Warum ist es eigentlich so furchtbar, zum Arzt zu gehen? Mein Herz rast, während ich auf dem Weg bin. Wenn ich „Ärzt:innen“ sage, schreibe oder denke, habe ich weniger das Gefühl, auf dem Weg zu dieser Instanz zu sein, die in mir Angst, Stress, Scham und das Gefühl des Scheiterns auslöst. Ich habe eher das Gefühl, konkrete Personen zu meinen. Für den Moment hilft das ein wenig gegen die Panik vor dem Akt des „Zum-Arzt-Gehen“.  Kurz, ein bisschen, bis mir klar wird, warum ich Angst habe.

Auf dem Weg in die Praxis – egal, welche Praxis – spüre ich, wie meine Hände feucht werden, mein Herz rast, ich versuche, mich zu erinnern, was ich dort will, brauche, was ich ansprechen muss, worauf ich Antworten benötige. Ich schreibe Listen, weil ich mich daran festhalten kann, innerlich darauf bestehen kann, dass was ich brauche auf diesem Zettel steht. Ich komme zur Praxistür herein und spüre, wie sich meine Körperhaltung verändert, ich werde devot, meine Stimme verpasst alle Töne. Ich habe keine Angst vor Praxen oder dem Geruch. Ich habe Angst vor Ärzt:innen. Keine Phobie, nichts Irrationales (nicht dass Phobien irrational sind), sondern eine tief erschütternde Angst aus Erfahrung. Das ist der Moment, in dem cis Männer meistens die Augen verdrehen und verständnislos sagen: „Na such dir halt nen anderen Arzt.“ Das ist der Moment, in dem weiße privilegierte Menschen rhetorisch fragen: „Wer geht schon gerne zum Arzt?“ Das ist der Moment, in dem ich noch ein Stück innerlich einbreche. Dies sind die gleichen Menschen, die auf der anderen Seite des Tisches in der Praxis sitzen und nicht verstehen, mit welcher Macht und welchen Folgen sie Menschen wie mich bis zur Erniedrigung (nicht) behandeln. Ich rede nicht von einer Person, nicht von einer Praxis. Ich habe mir nicht ein, zwei Mal schlechte Ärzt:innen ausgesucht. Ich spreche von einem System der absoluten Hilflosigkeit, weil bestimmte Personengruppen im medizinischen Sektor im Stich gelassen werden.

© Tine Fetz

Was wollen Sie von mir?

Der Arzt schaut mich an. Er lacht überheblich und sagt: „Joa dumm gelaufen, würd ich sagen.“ Er hat mir abschätzig zu verstehen gegeben, dass er nicht nachvollziehen könne, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass ich im Rollstuhl sitze. Er fragt mich unangenehm gereizt, warum ich mich nicht vorher gekümmert habe. Ich sage, das hätte ich. „Wie Sie sehen, war ich bereits im März im Krankenhaus und wurde dann ohne Behandlung einfach entlassen.“ Ich sage, dass, als alles anfing auszusetzen, ich wieder hin bin, Not-OP, Reha und jetzt bin ich hier. Was ich denn von ihm wolle. Ich bin verwirrt über die aggressive Frage. Ich antworte: „In der Reha wurde mir gesagt, dass ich mir für die Weiterbehandlung eine neurologische Praxis suchen soll. Und ich wüsste gerne, wie es jetzt weitergeht. Er: „Wie es jetzt weitergeht? Was soll ich denn da jetzt noch machen? Jetzt sind Se ja schon im Rollstuhl.“ Sprechstunde beendet.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Der Arzt, der mir absolut herabwürdigend begegnet ist, weil er nicht nachvollziehen kann, wie jemand (ich) in so einer Situation angeblich nicht reagiert, und mir wiederholt unterstellt, dass mit MIR etwas nicht stimmt, der sich nicht vorstellen kann, dass man nicht weiß, wo man Hilfe bekommen soll, nachdem das Krankenhaus einen einfach mit Morphium vor die Tür gesetzt hat, setzt mich unbehandelt vor die Tür. Was ich von ihm will … Ich fühle mich lächerlich, weil er ja recht hat: Ich bin  schon querschnittsgelähmt und ich schäme mich, dort gewesen zu sein.

Ein Beispiel, aber kein Einzelfall.

Die Wahrheit ist, ich bin nicht erneut zum Arzt, weil ich in all den Jahren mit meiner Erkrankung gelernt habe, dass rechtzeitig zu früh ist. Ich kenne meinen Körper, ich weiß, wann es brenzlig wird, aber all die Male, die ich rechtzeitig Ärzt:innen aufgesucht habe, wurde ich nicht behandelt, wurde ich mit „haben Sie kein Ibuprofen?“ wieder weggeschickt, weil ich, meine Schmerzen, mein Wissen darum, was gerade mit meinem Körper passiert, nicht ernst genommen wurden. Erst in dem Moment der Eskalation, wenn operiert werden muss, Körperteile die Funktion einstellen, wenn es eigentlich zu spät ist, reagieren Ärzt:innen. Aber nicht ohne mir vorzuhalten, dass es eben genau das ist: zu spät. Verachtung, Wut, Unverständnis hageln auf mich ein und immer wieder die Mitteilung, wie unverantwortlich, faul oder dumm es sei, dass ich erst jetzt reagiere – mal im Subtext, am liebsten sehr offen. Jedes Mal nimmt mein Körper mehr Schaden, weil fast jede Eskalation bedeutet, dass ich Körperfunktionen einbüße.

Der Umstand, dass mein Körper inzwischen so sehr gezeichnet ist von all diesen Zu-Späts, öffnet keine Augen oder Behandlungsräume und sicher kein Interesse an einem Rechtzeitig. Es bleibt: ohne Eskalation keine Hilfe. Denn die Zu-Späts, die meinen Körper zeichnen, sind für die meisten Ärzt:innen vor allem Zeugnisse MEINES Versagens. So oft sitzen sie vor mir, erzürnt, verständnislos , während ich sie anflehe, mir zu helfen, um dann, ist der Notfall erst einmal überstanden, zwar an Erniedrigung reicher, aber ohne weitere Versorgung, aus der Praxis zu fahren. Denn nach Zeter und Mordio folgt in der Regel das Ende der Behandlungszeit. Wut ist keine Wunderkur.

Ein hoffnungsloser Fall

Es ist, als sei ich so kaputt, dass sich die Reparatur nicht mehr lohnt, und Ärzt:innen daher vollkommen irritiert sind, dass ich sie überhaupt noch mit mir behellige. So überkommt mich schon bei der Terminvereinbarung die reine Scham. Montag 10:40 Uhr – geplante Verschwendung medizinischer Zeit. Kann doch eh niemand was tun – egal, ob Husten oder Querschnittslähmung.

Auch deswegen finden meine Freundin und ich uns bei Krankheit im immer gleichen Dialog wieder. Sie sagt „geh zur Ärztin“ und ich bin jedes Mal verwirrt. „Aber was soll die machen?“ Ihre pragmatische Antwort: „Das weiß ich nicht, ich bin keine Ärztin“ scheint erst mal logisch, aber die Erfahrung lehrt mich, dass etwas auf den Zettel muss, sonst kann ich die wichtigste Frage nicht beantworten: „Und was kann ich da für Sie tun?“

Ich möchte jedes Mal im Boden versinken – dieses beschämende Gefühl nach der Beschreibung meiner Beschwerden von Ärzt:innen diese Frage zu hören. Helfen. Ich weiß nicht, warum ich oder überhaupt irgendwer Leiden aushalten muss und nicht der erste Impuls ist, Lösungen für Linderung zu finden. Warum scheint es, als wäre es das Los der:des Erkrankten, sich seinem Schicksal zu ergeben, wenn diese nicht selbst Wege der Behandlung vorschlagen. Und gleichzeitig: vorsichtig mit dem Vorschlagen, denn wie wir alle wissen, sind Menschen, die über den eigenen Körper, die eigene Erkrankung oder Behandlungsmöglichkeiten zu gut informiert sind, eindeutig nicht behandlungsbedürftig, sondern hypochondrisch (sic!).

Einfach fordern

Wenn ich mich zu meiner Hilflosigkeit nicht behandelt zu werden, oft schlecht oder gar nicht informiert zu sein äußere, erlebe ich oft, dass Menschen, vor allem cis Männer und ausschließlich wc-Deutsche*, sagen, ich solle einfach fordern, dass ich behandelt werde. Bleiben, bis mir geholfen wird. Mich durchsetzen. Fakt ist: Es gibt keinen Weg, Ärzt:innen mal eben zu zwingen, jemanden zu behandeln. Sehr vehement zu insistieren bedeutet vor allem erst recht nicht oder mit Sicherheit schlecht behandelt zu werden. Was als wc-deutscher cis Mann funktionieren kann – nämlich zu fordern –, funktioniert bekanntlich für alle anderen eher selten – z. B. für mich als marginalisierte Frau – und hat meistens den gegenteiligen Effekt. Aber vor allem ist es genau die gleiche ignorante Haltung, die von all den ungläubigen Ärzt:innen kommt, die mich dann am Ende selbst nicht behandeln.

Ich bin schuld

Vor Kurzem bin ich dazu übergegangen, im Gespräch mit Ärzt:innen die Schuld für alles, was mit und an meinem Körper nicht funktioniert, auf mich zu nehmen. Ich bin daran schuld, dass ich im Rollstuhl sitze, ich bin daran schuld, dass ich eine Lungenentzündung habe, ich bin daran schuld an egal weswegen ich da bin. Ich nehme es auf mich, in christlicher (mit Sicherheit nicht jüdischer) Demut. Denn wenn ich das tue, wenn ich zu Beginn die Schuld auf mich nehme, nehme ich einen Großteil der ärztlichen Schelte vorweg und manchmal führt das dazu, dass zumindest Zeit bleibt, um mein Anliegen unterzubringen. Und weil ich meine Schuld einsehe, ist man manchmal sogar gewillt, mir zu helfen. Ich erniedrige mich selbst, um Hilfe zu bekommen. Helfe dabei, mich zu erniedrigen, nehme einen Teil der Erniedrigungsarbeit ab, aus lauter Verzweiflung und Hilflosigkeit, weil ich mir keine weiteren Eskalationen mehr leisten kann. Weil mein Körper am Rande des Ertragbaren ist. Weil ich die Schelte für etwas, das ich noch viel weniger will als mein Gegenüber und deren fatale Folgen ICH tragen muss, nicht mehr ertrage. Jedes Mal, wenn ich sage „ich bin schuld“, merke ich, wie ich in mich zusammenfalle und anfange, mir selbst zu glauben, was noch schlimmer ist, als Ärzt:innen zu glauben, dass ich der Fehler sei. Jedes Mal verrate ich mich selbst und ich habe Angst, irgendwann zu vergessen, dass ich das tue, damit ich Hilfe bekomme, und stattdessen denke, ich hätte sie gar nicht erst verdient.

*“wc“= weiß und christlich (sozialisiert)