Mittwoch also

„Der kurze Prozess wurde letztes Jahr abgeschafft.“ Willkommen in der Welt der Zwangsberatung von Abtreibewilligen. Hedda Møller, 33, Journalistin in Oslo, ungebunden und prekär, fällt aus allen Wolken, als sie das unerwünschte Ergebnis eines One-Night-Stands so schnell wie möglich loswerden möchte und dabei erfahren muss, dass auch Nor- wegen eine zwingende Bedenkzeit von drei Werktagen eingeführt hat – „bei einem Kuhhandel mit dem einen Prozent gläubiger Christen in diesem Land“. Der steinige Weg zur Abtreibung ist das Überthema dieses ersten ins Deutsche übersetzten Romans von Lotta Elstad, Buchautorin und Journalistin um die dreißig in Oslo. Schnoddrig und unsentimental reflektiert deren Protagonistin ihr Leben zwischen sinkenden Kontoständen, nervigen Freelance-Aufträgen, Tinder-Beziehungen und Airbnb-Vermietungen der eigenen Wohnung. Das ist gut beobachtet, witzig, provokant und amüsant zu lesen. Stellenweise wirkt die Hauptfigur, die vom Verlag als eine Art Postergirl heutiger weiblicher Selbstbestimmung in Stellung gebracht wird, jedoch merkwürdig unschlüssig: Warum verschleppt sie die Abtreibung, wo sie doch zu 150 Prozent sicher ist, die Schwangerschaft nicht austragen zu wollen? Und warum schmachtet sie einen arroganten Wichtigtuer an, der sich offensichtlich wenig aus ihr macht? Hier knirscht’s ein wenig im Gebälk der sonst so toughen Figurenpsychologie. Aber vielleicht macht genau das ja auch den Entwurf neuer feministischer Selbstbestimmung aus: dass sie nicht unfehlbar sein muss. Sonja Eismann

Lotta Elstad „Mittwoch also“ Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe. Kiepenheuer & Witsch, 304 S.,
18 Euro

Nacht in Caracas

Nach der Beerdigung ihrer Mutter ist Adelaida auf sich allein gestellt. Fast schon passiv beobachtet sie, wie ihre Heimatstadt Caracas im Chaos versinkt. Venezuela steht vor dem Kollaps, es gibt nicht genügend Lebensmittel und Medikamente, paramilitärische Einheiten kontrollieren die Straßen und wer gegen die Regierung demonstriert, läuft Gefahr, verschleppt und gefoltert zu werden. Schließlich ist Adelaida gezwungen, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Es ist nahezu unmöglich zu begreifen, was derzeit in Venezuela geschieht. Karina Sainz Borgo, die in Spanien als Kulturjournalistin arbeitet, bringt mit ihrem starken Roman Licht ins Dunkel. Durch die Augen von Adelaida und die vielen Rückblenden in die Kindheit ihrer Protagonistin beschreibt sie ein Land, das sich innerhalb weniger Jahre zu einem der gefährlichsten der Welt wandelte. Sainz Borgo gelingt in ihrem Debüt, ein breites Panorama aus Politik und Geschichte einerseits und einen von Schuld, Angst, Misstrauen, aber auch Solidarität geprägten Alltag andererseits zu beschreiben. Eine wichtige neue Stimme aus einem Land, aus dem viel zu wenige In- formationen nach außen dringen. Isabella Caldart

Karina Sainz Borgo „Nacht in Caracas“ Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Foscher, 224 S., 21 Euro

 

Rot ist doch schön

Lucia Zamolo beschreibt und illustriert tagebuchartig Sequenzen aus ihrem Leben: Die erste vollgeblutete Unterhose hatte sie auf dem Klo am achzigsten Geburtstag ihrer Stief- oma – und war daraufhin ziemlich besorgt. Als sie als Kind gemeinsam mit ihrem Vater im Fernsehen den Begriff „Menstruationsblut“ aufschnappte und nach der Bedeutung fragte, konnte oder wollte er keine Antwort geben. Und selbst als junge Erwachsene wurde in ihrem Umfeld oft nicht offen über Menstruation gesprochen. Nachdem die Tatsache, dass die Regelblutung weder giftig noch unheilbringend ist, angekommen ist, ist Zamolo der Meinung, dass es nun dringend an der Zeit wäre, offen und ungeniert über das Thema zu sprechen. „Ja, ich ziehe gleich einen blutgetränkten Tampon aus mir heraus und stoppe den Blutfluss, indem ich mir einen neuen in die Vagina schiebe. Deal with it.“ Mit ihrem Buch richtet sie sich vor allem an Heranwachsende, will aufklären, Mut machen und Ängste nehmen. Sie räumt humorvoll mit historischen Mythen auf und gibt Tipps zum Umgang mit PMS und Regelschmerzen. Die biologischen Fakten rund ums Bluten bringt sie informativer und ästhetischer auf den Punkt als jedes Schulbuch. Dabei fehlt leider ein wichtiger Hinweis: Nicht alle, die menstruieren, sind Frauen – und nicht alle Frauen menstruieren. Abgesehen von dieser Schwachstelle ist das Buch allerdings ein wichtiger und gelungener Beitrag zur Enttabuisierung der Menstruation und ein wunderschönes und kluges Gesamtkunstwerk. Carla Heher

Lucia Zamolo „Rot ist doch schön: Fun & Facts rund ums Thema Menstruation“ Bohem Press, 96 S., 15 Euro, ab 10 Jahren

Feminismus für die 99%

Eine Absage an den liberalen Feminismus, der nur den Frauen etwas bringe, die bereits privilegiert seien: Solange es Kapitalismus und Klassengesellschaft gibt, könne eine Befreiung aller Geschlechter nicht durchgesetzt werden, da das Ausbeutungsverhältnis trotz Lohngleichheit für Arbeiterinnen bestehen bleibe. In elf Thesen werden u. a. Repro- duktionsarbeit und geschlechtsspezifische Gewalt verhandelt und radikale Debatten der letzten Jahrzehnte zusammengefasst, ohne die Realitäten der sexuellen Befreiung und Geschlechtervielfalt zu marginalisieren. Stattdessen wird ihr antikapitalistisches Potenzial, aber auch die neoliberale Vereinnahmung von z. B. schwuler Identität herausgearbeitet. Die Autorinnen schließen an soziale feministische Kämpfe wie den Internationalen Frauenstreik und Ni Una Menos an, positionieren sich gegen die Trennung von Identitäts- und Klassenpolitik. Vielleicht ist diese Radikalität auch verantwortlich dafür, dass das Manifest relativ unkonkret bleibt: Eine globale feministische Arbeiter*innenbewegung ist nötig, aber wie soll sie aussehen? Bahar Sheikh

Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser „Feminismus für die 99%. Ein Manifest“ Matthes & Seitz, 120 S., 15 Euro

 

Lvstprinzip

„If the shoe doesn’t fit, must we change the foot?“ Diese Frage von Gloria Steinem stellte sich auch Theresa Lachner, ihres Zeichens Gründerin des größten deutschsprachigen Sexblogs „Lvstprinzip“. Jahrelang reiste sie um die Welt, erlebte ein Abenteuer nach dem anderen und lebte den vermeintlichen Traum. Bis er es nicht mehr war und sie sich zurückzog. Um ein Buch zu schreiben. Ein Buch so voller Lust, Hingabe und Ehrlichkeit, dass es zu herzhaften Lachanfällen und schmerzvollem Nicken führt. Theresa Lachner nimmt ihre Leser*innen mit auf einen feministischen Trip rund um den Globus, durch alle Höhen und Tiefen der Liebe, der Sehnsucht und der Einsamkeit. Dabei scheut sie nicht davor zurück, Schmerz und psychische Probleme anzusprechen, die auch durch den Sprung in den nächsten Flieger nicht verschwinden, egal, wie sehr man es sich wünscht. Sie schreibt mit Witz von ihren Anfängen als Reisebloggerin, steht zu ihrem anfänglichen Dasein als weiße Laptop-Hipsterin, welches sie später genauso scharf kritisiert, und lässt an so manchem Sex-Guru kein gutes Haar. Entstanden ist ein Manifest über Lust und die Suche nach dem guten Leben, das ermutigt, einfach mal zu machen. Prädikat: geil. Ava Weis

Theresa Lachner „Lvst­ prinzip“ Blumenbar, 240 S., 20 Euro

Miroloi

Karen Köhler erfindet in ihrem ersten Roman eine ganze Welt: ein abgelegenes Bergdorf auf einer Insel mit einer erfundenen Religion und erfundenen Regeln. In deren Mittel- punkt stellt sie eine junge Frau, die, obwohl sie ihr Leben lang in diesem Dorf lebt, stets die Außenseiterin bleibt. Als Baby wurde sie in einem Karton vor dem Bethaus abgelegt und lebt seitdem beim Bethaus- Vater. Da man nicht weiß, woher sie kommt und zu wem sie gehört, darf sie keinen Namen tragen und hat auch sonst keine Rechte. Gerne will sie Schreiben und Lesen lernen, aber alle haben etwas dagegen: der Lehrer, die Gesetze (die Frauen dies verbieten so wie Männern das Tanzen oder Kochen), die Ältesten, die Tradition, die Götter, die Ordnung. Doch das alles beginnt sie immer mehr zu hinterfragen, als der Bethaus-Vater ihr heimlich ihren Wunsch erfüllt. Ein feiner Riss kommt mit den Buchstaben in ihre Welt und die Klammer von „Daswarschonimmerso“ bis „Daswirdimmersobleiben“ engt sie immer mehr ein. „Miroloi“ bedeutet „Rede über das Schicksal“ und ist ein von Frauen gedichtetes Totenlied für einen Verstorbenen. Die namenlose Außenseiterin erzählt in 128 Strophen ihr eigenes Miroloi, da dies niemand für sie machen wird. Köhler schafft dank der bewegenden Geschichte, aber auch durch das poetische Spiel mit der Sprache, dass man ganz tief in diese Welt eintaucht und die Protagonistin durch alle Höhen und Tiefen begleitet. Beim Lesen dieses großen Romans hofft man, dass noch unendlich viele Strophen folgen. Nicole Hoffmann

Karen Köhler „Miroloi“ Hanser, 464 S., 24 Euro

Tausend Väter

„Victory has a thousand fathers, defeat is an orphan“: Ein altes Sprichwort, das heutzutage meist dem US-PräsidentenJohnF.Kennedy zugeschrieben wird. 1961 äußerte er sich so über die fehlgeschlagene Invasion Kubas; die nächste große Niederlage Kennedys war der Krieg in Vietnam. Dort liegen die Wurzeln der Autorin Nhung Dam, deren Eltern Europa als Bootsflüchtlinge erreichten. Dam hat ihren Debütroman auf Niederländisch geschrieben, nun liegt dieses außerordentliche Buch auch in deutschsprachiger Fassung vor. Der Roman schildert Aufwachsen und Zersplittern einer Familie aus der Perspektive der kindlichen Protagonistin und trifft dabei die Töne bzw. Nuancen meisterinnenhaft. Kaum ein zeitgenössischer Text erschließt die kindliche Vorstellungskraft derart präzise und zu- gleich unprätentiös. Dam diskutiert: Was ist ein Vater? Ist ein Vater das, was er tut und lässt? Kann eins das vaterförmige Loch füllen, das nach seinem Verschwinden klafft, und wenn ja, womit? Darin eingewickelt sind natürlich auch Fragen nach Herkunft und Abstammung. Was ist ein „Vaterland“, eine „Muttersprache“, welche Muster verstecken sich hinter diesen Ausdrücken und inwiefern ist eins (nicht) verbunden mit ihnen? Wer keinen Vater hat, braucht „Tausend Väter“. Wer früher mal Kind war, auch. Olja Alvir

Nhung Dam „Tausend Väter“ Aus dem Niederländischen von Bettina Bach & Christiane Kuby. Ullstein,
400 S., 20 Euro

 

My Thoughts Exactly

Lange Zeit war Lily Allen mit ihren vermeintlichen Eskapaden Dauergast in Klatschblättern: Sie isst zu viel, zu wenig, lässt ihre Kinder zu oft allein, vernachlässigt ihre Karriere, kleidet sich nicht sexy genug. So ziemlich alles, was jungen Frauen schon vorgeworfen wurde, wurde auch über sie geschrieben. Leider teilt sie diese Erfahrungen mit vielen ruhmreichen Persönlichkeiten. Jetzt hat Lily Allen mit 35 Jahren ihre Memoiren geschrieben: per- formativ betitelt als „My Thoughts Exactly“. Detailliert und sprachlich abgeklärt breitet die Musikerin ihr Leben aus. Sie reflektiert über Sexualität, Ehe, Mutterschaft, ihren Werdegang in der sexistischen und erbarmungslosen Musikindustrie, über Alkohol- und Drogenmiss- brauch und die vielschichtigen Verurteilungsinstanzen, mit denen man als Frau zu kämpfen hat. Um der Fremdbestimmtheit zu entgehen, habe sie jetzt dieses Buch geschrieben. „Ich wollte mich endlich nicht mehr schämen müssen für all das, was über mich erzählt wurde, ob ich es nun tatsächlich getan habe oder auch nicht“, sagt Allen. So trivial oder plakativ ihre Beobachtungen an vielen Stellen zunächst erscheinen mögen, so wegebnend ist der Akt, sich eine Stimme zu verschaffen, in Hierarchien versteckte Diskriminierung anzusprechen und sich ausdrücklich nicht für als schamhaft verurteilte Entscheidungen zu entschuldigen. 
 Marie Serah Ebcinoglu

Lily Allen „My Thoughts Exactly“ Aus dem Englischen von Andrea Kunstmann. EMF, 304 S., 20 Euro

Das Licht ist hier viel heller

Beim einstigen Bestsellerautor und Lebemann Maximilian Wenger geht es längst nicht mehr um Selbstoptimierung. Nach der Scheidung haust er in einer kleinen Singlewohnung und leidet an seiner nun bereits seit Jahren herrschenden Schreibblockade und dem damit verbundenen sozialen Abstieg. Er erhält Briefe, die an seinen Vormieter adressiert sind, die er jedoch öffnet. Die Briefe sind von einer Frau, der man alles genommen hat. Voller Wut schreibt sie Brief für Brief, was ihr passiert ist. Was Wenger nicht weiß: Seine Tochter Zoey liest diese Briefe auch und diese Briefe lösen in beiden jeweils etwas anderes aus. In ihrem zweiten Buch beleuchtet Mareike Fallwickl die hellen und dunklen Seiten von menschlichen Beziehungen. In zehn Kapiteln, die wie ein Countdown von zehn bis null heruntergezählt werden, erfährt man allmählich mehr über die Protagonist*innen. Das Thema der männlichen Macht und Dominanz und was es mit dem Gegenüber macht, das Fallwickl aus unterschiedlichen Perspektiven schildert, wird so erlebbar. Mit ihrem Schreiben schafft sie es, dass bei der Lesenden die unterschiedlichsten Gefühle hervorgerufen werden und man sich in manchen Situationen wiedererkennen kann – das ist nicht immer angenehm, aber berührend. Nicole Hoffmann

Mareike Fallwickl „Das Licht ist hier viel heller“ Frankfurter Verlagsanstalt, 384 S., 24 Euro

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/19.