Billie

Missy Magazine 06/20 - Filmrezis
(c) Prokino/Granger Historical Picture Archive / Alma Stock Photo / REP Documentary / Marina Amaral

„Das hatte ich noch nie gehört: eine Sängerin, die wie eine improvisierende Hornistin klang!“, schwärmt der weiße Musikproduzent John Hammond, der die 17-jährige Billie Holiday „entdeckte“ und ihr zur Karriere verhalf. So zu sehen in der Doku über die größte Jazzsängerin ever anhand von Videos, Fotos und Auszügen aus Interviews. Letztere hatte die Journalistin Linda Lipnack Kuehl für ein Buch zehn Jahre nach dem frühen Tod Holidays mit Künstler*innen wie Sarah Vaughan und Charles Mingus, aber auch mit Liebhaber*innen und Exzuhältern

der Jazzkönigin geführt. Lipnack Kuehl verstarb vor der Buchfertigstellung; ihr Leben wird als Parallelstrang in „Billie“ gezeigt, was wenig plausibel ist. Regisseur Erskine und sein Team gruben die Tapes aus, kombinierten Teile davon mit Sprachaufnahmen von Holiday und rollen so ein Leben auf, das zu Zeiten der Segregation in den USA null rosig war für die bisexuelle Schwarze, die sich zuerst nahm, was sie wollte, später jedoch einem Hang zu fiesen Ausbeutertypen und Drogen folgte, was die Doku fast genüsslich runterbetet. Aus ästhetischen Gründen ließ Erskine die Schwarz-Weiß-Aufnahmen nachkolorieren. Ob das Billie Holiday gefallen hätte, die anfangs auf Wunsch des Managements ihr Gesicht nachdunkeln musste, um nicht aus dem Count Basie Orchestra hervorzustechen? Hm. Klar ist die Doku trotz allem sehens- und hörenswert, kündet sie doch vom unsterblichen Charisma der großen Billie Holiday. Barbara Schulz 

Billie GB 2019. Regie: James Erskine. 96 Min., Start: 24.12.

Woman

Missy Magazine 06/20 - Filmrezis
© Daniel-Meyer-&-Stéphane-Azouze-Swaziland

Eigenlob stinkt ja bekanntlich, aber im Fall von „Woman“ muss es einfach einmal gesagt werden: Frauen erzählen die interessanteren Geschichten. Dies stellten zumindest Anastasia Mikova und Yann Arthus-Bertrand fest, als sie das Material für ihre Dokumentation „Human“ (2015) sammelten. Denn die Interviews mit Frauen gaben genug Stoff für einen eigenen Film her. Für „Woman“ haben die Regisseur*innen aus fünfzig Ländern rund zweitausend Menschen, die sich als Frauen identifizieren, interviewt, um daraus einen Dokumentarfilm zu machen. Frauen verschiedenster Herkünfte sprechen über Mutterschaft, Bildung, Sexualität und Ehe, aber auch über finanzielle Unabhängigkeit, Menstruation und häusliche Gewalt. Einige Geschichten bringen zum Lachen, einige machen wütend und fassungslos. Die Interviewten erzählen, was sie am Weiblichsein lieben, aber auch, was es manchmal so schwierig macht. Die teils intimen Anekdoten zeigen zwar ganz individuelle Geschichten, deuten aber gleichzeitig ein kollektives Schicksal an. Am Ende fühlt man sich den Mädels so nahe, dass man sich wünscht, mit ihnen in einer Whats- App-Gruppe zu sein und noch schnell „Gute Nacht“ in die Runde rufen zu können. Nicole Karczmarzyk

Woman FR 2020. Regie: Anastasia Mikova & Yann Arthus- Bertrand. 105 Min., Start: 12.11.

 

Rosas Hochzeit

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© Natxo Martínez / Höhne Presse

Alle zerren an Rosa: der in Trennung lebende Bruder, der Hilfe mit seinen Kindern braucht, der Vater, der nach dem Tod seiner Ehefrau bei Rosa einziehen möchte, ihre Tochter, die selbst vor Kurzem Mutter geworden ist und mit der Betreuung ihrer Zwillinge nicht klarkommt. Auch auf der Arbeit scheint ohne Rosa nichts zu funktionieren. Ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse bleiben da auf der Strecke. Kurz vor ihrem 45. Geburtstag reicht es ihr endgültig. Rosa beschließt: Ab sofort stellt sie sich in den Mittelpunkt, zieht nicht nur raus aus Valencia in einen kleinen Vorort – sondern heiratet auch einfach sich selbst! Diese Entscheidung ihrer Familie zu verklickern, ist allerdings nicht ganz einfach. Klar kann man dem Film von Icíar Bollaín (2004 für „Öffne meine Augen“ mit dem Goya ausgezeichnet) zum Vorwurf machen, dass hier eine Hochzeit im Mittelpunkt steht und als Befreiungsschlag gilt. „Rosas Hochzeit“ verkehrt aber auf so charmante Weise die Vorzeichen, dass es möglich ist, dies eher als Metapher zu lesen. Vor allem dank der großartigen Hauptdarstellerin Candela Peña, aber auch durch die Nebenfiguren wahrt der Film die Balance, ohne ins Melodram oder in den Kitsch abzurutschen. „Rosas Hochzeit“ ist eine leichtfüßige Komödie über eine dysfunktionale Familie, ohne großen Anspruch zwar – aber der Film will auch nichts anderes, als auf warme Weise zu unterhalten. Isabella Caldart

Rosas Hochzeit ES 2020. Regie: Icíar Bollaín. Mit: Candela Peña, Sergi López, Nathalie Poza, Paula Usero u. a., 97 Min., Start: 26.11.

 

Was geschah mit Bus 670?

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© FONDO PARA LA PRODUCCIÓN CINEMATOGRÁFICA DE CALIDAD, CORPULENTA PRODUCCIONES S.A. DE C.V., AVANTI PICTURES S.A. DE C.V., NEPHILIM PRODUCCIONES, ENAGUAS CINE S.A. DE C.V. – México / España 2020. All rights reserved

Seit zwei Monaten hat Magdalena (Mercedes Hernández) nichts von ihrem Sohn Jesús gehört. In der Hoffnung auf ein besseres Leben hat er sich in Richtung Grenze zu den USA aufgemacht. Jetzt ist die Leiche seines Begleiters aufgetaucht, von Jesús selbst fehlt jede Spur. Magdalena beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. An einer Art Leichendeponie trifft sie eine Frau, die sie bestärkt, die Suche fortzusetzen. Und so kommt Magdalena der berüchtigten Todeszone Nordmexikos und auch der Wahrheit über ihren Sohn Stück für Stück näher. Die Zuschauerin weiß nicht mehr, versteht nicht mehr vom Chaos der Gegenwart als die, deren Wege sie verfolgt. Manchmal nimmt die Kamera die Perspektive der Figuren ein: Der Sohn dreht sich zum Abschied um. Ein nächtliches Massaker bleibt so verschwommen, wie der alte Mann es wahrgenommen hat. Während die Zuschauerin Magdalena bei ihrer Suche nach Sinn und Zusammenhang begleitet, entsteht ein Sog der Landschaften und Bilder. Fernanda Valadez’ Debüt ist ein filmisch kompromissloses und kraftvolles Roadmovie und zugleich eine zutiefst menschliche Erzählung über Perspektivlosigkeit. Die Autorin und Regisseurin konfrontiert uns mit apokalyptischen Zuständen, auch mit unserer Ignoranz und Bequemlichkeit. Der Film (im Originaltitel „Sin Señas Particulares“) wurde beim Sundance-Filmfestival mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Anna Opel

Was geschah mit Bus 670? MEX/ES 2020. Regie: Fernanda Valadez. Mit: Mercedes Hernández, David Illescas, Juan Jesús Varela u. a., 97 Min., Start: 26.11.

 

Mary Bauermeister. Eins plus Eins ist Drei.

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(c) déjà-vu film

Köln, Lintgasse 28, eine Dachgeschosswohnung: Das Atelier Bauermeister
war 1960 ein Ort der Experimente. Türhüterin Mary Bauermeister beeinflusste die politische Kunstrichtung Fluxus zusammen mit Künstler*innen
wie Joseph Beuys, John Cage und Nam June Paik. Geprägt von einer
Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg werden hier Werte und Lebensentwürfe hinterfragt, voller Optimismus, es besser machen zu können. Fast
sechzig Jahre später blickt die Dokumentation von Carmen Belaschk auf
das Leben einer Frau, die nicht nur Partnerin von Karlheinz Stockhausen
war, sondern selbst Künstlerin ist. Behutsame Filmaufnahmen lassen in
die Realität eines Menschen blicken, der einerseits Faszination für die
Erosion des eigenen Körpers gefunden hat, andererseits immer noch
rastlos ist. Ein „Mal schauen, ob ich das noch fertig kriege“ begleitet
die hell gehaltenen Bilder, kosmische Musik hallt im Hintergrund. Eingespielte Animationen und Fernsehmitschnitte aus einer anderen Zeit
rahmen den Weg der Macherin. Beängstigend intim schwappt dabei das
Spannungsfeld Künstlerin- und Muttersein über den Bildschirm: „Ich
war sicher keine gute Mutter, aber so gut ich konnte, war ich eine.“ Das
feinfühlige Porträt einer Frau, die sich entzieht und dadurch brilliert.
Sarah Kailuweit

Mary Bauermeister. Eins plus Eins ist Drei DE 2020. Regie: Carmen Belaschk. 102 Min., Start: 14.01

Ein bisschen bleiben wir noch

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(c) 2020 Film Kino Text

Als Adaption des Romans „Oskar und Lilli“ von Monika Helfer erzählt „Ein bisschen bleiben wir noch“ die Geschichte einer aus Tschetschenien nach Österreich geflüchteten Familie in all ihren Facetten. Nach dem Suizidversuch der Mutter fokussiert sich die Geschichte in einer dualen Erzählweise auf die beiden Geschwister Lilli und Oskar, die mit Rosa Zant und Leopold Pallua herausragend besetzt sind. Beide Handlungsstränge porträtieren nicht nur die Kinder detailliert, sondern auch ihre teils bizarren Pflegefamilien. Dabei inszeniert Regisseur Arash T. Riahi das Narrativ auf Makro- und Mikroebene: Während die große Sehnsucht nach der eigenen Familie der Protagonist*innen mit symbolischer Finesse und einer unverblümten Bildsprache eingefangen wird, klagt der Film zudem das obskure zentraleuropäische System an, das vollwertige Individuen gewaltvoll in artifizielle Modelle zwängt und sich dafür noch auf die Schultern klopft. Der mehrfach ausgezeichnete Riahi, der selbst mit seiner Familie aus dem Iran geflüchtet war, hat bereits zuvor filmisch seine eigene, aber auch Geschichten anderer Geflüchteter aufgearbeitet. Mit „Ein bisschen bleiben wir noch“ gelingt ihm nun ein Drama, das eiskalt aufschreckt, machtlos gegen die Wand schlägt – und doch auch wohlig in den Arm nimmt. Julia Köhler

Ein bisschen bleiben wir noch AT 2020. Regie: Arash T. Riahi. Mit: Leopold Pallua, Rosa Zant, Anna Fenderl, Christine Ostermayer u. a., 102 Min., Start: 03.12.

 

Bis an die Grenze

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Anne Fontaines Drama „Bis an die Grenze“, das auf dem Roman „Die Polizisten “ von Hugo Boris beruht, begleitet drei Polizist*innen durch ihren nicht besonders freudvollen privaten und von psychisch belastenden Einsätzen begleiteten beruflichen Alltag. Jede*r von ihnen bekommt ein eigenes Kapitel, in dem ein bestimmter Tag ihres Lebens zunächst aus ihrer jeweiligen Sicht dargestellt wird. So weit, so noch in Ordnung. Doch dann bekommen der unter Panikattacken leidende Aristide (Omar
Sy), die ungewollt von ihm schwangere, verheiratete Virginie (Virginie
Efira) und Erik (Grégory Gadebois), dessen Ehe die Hölle ist, den Auftrag,
einen tadschikischen Abschiebehäftling zum Flughafen zu begleiten. Tohirov bekommt zwar auch ein eigenes Kapitelchen, jedoch erfahren die
Zuschauer*innen in diesem so gut wie nichts über ihn. Das ändert sich im
Verlauf des Films auch nicht, denn Tohirov spricht nur seine eigene Sprache.
Untertitel? Fehlanzeige. Als die Flics begreifen, dass Tohirov in seinem
Land der sichere Tod blüht, bekommen sie doch tatsächlich Zweifel, ob sie
ihn ausliefern sollen. Ihrem moralischen Dilemma widmet Fontaine ihre
ganze Aufmerksamkeit. In einer Zeit, in der wir permanent wegschauen und
Menschen auf dem Meer und in Lagern einfach grausam ihrem Schicksal
überlassen, lässt ein Film, in dem ein Geflüchteter ohne Geschichte lediglich als moralische Feuerprobe für Europäer*innen herhält, einfach nur
fassungslos zurück. Gaby Summen

Bis an die Grenze FR 2020. Regie: Anne Fontaine. Mit: Virginie Efira, Omar Sy, Grégory Gadebois u. a., 98 Min., Start: 10.12

 

Morgen gehört uns

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(c) mm filmpresse

Greta Thunberg, Malala Yousafzai, Emma González sind bekannte Namen junger Menschen, die sich vehement gegen die Klimakatastrophe, für Menschenrechte oder verschärfte Waffengesetze einsetzen. Doch sie sind nicht die Einzigen. Die Doku „Morgen gehört uns“ zeigt: Vor allem jüngere Generationen wollen die Welt verbessern. Während in Deutschland noch darüber diskutiert wird, ob 16-Jährige reif genug seien, um zu wählen, beweisen diese Kinder und Jugendlichen, welche Verantwortung sie bereits in jungen Jahren zu schultern bereit sind. Erzählt wird die Doku anhand des Engagements von José Adolfo Quisocala Condori aus Peru, der 2018 im Alter von 13 in Stockholm mit dem Children’s Climate Prize ausgezeichnet wurde für die Gründung einer Umweltbank, bei der Schüler*innen recycelten Müll in Geld umwandeln können. Eingeblendet werden die Storys anderer Kids aus etwa Neu-Delhi, Los Angeles, Bolivien, Frankreich oder Guinea, die die sich für Umweltschutz, gegen Kinderarbeit, -ehe oder Obdachlosigkeit einsetzen, entweder organisiert oder (mithilfe der Eltern) im Alleingang. Leider bleibt „Morgen gehört uns“ an der Oberfläche, Hintergründe werden zu wenig beleuchtet, Zweifel kaum thematisiert. Ebenso wenig gelingt es der Doku, auf eine gehörige Portion Kitsch zu verzichten. Es ist ein bewusst positiver Film über inspirierende Kinder und Jugendliche, der trotz düsterer Zukunftsprognosen Hoffnung auf Veränderung und eine bessere Welt macht. Isabella Caldart

Morgen gehört uns FR 2019. Regie: Gilles de Maistre. 84 Min., Start: 03.12.

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 06/20.