einweghandschuhe an, er hält das Shampoo in der Hand. Der Fisch schaut auf den Fluss, der schwarz durch die Stadt fließt. Erst unsere Schatten, die sich ihm nähern, schrecken ihn auf. Der Fisch sieht mich an. Ich möchte jetzt lieber weglaufen, als ihm weiter in die Augen zu sehen.
Es ist, als sei alles in die dunkle Spiegelfläche des Wassers gezeichnet. Ein Kind, das nicht gesehen wird. Es trägt einen langen Wollrock wie die anderen Mädchen auf dem Schulhof, aber es geht nicht zu den Eltern nach Hause wie sie. Später ein Umerziehungsheim. Die Schläge der Erzieherin. Die Kaufhalle. Die Schläge des Ehemanns. Der Wodka. Die Wende. Die geschlossene Kaufhalle. Der billige Wodka. Die Straße. Der gestohlene Wodka. Ein Winter, zwei Winter, zwanzig Winter. Man vergisst, dass man stinkt, wenn man Durst hat.
Ich ertrage ihren Blick nicht mehr. Die Bilder lösen sich auf. Ich gehe ein wenig hinter den Anderen her, aber wir bleiben zusammen. Wir schrauben die Plastikdeckel ab und bauen uns vor ihr auf. Ihr Mund ist ganz starr jetzt, die Augen blinzeln wütend. Vielleicht ist es auch Angst, denke ich noch.
Seit diesem Abend sprechen wir nicht mehr mit Karina. Sie läuft jetzt manchmal an der Haltestelle vorbei, schaut uns aber nicht an. Schaut mich auch nicht an. Sie hat oft ein so enges T-Shirt an, dass ich ihre Rippen zählen könnte. Wenn ich sie beachten würde. Es ist Ende März, ein warmer März. Man scheint den Winter für beendet zu halten. Letzte Woche lag ein ausgeschnittener Zeitungsartikel in unseren Briefkästen. Jemand hatte ihn für jeden von uns kopiert. Darin enthalten war eine Statistik, die besagte, dass seit Oktober drei Fälle erfrorener Obdachloser in der Stadt gemeldet worden seien.

WORTMELDUNGEN – der Literaturpreis für kritische Kurztexte – will mit einem Förderpreis junge Autor*innen motivieren, gesellschaftspolitische Themen in den Fokus zu nehmen und literarische Positionen zu aktuellen Diskursen zu entwickeln. In diesem Jahr wurde er erstmalig an drei Nachwuchsautorinnen vergeben. Zum Thema „Hinter dem Zaun – was bringt Heimat zur Sprache?“ wählte die Jury die Texte von Sophie Baumberg (Frankfurt am Main) , Leona Stahlmann (Hamburg) und Magdalena Kotzurek (Monterey, USA) aus. Wir stellen die drei Gewinnerinnen vor und präsentieren ihre Beiträge.

Du zeichnest in „Doppel D, ungebräunt“ das Bild eines jugendlichen Milieus in Dresden. Was verbindest du mit dieser Stadt?
Sophie Baumberg: Ich bin dort aufgewachsen. Als ich für mein Studium weggezogen bin, konnte ich anders auf die Stadt zurückblicken. In Jugendgruppen herrscht schon ab einem sehr jungen Alter ein sehr harter Ton und ein großes Maß an Zynismus und Abgeklärtheit.

Woher kommt das?
Dieses „Du kannst alles erreichen, was du willst“, das man in irgendwelchen Fernsehshows versprochen bekommt, können die Leute, mit denen ich aufgewachsen bin, gar nicht ernst nehmen, es ist nicht wahr. Hinzu kommt die Problematik, dass die eigenen Eltern und Großeltern einen oder mehrere Systemwechsel durchmachen mussten. Das spielt natürlich auch eine Rolle bei der eigenen Charakterbildung und Identitätsfindung.

Du zeigst in deiner Kurzgeschichte auf, wie eine Frau in die Obdachlosigkeit geraten ist. Hast du für deinen Text mit einer obdachlosen Person gesprochen?
Nein. Aber das Alkoholthema war an dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin, immer wieder präsent. Als ich Kind war, ist unser Nachbar gestorben und ich habe meine Mutter gefragt: „Warum ist er gestorben, er war doch so jung?“ Meine Mutter hat geantwortet: „Der hat sich tot gesoffen.“ So eine Geschichte habe ich der obdachlosen Frau in meiner Geschichte auch zugeschrieben.

Frauen kommen in der Geschichte nicht so gut weg. Die obdachlose Frau wird als „oller Fisch“ bezeichnet. Karina hat eigentlich eine klare Meinung, kann sie aber nicht richtig äußern.
Ja, meine Beobachtung ist, dass in Gruppen von Jugendlichen die Mädels oft nichts zu melden haben. Erst wenn sie sich später emanzipieren, lernen sie, wie sie den Jungen entgegentreten können. Ich habe das auch erst in meiner späteren Entwicklung gelernt. Karina ist sehr jung und kann diese Machtdynamiken noch nicht durchdringen.

Spielt dieser Prozess vom Stimmeerheben für dich als Autorin auch eine Rolle?
Ja, du musst lernen, dir Gehör zu verschaffen. Oft denke ich, wenn ich laut bin, nehme ich anderen etwas weg. Es ist eben immer noch so, dass Männer selbstbewusster erzogen werden und Frauen sich eher unter den Scheffel stellen. Das ist das, woran wir als Frauen arbeiten und uns gut positionieren müssen.

Die Verleihung der Förderpreise findet am 24. Mai 2019 um 19 Uhr im Frankfurter Salon statt.
Wer nicht älter als 30 Jahre ist und sich für die nächste Runde bewerben will, kann das noch bis zum 30. Mai hier tun.