Von Sibel Schick

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ist am 01. Oktober 2017 in Kraft getreten. Seitdem macht die Bundesregierung Netzwerkanbieter wie Facebook, Twitter, YouTube u. a. für die Inhalte verantwortlich, die die Nutzer*innen posten. Wenn Inhalte gemeldet werden, müssen sie innerhalb 24 Stunden geprüft und gelöscht werden, sofern sie gegen deutsche Gesetze oder Gemeinschaftsregeln der Plattformen verstoßen. Allerdings sind es keine Jurist*innen, die diese Inhalte prüfen. Es ist zwar bekannt, dass das Personal bei Facebook dafür geschult wird. Wer die Meldungen bei Twitter überprüft, weiß bisher aber niemand.

©Tine Fetz

Die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) stellte im Januar ihren Gesetzentwurf zur Änderung des Netzwerkdurchsetzunggesetzes vor. Der Entwurf will u. a. alle Telemediendienste zwingen, Daten ihrer Nutzer*innen an Behörden und den Geheimdienst weiterzugeben. Das heißt von Strickanleitungen bis hin zur Haustiervermittlung, von BDSM-Foren bis hin zu Immobilienportalen kann das alle Onlineangebote treffen. Dabei müssen die Nutzer*innen keine Straftaten begehen. Die Daten dürften selbst bei Ordnungswidrigkeiten angefordert werden. Das ist ein Schritt in Richtung des nassesten Traums von Faschist*innen: Überwachungsstaat nach großem „Black Mirror“-Stil, made by SPD.

Spätestens wenn die AfD ihre*n erste*n Bundesinnen- oder -justizminister*in stellt, würden solche Überwachungsgesetze selbstverständlich gegen Schwarze oder jüdische, transgeschlechtliche oder homosexuelle Menschen und Andersdenkende missbraucht werden. Darüber scheint sich die SPD keinerlei Sorgen zu machen. Aber auf wessen Kosten?

Auch wenn heute nicht alle Betreiber die Daten ihrer Nutzer*innen sofort an die Behörden weitergeben möchten, ist es möglich zu ermitteln: So konnten z. B. im Juni 2019 mit großen Razzien in 13 Bundesländern Wohnungen von Personen durchsucht werden, die auf Facebook antisemitische Beleidigungen und öffentliche Aufforderungen zu Straftaten veröffentlicht haben sollen. Auch Twitter kann unter bestimmten Bedingungen dazu gebracht werden, die Daten der Nutzer*innen herauszugeben. Wenn die Behörden dranbleiben, kann also auch heute ermittelt werden, ohne dass Überwachungsgesetze eingeführt werden müssen.

Die Bundesregierung muss zuerst einmal Onlinekriminalität neu denken und neu definieren: Alle Straftaten, die online stattfinden, haben reale Folgen. „Online“ und „Offline“ sind keine klar getrennten Welten. „Hass im Netz“ ist Hass. „Onlinegewalt“ ist Gewalt. Betroffene von Onlinekriminalität sind betroffen, auch nachdem sie das Handy ausmachen und in ihrer Küche einen Tee kochen.

Die Hemmschwelle, online Straftaten zu begehen oder Menschen zu drohen oder zu mobben, ist niedriger, weil das Netz nicht nur von den Täter*innen, sondern auch von der Gesetzgebung als eine Paralleldimension betrachtet wird, in der andere Regeln herrschen.

Mit den neuen technischen Möglichkeiten kommen auch neue Herausforderungen. Z. B. können Trolle im Netz personenbezogene Daten doxen, also unerlaubt veröffentlichen und verbreiten, und zwar auf eine für Außenstehende unverständliche Weise. Einer schreibt bspw. den Klarnamen einer Person, der andere postet den Straßennamen drunter, der Nächste schreibt die Hausnummer. Die ganze Adresse wird so in einer Nachrichtenkette von mehreren Personen veröffentlicht. Das ist eine Straftat, wird aber oft nicht als solche behandelt. Ist das schon „Bildung einer kriminellen Vereinigung“, wenn sich eine Gruppe über Chatgruppen oder Foren für solche Angriffe verabredet und diese dann umsetzt? Die Gesetze sind da. Es fehlt nur an Kenntnis über die Methoden der Täter*innen und die Motivation, hartnäckig zu ermitteln.

Statt über eine Nachbesserung des NetzDG sollte Lambrecht über dessen Abschaffung nachdenken. Wir brauchen bessere Strafverfolgung und angemessene Strafen für die Täter*innen, aber doch nicht, dass Privatunternehmen weiterhin entscheiden sollen, welche Inhalte rassistisch und antisemitisch oder strafrechtlich relevant sind. Seit NetzDG in Kraft getreten ist, wird es von organisierten Trollen vor allem gegen marginalisierte Menschen missbraucht, aber auch gegen Andersdenkende, um sie stillzulegen. Und das funktioniert, weil Privatunternehmen eben nicht zu einer solchen Aufgabe qualifiziert sind. Während Trolle marginalisierte Personen menschenfeindlich beleidigen, ihnen Gewalt androhen, ihre personenbezogenen Daten unerlaubt veröffentlichen und verbreiten, was reale Folgen hat, wie unerwünschte Sendungen oder Hausschmierereien, melden sie sie massenhaft und sorgen für ihre Sperrung. Dieser Terror wird durch NetzDG begünstigt und gar ermöglicht.

Während die Meldungen durch verifizierte Twitter-Accounts ein besonderes Gewicht haben und eher zu Löschungen und Sperrungen führen können, ist es besonders hoffnungslos, verifizierte Accounts erfolgreich zu melden. So darf bspw. der „WELT“-Kolumnist Rainer Mayer (Don Alphonso) weiterhin twittern, obwohl er immer wieder mal Mordfantasien veröffentlicht.

Verdächtig ist auch, dass je mehr Accounts einen Inhalt melden, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Posts oder Accounts gelöscht werden. Da Twitter nicht transparent kommuniziert, wer die Meldungen prüft, ist es denkbar, dass die Löschung ausschließlich durch Algorithmen erfolgt. Wahrscheinlich wird also nicht gelesen, sondern nur gezählt. Wenn Hasskommentare nur von wenigen Accounts gemeldet und nicht entfernt werden, stärkt das den Täter*innen den Rücken und motiviert andere, ihrem Hass freien Lauf zu lassen.

NetzDG entnimmt der Bundesregierung die Verantwortung, Onlinekriminalität mit allen Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen und Täter*innen zu verfolgen, und schiebt die Verantwortung auf unfähige Privatunternehmen. NetzDG ist Augenwischerei.
Wir brauchen weder eine Reform des NetzDG noch Überwachung. Wir brauchen eine Bundesregierung, die die neue und große Rolle, die die Sozialen Netzwerke in unserem Leben spielen, versteht und aus diesem Verständnis heraus effektive Schutz- und Präventionsmaßnahmen entwickelt.

PS: Auch wunderschöne Tweets werden sinnlos gemeldet und gelöscht, und Verfasser*innen werden gesperrt. So wurde z. B. ein Tweet von dem Autor Till Raether unter einem meiner Tweets entfernt und er wurde für zwölf Stunden gesperrt.