Von Ana Maria Michel

Das Vorspiel, Missy Magazine 01/20, Filmrezis
©2019 Lupa Films

In weißem Hemd und schwarzer Hose betritt Alexander Paraskevas (Ilja Monti) die Bühne des Musikgymnasiums. Seinen Namen muss er zweimal sagen, weil er beim ersten Mal nicht verstanden wird. Hinter den Titel des Musikstücks, das er auf der Geige vorspielen will, setzt er ein „vielleicht“. Ihre Kolleg*innen sind nicht überzeugt, nur Lehrerin Anna Bronsky (Nina Hoss) sieht etwas in diesem Jungen – und setzt durch, dass er aufgenommen wird. Dabei ist Anna, von der Ina Weisse in „Das Vorspiel“ erzählt, nicht gerade eine, die weiß, was sie will. Sie leidet unter der Angst, etwas falsch zu machen. In ihrem Unterrichtszimmer, wo sie noch am ehesten die Kontrolle hat, beginnt sie, mit Alexander zu üben. Ihr Schüler wird ihr so wichtig, dass sie darüber ihren Sohn vergisst. Es geht ein Riss durch die Familie. Doch auch Anna selbst ist zerrissen zwischen dem Wunsch nach Perfektion und der Angst vor dem Versagen. Sie beginnt, jede Kontrolle zu verlieren. Annas Tage vergehen einer nach dem anderen, sie sind geprägt von kurzen Begegnungen. Über allem liegt Musik, aber Weisse zeigt nichts, woran man sich länger festhalten könnte. Der Regisseurin gelingt es, die Anspannung auf subtile Weise ansteigen zu lassen. Ihre Figuren sagen nicht viel, doch in jedem Blick beginnt man, eine Enttäuschung zu sehen, einen Vorwurf. Da ist etwas, das einem die Luft zum Atmen nimmt. Und dann kommt sie, die Katastrophe.
Das Vorspiel D 2019. Regie: Ina Weisse. Mit: Nina Hoss, Simon Abkarian, Ilja Monti, Sophie Rois u. a., 99 Min., Start: 23.01.

Die Kunst der Nächstenliebe
Von Barbara Schulz

Die Kunst der Naechstenliebe, Missy Magazine 01/20, Filmrezis
©Pascal Chantier / Epithète Films / Twentieth Century Fox France

Isabelle, Mitte fünfzig, bürgerlich, verheiratet, zwei Teenie-Kinder, große Pariser Wohnung, hat sich mit Haut und Haar der Hilfe von Bedürftigen verschrieben. In ihrem Job bringt sie Geflüchteten und Analphabet*innen Französisch bei und bürdet sich dabei viel auf. Um ihre Schützlinge in Lohn und Brot zu bringen, will sie ihnen kostenlose Fahrstunden geben lassen, und zwar in der von der Pleite bedrohten Fahrschule um die Ecke. Der muffelige Fahrlehrer, der sogar in seinem Büro haust, ist anfangs gar nicht begeistert. Ihre Familie hingegen vernachlässigt Isabelle. Die Kids vermissen die Mutter, ihr Ehemann, zehn Jahre jünger als sie und aus Bosnien, wo sie ihn zu Kriegszeiten „gerettet“ und sich in ihn verguckt hat, vermisst seine liebende Ehefrau und schleift Isabelle zur Paarberatung. Als der zunehmend Griesgrämigen dann auch noch eine deutsche Sprachlehrerin zur Seite gestellt wird, die jünger und positiver ist, viel zu perfekt wirkt und ihr die Bedürftigen abspenstig macht, wird sie zur Furie – und gefeuert … Klar, auch in diesem modernen französischen Film wird viel gelacht, gelitten und gesprochen, dennoch ist „Die Kunst der Nächstenliebe“ anders. Weil die Protagonist*innen so liebevoll gezeichnet und mit bekannten und unbekannten Schauspieler*innen so gekonnt besetzt sind, dass man Tränen lacht und weint, auch, weil man sich wiedererkennt.

Die Kunst der Nächstenliebe FR 2018. Regie: Gilles Legrand. Mit: Agnès Jaoui, Alban Ivanov, Tim Seyfi, Claire Sermonne, Michèle Moretti u. a., 103 Min., Start: 30.01.

800 Mal Einsam
Von Amelie Persson

Missy Magazine 01/20, Filmrezis, 800 Mal Einsam
©déjà-vu film UG

Es fühlt sich ein bisschen an, wie einer Audienz beizuwohnen. In ihrer Dokumentation „800 Mal einsam“ interviewt die Filmemacherin Anna Hepp den Regisseur Edgar Reitz. Sie outet sich sofort als Fangirl, trotzdem oder vielleicht gerade darum gelingt ihr ein spannendes Porträt. Ganz im Stil seines wohl bekanntesten Films, dem „Heimat“-Epos, wird in Schwarz-Weiß gedreht und sich viel Zeit gelassen. Hepp, ihr sichtlich engagiertes Filmteam und wir schauen dem Regisseur beim Nachdenken zu. Reitz, der zu Kriegsbeginn sechs Jahre alt war, erzählt prägende Episoden aus seiner Kindheit und von der Frage, die er sich selbst oft stellt: Wie kann jemand aus dem bäuerlichen Milieu im Hunsrück Filmemacher werden? Die Dokumentation ist von einer Langsamkeit geprägt, die Tiefe entstehen lässt, illustriert von Szenen aus seiner fünfzigjährigen Schaffenszeit als Regisseur. Edgar Reitz beschreibt seine Art des Filmemachens – eine Umwandlung der Realität in Fiktion – als Prozess, der seine eigenen Erinnerungen auslöscht. Die Emotionen steckt er in den Film, der dann Tausende Menschen rührt. Diesen Preis ist er für die einsam nebeneinander in den Kinosesseln sitzenden Zuschauer*innen bereit zu zahlen. „800 Mal Einsam“ ist ein kleiner Blick in die Gedankenwelt eines eigensinnigen Regisseurs und macht Lust, sein Werk genauer zu erkunden.

800 Mal Einsam. Ein Tag mit dem Filmemacher Edgar Reitz DE 2019. Regie: Anna Hepp. 84 Min., Start: 05.03.

Die perfekte Kandidatin
Von Indra Runge

Missy Magazine 01/20, Filmrezis,Die perfekte Kandidatin
©Razor Film

Eigentlich hatte Maryam andere Pläne: Eine tolle Stelle in einer Großstadt wollte sie ergattern, ihre Heimatstadt, ihren Vater und ihre zwei Schwestern für eine bessere berufliche Perspektive verlassen. Doch dann kommt alles anders. Denn Maryam lebt in Saudi-Arabien. Und wenn ein Visum plötzlich digital vorliegen muss, dann kann frau das nicht allein klären, sondern ihr Vormund (Vater, Ehemann etc.) muss ran. Und so landet Maryam bei einem entfernten Cousin, einem ranghohen Beamten, in der Hoffnung, er könne unbürokratisch weiterhelfen, weil ihr Vater gerade wegen einer Konzertreise nicht vor Ort ist. Ursprünglich wollte die junge Ärztin nach Dubai auf einen Ärzt*innenkongress, um sich dort für eine Stelle in Riad zu bewerben. Und im nächsten Moment findet sie sich mitten im Wahlkampf für den Gemeinderat wieder. Sie. Eine Frau. Das geht doch nicht. Spätestens als sie ihre Nikab ablegt und für die Verbesserung der Straßenverhältnisse vor der Notaufnahme, in der sie arbeitet, eintritt, mischt sie ihre konservative Gemeinde ordentlich auf. Mit unerschüttlicher Beharrlichkeit und Biss geht sie ihren Weg und lässt sich weder beeindrucken noch beirren. „Die perfekte Kandidatin“ ist die Geschichte einer Emanzipation, einer ganz persönlichen, aber auch einer, die der Hälfte einer Gesellschaft, die in einer Art Parallelwelt schon relativ frei und unbeschwert lebt, Mut gibt. Mut, dass Veränderung möglich ist. Wenn nicht heute oder morgen, dann bald. Bestimmt.

Die perfekte Kandidatin DE/SA 2019 Regie: Haifaa Al- Mansour. Mit: Mila Al Zahrani, Nora Al Awadh, Dae Al Hilali u. a., 101 Min., Start: 12.03.

Little Women
Von Anna Opel

Missy Magazine 01/20, Filmrezis, Little Woman
©Photo by Wilson Webb ©2019 CTMG, Inc.

Den eigenen Weg gehen, schreiben, damit Geld verdienen. In der Figur der Jo March hat die Schriftstellerin Louisa May Alcott ihr Alter Ego geschaffen. Zu Alcotts Zeiten waren Ideen für Männer reserviert. Deshalb empfiehlt die reiche Tante March (Meryl Streep) den ambitionierten Schwestern Jo (Saoirse Ronan) und Amy (Florence Pugh), wohl gewählt zu heiraten: der einzige Weg für eine Frau, ein gutes Leben zu führen. Meg (Emma Watson) sagt schließlich Ja. Für Jo kommt die Ehe auch nicht infrage, als ihr enger Jugendfreund (Timothée Chalamet) sich ihr mit verzweifeltem Gestammel unter freiem Himmel offenbart. Sie sagt Nein. Um jeden Preis will die Schriftstellerin auf eigenen Beinen stehen. 180 Jahre hat der Stoff auf dem Buckel. Unter Greta Gerwigs Regie kommen Figuren und Dialoge frisch daher. Mit festen Schritten führt Saoirse Ronan ein charakterstarkes Ensemble an. Fern von Klischees reiben sich die Figuren an den Geschlechterkonventionen ihrer Zeit. Die Anarcho-Energie aus Kindertagen glimmt in den jungen Erwachsenen weiter. Alles ist möglich, wenn frau es zu denken wagt. Die Rededuelle im Film stecken voller Esprit und Ernsthaftigkeit. Differenziert zeichnet Gerwig komplexe und selbstbewusste Frauenfiguren, fehlbare Menschen, Schwesternliebe. Und sonst? Das 19. Jahrhundert war die Hochzeit der Sklaverei in den USA. Von heute aus merkwürdig ist der weiße Blick auf das Jahrhundert. Das Thema Rassismus ist im Roman ausgespart, die Adaption hätte das korrigieren können.

Little Women US 2019. Regie: Greta Gerwig. Mit Saoirse Ronan, Florence Pugh, Meryl Streep u. a., 134 Min., Start: 30.01.

Nachlass / Passagen
Von Monika Raič

Missy Magazine 01/20, Filmrezis,Nachlass/Passagen
©2019 Film Kino Text

Wer heute diese Rezension liest, konnte Menschen begegnen, die den Holocaust überlebt haben. Wir konnten direkt mit denjenigen sprechen, die sich in der Welt nach Auschwitz zurechtfinden mussten: Die einen kämpften um eine lebenswerte Zukunft nach dem Schrecken, andere verdrängten oder leugneten, und wieder andere wurden sprachlos. Dieser Stille widersetzte sich u. a. die 68er-Generation. Sie forderte von ihren Eltern und Großeltern, die in unterschiedlichster Weise Teil des NS-Regimes waren, eine aktive Auseinandersetzung. Rund siebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden Holocaust-Überlebende und Zeitzeug*innen aber rar. Ein Gesicht, das Auschwitz überlebt hat, warnt eindringlich vor Hass, Antisemitismus, Rassismus und dem Vergessen. Wie können wir Erinnerung lebendig halten, wenn diese Eindringlichkeit bald nicht mehr da ist? Das ist die zentrale Frage von „Nachlass“. Der sehr sehenswerte Dokumentarfilm zeigt an so unterschiedlichen Gegenständen wie einem KZ-Galgen oder einem vererbten Klavier, dass diese Objekte zwar nicht direkt zu uns über die Vergangenheit sprechen, dass wir aber durch sie Geschichte erzählen können. Der sachliche Blick der Kamera und die eindringlichen und hoch informativen Interviews mit verschiedenen Akteur*innen führen zu einem realistischen Porträt von Mensch und Gesellschaft: Vergessen ist notwendiger Teil des Lebens, umso wichtiger ist die Arbeit dagegen – das stetige Stolpern über das menschengemachte Unheil, das sich jederzeit wiederholen kann.

Nachlass / Passagen DE 2019. Regie: Christoph Hübner, Gabriele Voss. 112 Min., Start: 23.01.

Varda par Agnès
Von Sonja Eismann

Missy Magazine 01/20, Filmrezis, Varda par Agnés
©Cine Tamaris 2018

Agnès Varda ist im März 2019 mit neunzig Jahren gestorben, aber jetzt ist sie da und spricht, als wäre sie nie weggegangen. Sie sitzt auf einer Bühne in einem Theater, einem Kino, einer Stiftung und erzählt dem Publikum vor Ort, und uns im Kino, ihr Leben in Filmen, Fotos und Kunstwerken. Ihre für die letzten Jahre charakteristische Mönchsfrisur – oben weiß, unten rot – leuchtet, während sie als so nahbare wie fesselnde, so unprätentiöse wie spaßige Chronistin Lebensdaten und -werke durcheinanderwirbelt und alles doch wieder ineinandergreifen lässt. In diesem letzten Film der großen französischen Regisseurin, die gemeinsam mit ihrem Mann Jacques Demy die Nouvelle Vague gleichzeitig prägte und hinterfragte, lässt sie mithilfe von meisterklassenartigen Erklärungen und altem sowie neu gedrehtem Filmmaterial ihre drei Existenzen als Fotografin, Regisseurin und Künstlerin Revue passieren – wobei die der politischen Kommentatorin und Aktivistin überall mitfährt. Ob sie ihre großen Erfolge wie „Cléo de 5 à 7“ (1961) oder „Vogelfrei“ (1985 mit der damals erst 17-jährigen Sandrine Bonnaire als Landstreicherin, die sie im neuen Film nochmals trifft) vorführt, sich darüber amüsiert, dass sie in „Hundert und eine Nacht“ (1995) die beiden Superstars Catherine Deneuve und Robert de Niro in einem Boot auf einem winzigen Teich zusammenbrachte, an die 1968 fast zufällig entstandene Doku über die „Black Panthers“ erinnert oder auf den feministischen Aktivismus von „Die eine singt, die andere nicht“ verweist, der sie ihr ganzes Leben begleitet habe – immer ist sie hellwach und engagiert, ohne einen Hauch von Selbstgefälligkeit. Ihr großes Interesse für ihre Mitmenschen, „les vrais gens“, ist besonders in ihren weniger bekannten Dokus über bitterarme Hausbesetzer*innen, vereinsamte Witwen oder prekäre Essensretter*innen avant la lettre zu spüren – und natürlich in ihrer rührenden Liebeserklärung an ihren 1990 verstorbenen Mann, „Jacquot de Nantes“ (1991). Inmitten all dieser Energie und Hingabe ist es kaum zu fassen, dass Varda nicht mehr da sein soll – aber immerhin hinterlässt sie uns diesen Film.

Varda par Agnès F 2019. Regie: Agnès Varda. 116 Min., Start: 06.02.

Hilma af Klint –Jenseits des Sichtbaren
Von Ava Weis

Missy Magazine 01/20, Filmrezis, Jenseits des Sichtbaren
©kinofreund eG 2019

„Die Kunstgeschichte muss umgeschrieben werden“ – der Titel des „SZ“-Artikels mag etwas reißerisch wirken, passt aber perfekt, wenn man einmal verstanden hat, dass eine der bedeutendsten europäischen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts schlicht vergessen wurde. Seit jeher wurde davon ausgegangen, dass Wassily Kandinsky 1911 das erste abstrakte Gemälde geschaffen hat. Blöd nur, dass bereits 1906 solch ein Bild entstanden ist. Die schwedische Malerin Hilma af Klint, 1862 in eine Familie von Seeoffizieren geboren und später herausragende Studentin der Königlichen Akademie der freien Künste in Stockholm, ist zwar teilweise für ihre naturalistischen Werke bekannt, ihr abstraktes Schaffen hingegen blieb der Öffentlichkeit lange verborgen. Da ihre Arbeiten zu Lebzeiten nie öffentlich gezeigt wurden, sah auch das MoMA keinen Anlass, sie in seine Sammlung aufzunehmen. Nun hat sich Regisseurin Halina Dyrschka aufgemacht, das zu ändern. In ihrer Reportage zeigt sie in ruhigen Sequenzen und Interviews, welch bedeutende Pionierin Hilma af Klint war und welche Umstände dazu geführt haben, dass erst im Jahre 2018 ein Teil ihrer insgesamt 1500 Gemälde im Guggenheim Museum ausgestellt wurde. Am Ende kann man nicht verstehen, warum dieser herausragenden Forscherin und Künstlerin, die sich mit den Schnittstellen von Naturwissenschaften, Spiritualität und Kunst auseinandersetzte, immer noch nicht die Beachtung geschenkt wird, die ihr zusteht.

Hilma af Klint – Jenseits des Sichtbaren DE 2018. Regie: Halina Dyrschka. 98 Min., Start: 05.03.

Dieser Texte erschienen zuerst in Missy 01/20.