Von Lisa Bendieck & Danilo Starosta

„Wir sind gesund. Es ist alles gut.“ Das bekommt Leila Abdullah* auf ihre Nachfrage, wie es geht, jetzt oft aus der Community zu hören. Zuletzt gesprochen hat Leila mit Mahira. Mahira hatte erst im März die Zusage für eine neue Wohnung bekommen. Endlich eine Wohnung, in der es für Mahiras Kinder, Jungs und Mädchen zwischen 1 und 15 Jahren, zwei Bäder geben wird. Die Familie ist mit der großen Einwanderungswelle 2015 ins sächsische Chemnitz gekommen. Es war für die junge Frau mit den „vielen“ Kindern nie einfach. Mal beschwerten sich die Nachbar*innen, es gab auch schon Strafanzeigen und einmal konnte nur die Vermittlung an einen Strafverteidiger Schlimmeres für die Familie verhindern. Leila Abdullah hat Mahira und ihrer Familie immer geholfen, denn sie weiß, wie sehr gerade die „Neuankömmlinge“ Unterstützung brauchen. Leila Abdullah ist schon lange in Chemnitz und hilft ehrenamtlich. Ihre Hilfe kommt vor allem aus einem Grund an. Leila Abdullah versteht die Sprache der Leute, die Sprache ihrer Zungen, und viel wichtiger noch, sie versteht auch die Sprache ihrer Herzen.

©Tine Fetz

„Die Arbeit am Menschen, die wir jetzt als Sozialarbeiter leisten, versteckt sich hinter Masken, hat Barrieren errichtet.“ Ilona Seifert, die Leiterin des Chemnitzer Frauenzentrums Lila Villa, ist nicht glücklich darüber, wie die derzeitige Pandemie die Beratung verändert hat. Wie in allen Beratungsstellen hat auch die Lila Villa auf Kommunikation per Telefon und E-Mail umgestellt. Ilona Seiferts Einschätzung: Die Arbeit ist dadurch entgrenzter geworden. Das mobile Telefon ist immer geöffnet, auch wenn die Anlaufstelle für den Publikumsverkehr geschlossen bleiben muss. So werden die Gespräche auch im privaten Raum, eigentlich immer und überall, geführt.

Die Kolleg*innen der Lila Villa sind gut vernetzt. So können sie die Hilfe suchenden Frauen in besonderen Härtefällen an Kolleg*innen der stadtweit verteilten Angebote verweisen. Trotzdem bringt die Beratung per E-Mail und Telefon Einschränkungen mit sich, denn: Was im direkten Kontakt ein entlastender Moment sein kann, wird im Ferngespräch und per Mail unverbindlicher, bleibt in gewisser Weise unpersönlich. Sprechen die Beteiligten nicht dieselbe Sprache, dann zeigen sich in der Telefon- und E-Mail-Kommunikation zusätzliche Barrieren. In der Lila Villa engagieren sich seit Langem auch Frauen mit eigenen Migrationsgeschichten.

Eine der Engagierten der Lila Villa ist Larissa Khaled*. Sie ist Lehrerin für Geschichte und Mutter von sieben Kindern. Seit 2005 ist Larissa in Chemnitz zu Hause. Vorher, von 2003 bis 2005, war sie Lehrerin in der Arabischen Schule in Bonn. Ihr Mann, ein Doktorand der TU Chemnitz, und sie sind 2003 vom Libanon nach Deutschland gekommen. Bevor die Corona-bedingten Beschränkungen in Kraft traten, unterrichtete Larissa in Chemnitz vor allem Frauen zur Erreichung des Deutsch-Sprachniveaus A1 und A2. Es sind bis zu siebzig Frauen, die Larissa auch in der aktuellen Situation um Hilfe und Rat bitten. Das wichtigste Thema dabei ist der Schulstoff, den Eltern aktuell „nebenbei“ zu Hause vermitteln sollen. Die Lehrinhalte und Aufgaben sind immer in Deutsch verfasst. Erklärungen zu den Aufgaben und Übungen in den einzelnen Fächern stellen auch für Erstsprachler*innen oft Herausforderungen dar. „Die Schule ist ein echtes Problem, die vielen Aufgaben, die oft umständlichen Erläuterungen sind schwer zu verstehen“, sagt Larissa und verweist auch auf die besondere soziale Situation vieler arabischer Familien in Chemnitz. „Oft gibt es nur die Smartphones der Eltern. Drucker und Rechner gibt es in vielen Familien nicht.“ Zudem gibt es einen weitverbreiteten Bildungsnachteil der Frauen in der arabischen Community. „Der Umgang mit dem Internet müsste erlernt werden. Es braucht Kurse für die Frauen, wie sie Plattformen wie das LernSaX nutzen können.“ Das Interface von LernSax ist einsprachig Deutsch und setzt Erfahrungen im Umgang mit Lernsoftware voraus. Larissas zwei ältere Kinder haben mit ihren unmittelbaren Mitschüler*innen selbstständig Lerngruppen gegründet. Der Bedarf nach Erklärung ist allerdings um ein Vielfaches höher als das, was die beiden Schüler*innen und Larissa abdecken können.

Larissa und die Frauen, die sie früher jeden Mittwoch und Donnerstag im Deutschkurs getroffen hat, tauschen jetzt im Chat Ideen für die fortdauernde Bewältigung des Alltags aus. Es geht um Geschichten, die den Kindern erzählt werden können, um Ideen zum Malen, um Spiele – Strategien, um den fortdauernden Routinen und der aufkommenden Langeweile zu entkommen. Eine besonders problematische Entwicklung ist für Larissa, dass die Frauen Termine, selbst notwendige in medizinischen Praxen, häufig verschieben. Viele sind sich nicht sicher, ob und in welcher Weise sie in die Stadt können, und befürchten, etwas falsch zu machen. „Ärger und böse Blicke hat es auch schon vor Corona gegeben, wenn arabische Familien mit vielen Kindern in Chemnitz unterwegs waren“, sagt Kenan Allejji, der Vorsitzende des Arabischen Vereins für Integration und Kultur e.V. in Chemnitz.

Den Verein hat Allejji 2018 mitgegründet, als Reaktion auf die Eskalation rassistischer Ereignisse in Chemnitz. Dort engagieren sich viele erfahrene Pädagog*innen. Sie können einige der Belastungen entschärfen, denen große migrantische Familien aktuell ausgesetzt sind. Der Umgang mit Krisen und Konflikten angesichts der besonderen Herausforderung des Lebens in Migrations- und Fluchtkontexten ist von ihnen vielfach erprobt.

Es sind Pädagoginnen wie Fatima Khalil, die den Alltag der arabischen Community als Expertin verstehen und beraten können. Sie ist Integrationsbegleiterin in einer Chemnitzer Schule. Fatima lebt seit 2013 in Chemnitz. Sie versucht, den Alltag in der Coronavirus-Krise so normal wie möglich zu gestalten. Sie macht Spaziergänge mit ihren zwei Kindern im Kindergartenalter, sie geht jeden Tag raus, etwa zum Einkaufen. Das empfiehlt sie auch allen Rat suchenden Frauen und Familien, die sich an sie wenden. Sie selbst treibt die Herausforderung des stark veränderten Alltags um. Ihr bisher mit Arbeit und ehrenamtlichem Engagement prall gefüllter Tag ist nun einem immer gleich ablaufenden Tagesablauf gewichen. Als studierte Schulpsychologin, Arabischlehrerein und Erzieherin kann sie auf ein professionelles Know-how zur Bewältigung von Krisen und besonderen Lebenssituationen zurückgreifen. So ist sie als Ratgeberin mit den Eltern aus „ihrer“ Schule in Kontakt. Oft fragen sie andere Eltern nach Ideen, wie die Motivation der Kinder zur Erledigung der umfangreichen Schulaufgaben gestärkt werden kann. Aber sie wird auch mit der zunehmenden Angst konfrontiert, die viele in der arabischen Community um ihre Familien und Lieben in ihren Herkunftsländern haben. Sie teilt diese Sorgen und Ängste und weiß um die Erleichterung, sich darüber auszutauschen und verständnisvolles Gehör zu finden. Soweit sie kann, unterstützt Fatima die Ratsuchenden mit Gesprächen per Telefon. Sie selbst vermisst Unterstützung und Rat für die nicht deutschsprachigen Familien. Besonders von Schulen und Ämtern wünscht sie sich mehr Hilfe. Große Unterstützung erfährt sie selbst allein durch ihre Familie, besonders durch ihren Mann. Der ist seit 1999 Chemnitzer und Unternehmer.

Auch Leila Abdullah wünscht sich mehr Unterstützung für diejenigen Chemnitzer*innen, die Deutsch nicht als Erstsprache sprechen. Bei ihrer täglichen Fahrt zur Arbeit hat sie seit Jahren viele komplizierte Situationen meistern müssen. Sie ist 2005 nach Chemnitz gezogen. Mit der Erziehung ihrer drei Kinder und ihrer Arbeit bei einer Reinigungsfirma war ihr Alltag immer ausgefüllt. Als Schwarze Frau und Muslima verfügt sie über eine außerordentliche Expertise im Umgang mit einer rassistischen Mehrheitsgesellschaft. Leila hat nie akzeptiert, dass sie und ihre Kinder Benachteiligungen aushalten müssen. Sie hat auch in direkter Konfrontation mit rassistischen Beleidigungen oder Bedrohungen nie aufgegeben. Doch seit 2015 ist es für sie immer schwerer geworden, sich in Chemnitz zu Hause zu fühlen. Seit ihre Kinder sich dem Schulabschluss nähern, hat sie oft über einen Neustart in einer anderen Stadt nachgedacht. Aber da sind auch ihre Freund*innen und Bekannten in der somalischen Community in Chemnitz, ihre Kolleg*innen und Nachbar*innen. Da sind die vielen Menschen, denen sie hilft und für die sie oft die einzige Vertraute ist, weil sie in Somalia Sozialarbeiterin war, weil sie gut Deutsch spricht, weil sie Schwarz ist, weil sie Mutter ist, weil sie auch Arabisch gut spricht und weil sie eine liberale Muslima ist. Doch jetzt, in der Zeit der sozialen Distanzierung, hat sie das Gefühl, noch mehr als sonst von der Chemnitzer Mehrheitsgesellschaft gemieden zu werden. „So mindestens drei Meter möchten sie zu mir Abstand haben. Sie geben mir noch viel mehr als vor Corona das Gefühl, hier nicht erwünscht zu sein, gar nicht hier sein zu dürfen.“ Leila kann auch hierbei noch lachen und sagt: „Mal sehen, wer mehr von diesem Abstand hat, zurzeit sitze ich da fast allein hinten im Bus, die anderen sind gedrängt vorn und versuchen nicht einmal, nach hinten zu kommen.“

Diese Krise, so heißt es oft in der öffentlichen Debatte, birgt viele Chancen für positive Veränderungen im Zusammenleben. Für die Wiederbelebung des sozialen Lebens danach werden systemrelevante Expert*innen besonders aus den migrantischen Milieus entscheidend für das Gelingen einer offenen und demokratischen Gesellschaft sein. Gerade in der Zeit der Krise wäre es klug, die Anerkennung der pädagogischen Berufsabschlüsse von Expert*innen aus dem Libanon, Syrien, Somalia, aus Osteuropa möglich zu machen. Larissa, Fatima, Leila sind bereit und fähig, ihre Berufe auch in Sachsen auszuüben.

Die Autor*innen Lisa Bendieck & Danilo Starosta sind Mitarbeiter*innen der Fachstelle Jugendhilfe Kulturbüro Sachsen e.V.