Von Debora Antmann

„Oberpetze!“ Ich fühle mich wie auf dem Schulhof, stattdessen sind es Mitte 40- bis Mitte 60-Jährige, die mir das Wort entgegenspucken. „Oberpetze! Du weißt ganz genau, was du getan hast!“ Ich gebe zu, ich habe erst mal keine Ahnung, was ich gemacht haben soll. Aber nach etwa einer halben Stunde dämmert mir, was hier passiert ist.

Ich bin auf Reha. Seit nun etlichen Wochen lerne ich wieder laufen und ungefähr so lange wie ich ist auch der Inbegriff der toxischen Männlichkeit hier. Die toxische Männlichkeit ist ein Typ, der gerne mit dem motorisierten Grund angibt, wegen dem er hier ist, und PERMANENT seine mobilen Lautsprecher laufen hat. Rammstein, Limp Bizkit, Michael Mittermeier und dass er damit seit Wochen ungefähr eine Million Leute nervt, geilt ihn auch noch auf. Die Klinikleitung sagt, sie könne nix machen, und das findet er besonders lustig.

©Tine Fetz

Also die toxische Männlichkeit drückt permanent allen Leuten öffentlich seine scheppernde Unterhaltung auf, besonders gerne dort, wo alle Raucher*innen gezwungenermaßen aufeinanderhocken, und egal, ob man ihn nett bittet, ihn anschreit oder seine Box über das halbe Klinikgelände schmeißt (alles schon passiert), ihn interessiert’s ’nen Scheißdreck und er reagiert spöttisch mit: “ Schon geil, wie viel Hass man mit ein bisschen guter Musik auf sich ziehen kann.“ Er treibt Menschen, die aufgrund neurologischer Erkrankungen besonders audiosensibel sind, mit dem anhaltenden scheppernden Hintergrundgedröhne oder der offensiven Vordergrundbeschallung in die Verzweiflung. Besonders zu beobachten ist dabei Folgendes: Wenn Typen sich bei ihm beschweren, reagiert ausschließlich er und zwar mit spöttischem Gelache, aber wenn Frauen sich beschweren, klinken sich plötzlich andere Typen mit ein und fangen an, diese als „Zimtzicken“ und „Sensibelchen“ zu beschimpfen. Toxische Männlichkeit betrifft halt dann schnell die ganze, dumme Herde.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Richtig eklig wird toxische Männlichkeit dann, wenn sie auf Antisemitismus (oder jeden anderen Ismus) triff. 
Und so wurde ich eines Abends plötzlich von einer ganzen Horde erwachsener Menschen (die toxische Männlichkeit hat inzwischen ein Gefolge) überfallen und als „Oberpetze“ und Schlimmeres angekeift. Was erst mal nach Kindergarten klingt, ist eigentlich ziemlich unlustig. Nachdem ich fünf Mal nachgefragt habe, worum zur Hölle es denn bitte gehe, habe ich dann den Schauplatz irritiert verlassen, weil mir niemand eine Antwort geben wollte. Später habe ich erfahren, dass es darum ging, dass ich mich über die Dauerbeschallung durch die toxische Männlichkeit beschwert habe. Der Witz ist, dass das in den letzten sieben Wochen mindestens 15 andere Menschen auch getan haben. Der Unterschied ist, dass diese anderen 15 Leute nicht vorher schon die ganze Zeit Thema waren, weil das „Gerücht rumgeht, dass DIE Jude ist“ und deswegen sowieso schon suspekt. Der Unterschied ist, dass die nicht gesagt haben, die toxische Männlichkeit soll den Scheiß ausmachen, als gerade Mittermeier lief, der irgendwelche Hitlerwitze gemacht hat und es deswegen hieß: „Die warn bisschen überempfindlichen wegen den Judenwitzen (sic!).“ Es war übrigens nicht mal meine Beschwerde, die letztendlich nach acht Wochen endlich zu einer Abmahnung geführt hat, weil ich längst aufgegeben hatte, aber die Theorien der Horde sind andere. Ich bin als „Oberpetze“ jetzt hier die Personifikation der Denunziation, was einfach nur perfide ist. Wenn Leute darauf hinweisen, dass sich ja auch andere beschwert haben, kommen Antworten wie: „Ne ne, das trifft schon die Richtige“ oder „Das ist schon die Drahtzieherin mit den Fäden in der Hand.“ Und die Verschwörungstheorien gehen noch weiter. Am Wochenende soll es wieder Beschwerden wegen nächtlichen Lärms gegeben haben und natürlich wurden daraufhin die toxische Männlichkeit und sein Rentner*innengefolge angesprochen. Die sagen, sie waren es nicht. Deren These: Die Jüdin war es, um ihnen eins auszuwischen … Ich lag währenddessen in Stufenlagerung und mit Infusion im Bett, weil Wirbelsäule und so. Nur damit ihr Bescheid wisst …

Gegen toxische Männlichkeit anzukommen ist meistens ein Ding der Unmöglichkeit, weil im Zweifelsfall jede Reaktion gegen einen ausgelegt wird, man wird ins Lächerliche gezogen, egal, was und wie man es tut. Wenn dann noch andere Ismen dazukommen, wird’s richtig übel. Jedes Mal wenn hier jemand zu mir oder über mich „Oberpetze“ sagt, ist das nicht „nur“ sexistisch gemeint, es ist so obviously antisemitisch, als würde jemand mit den Nägeln an der Tafel kratzen. Und so perfide, wenn man bedenkt, welche Geschichte Denunziation in Deutschland eigentlich hat. Das ist dann wohl Geschichtsrevisionismus-Mobbing oder so. Die armen Deutschen. Dass wir einfach nie unsere Fresse halten können. Weder als Frauen, noch als Jüd*innen.

Ich bin jetzt noch ne Woche hier und selbst wenn ich länger hier wäre, würde ich wohl nicht mehr erleben, dass die toxische Männlichkeit rausfliegt. Weil, so läufts halt nicht. Im Gegensatz dazu liegen meine Schätzungen für antisemitische Äußerungen für die letzten acht Tage im zweistelligen Bereich. Außer ICH fliege vorher raus. Wegen Rauchens außerhalb des Raucherbereichs. Weil was anderes bleibt mir kaum übrig, denn es ist halt leider einfach nicht zum Aushalten – die Beschallung, der Antisemitismus, die toxische Männlichkeit und die dumme Herde dahinter.