In Gruppen geht es leichter
Kolumnist*in:
Seit der letzten Bundestagswahl bekommen russischsprachige Menschen in Deutschland vor allem dann mediale Aufmerksamkeit, wenn es um das Erstarken der AfD geht. Über den Hang zum Konservativen bis hin zu rechtsradikalem Gedankengut unter Russlanddeutschen ist seitdem viel geschrieben und spekuliert worden. Jedoch bleiben die Analysen meist schwammig, da oft nicht mal trennscharf ausgemacht wird, wer diese „russischsprachige Community“ sein soll, wer in die Kategorie „Russlanddeutsche“ fällt und wie viele Generationen nach der Migration mitgezählt werden. Mit dem Blick auf rechte Strukturen innerhalb der Community geht für mich die Frage einher, warum Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion so selten Teil migrantischer Kämpfe in Deutschland waren und sind.
Als Kind blätterte ich manchmal durch das Mitteilungsblatt der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. (LmDR), das jeden Monat im Briefkasten meiner Oma steckte. Der Verein existiert seit 1950 und soll nach eigenen Angaben „Interessenvertretung, Hilfsorganisation und Kulturverein aller Russlanddeutschen“ sein. Seit siebzig Jahren trägt die Vereinszeitschrift den problematischen Titel „Volk auf dem Weg“ und dieser Name ist Programm.
Auf die Titelseite schaffen es die „Leistungsträger der russlanddeutschen Community“ – meistens Jugendliche, die bei internationalen Sportveranstaltungen Medaillen für Deutschland gewinnen. In den restlichen Rubriken geht es um weitere „Beispiele erfolgreicher Integration“ oder die „Geschichte der Volksgruppe“. Kinder in Folklorekostümen werden dabei abgelichtet, wie sie russlanddeutsche Lieder aus dem 18. Jahrhundert singen. Meistens heißen diese Veranstaltungen dann irgendwas mit „Heimat“. Mittlerweile hat die LmDR eine Homepage, auf der sie dafür wirbt, Teil der „landsmannschaftlichen Familie“ zu werden. Ich wollte ziemlich früh mit all dem nichts zu tun haben.
Große Teile der russischsprachigen Community mühen sich seit Jahrzehnten daran ab, dem Bild der „gut integrierten, weißen und christlichen Migrant*innen“ zu entsprechen. Sie spielen nach den Regeln der Dominanzgesellschaft, wenn es darum geht, „gute gegen schlechte Migrant*innen“ auszuspielen. Dabei machen sie mit unsichtbar, dass Migrationsgeschichten aus dem postsowjetischen Raum schon immer divers waren. Vor allem in den letzten Jahren stieg die Zahl Schutzsuchender aus Tschetschenien und auch in den 1990er-Jahren kamen Migrant*innen aus dem Südkaukasus und zentralasiatischen Ländern nach Deutschland. Nicht alle postsowjetischen Migrant*innen sind weiß und christlich und „im Osten“ gibt es nicht nur Russland, sondern eben ganz verschiedene Kontexte und Geschichten.
Die Generation meiner Eltern arbeitete meist an Fließbändern und Supermarktkassen – wie viele Migrant*innen – und schickten einen Teil ihrer geringen Einkommen an die Orte, aus denen sie migriert waren – wie viele Migrant*innen. Sie kamen in Auffanglagern an und lebten danach zunächst in Sozialbauwohnungen, Tür an Tür mit Menschen aus ganz verschiedenen Communitys, mit vielen Sprachen und Backgrounds. Warum gibt es aber keine gemeinsame Geschichte der Organisierung von Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion mit anderen migrantischen Gruppen?
Gastarbeiter*innen organisierten sich bereits in den Siebzigern gewerkschaftlich und bestreikten Betriebe, Ende der Achtzigerjahre entstand mit der Antifa Gençlik in Berlin und anderen deutschen Städten eine von Migrant*innen getragene Antifa-Bewegung, die migrantische Vereinskultur mit autonomer antifaschistischer Politik verband. Vielleicht waren auch PostOst-Migrant*innen Teil dieser Kämpfe, nur weniger öffentlich? Bei mir kam jedenfalls nur „Volk auf dem Weg“ an.
Erst seit dem letzten Jahr erlebe ich, wie Menschen, die aus der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa nach Deutschland migrierten, den #Migrantifa-Begriff für sich beanspruchen und mit verschiedenen Gruppen zusammenkommen, um Netzwerke der Solidarität aufzubauen. Vielleicht ist dieses für mich neue migrantische Selbstbewusstsein ein Privileg der zweiten Generation oder jener, die als Kinder nach Deutschland kamen? Die es satthaben, sich unsichtbar zu machen und sich anzupassen, und stattdessen laut sind und sich empowern.
Es ist wohltuend, in solchen Runden nicht bei Katharina der Großen anfangen zu müssen, wenn ich den Herkunftsort meiner Familie – Kasachstan – droppe und gleichzeitig Wasenmüller heiße. Es ist wohltuend, nicht erklären zu müssen, wo Kasachstan liegt, sondern stattdessen die Nachfrage zu bekommen: Wo genau war das Dorf? Man kann gemeinsam über die Grillpartys unserer Eltern in den Neunzigern und Nullerjahren lachen. Wie wir zuerst zu den Hits von Modern Talking und dann zu Verka Serduchka aus geöffneten Autotüren tanzten, wie vor den ersten gebrauchten Autos geposed wurde. Ich kann den Geruch von Schaschlik riechen und das Pfeifen des Samowars hören. Aber ich muss mich nicht erklären, warum ich irgendwann nicht mehr zu diesen Partys gegangen bin. Ich muss nicht erklären, wie das sein kann, russlanddeutsch und queer zu sein.
Der Zwiespalt zwischen nostalgischer Kindheitserinnerung, Abgrenzungsbedürfnis und gleichzeitigem Verantwortungsgefühl dafür, etwas gegen den Rechtsruck in unseren Familien und Communitys zu tun, ist schwer auszuhalten. In einer Gruppe geht es leichter.