Was soll ich meinem Bruder sagen?
Von
Von: Tuana Aynal
Am 19.02.2020 wurden neun Menschen im Zuge eines rassistischen Anschlags in Hanau ermordet. Das Gedicht „Was soll ich meinem Bruder sagen“ entstand nicht aus mit dem Anspruch dem Schmerz oder dessen politischer Bedeutung gerecht zu werden. Mit von Rassismus betroffenen Freund*innen sprach ich viel über diesen Schmerz. Der Versuch ihn greifbar zu machen, gelang selten. In Gesprächen mit anderen Freund*innen und Bekannten kamen viele Fragen über das politische und gesellschaftliche Ausmaß des Anschlags auf. Dessen Beantwortung wurde ich schnell müde.
Was am Ende übrig blieb war Angst: Persönliche, dadurch nicht minder politische Angst um meinen kleinen Bruder. Mit ihm sprach ich damals über keines der oben genannten Dinge. Ich wusste nicht, was und wie ich mit ihm sprechen sollte. Dieses Gedicht ist der Versuch das scheinbar Unaussprechliche auszusprechen.
Ferhat Unvar
Mercedes Kierpacz
Sedat Gürbüz
Gökhan Gültekin
Hamza Kurtović
Kaloyan Velkov
Vili Viorel Păun
Said Nesar Hashemi
Fatih Saraçoğlu
Sagt ihre Namen!
Was soll ich meinem Bruder sagen?
Geh‘ nicht auf die Straße raus. Zumindest nicht alleine.
Sprich dieses Wort anders aus. Du weißt schon was ich meine!
Ich laufe mit beim Trauermarsch. Man kannte sich um Ecken.
So ist das bei uns Ausländern, die hier durch euch verrecken.
Wofür sie gestorben sind, ist keine meiner Fragen.
Was soll ich meinem Bruder sagen?
Du bist noch ein kleines Kind, aber alt genug.
Sag, dass du erst fünfzehn bist. Lächel‘ ihnen ins Gesicht.
Aber lache nicht zu laut. Sonst hört dich noch der Falsche!
Ich weine mit beim Trauermarsch. Man kannte sich um Ecken.
Deutschland grade hass‘ ich Dich, und zwar ums Verrecken.
In meinem Kopf zähle ich mit.
Die Namen meiner Freund*innen, die immer was zu sagen haben.
Außer in den letzten Tagen.
Hey Anja, meine Liebe. Warst du nicht die, die sagte
Privates ist Politisches.
Ich frage dich: Wo bist du jetzt?
Ich nehme das persönlich. Ihr habt mitgemordet.
Jede*r der die Fresse hält ist ein Attentäter.
Und sag mir bloß nicht ins Gesicht, dass du auch betroffen bist.
Privates ist Politisches. Du hast mitgemordet.
Ich schreie mit beim Trauermarsch. Und ich bin nicht alleine.
Wir sind wütend wir sind da. Ihr wisst schon, was ich meine.
Wir sind furchtlos, wir sind stark.
Ich sehe meinen Bruder an und nehme ihn zur Seite
Canım kardeşim,
Asla korkmayacaksın
Biz burdayız, biz çokuz.
Sesini yükselteceksin.
Katillerin yüzüne
sen tüküreceksin!
Eğer korku seni yakalarsa, daha sesli bağıracaksın!
Emin ol, canımın içi
Bizimkilerden birisi, seni duyacaktır
Das Gedicht „Was soll ich meinem Bruder sagen“ erscheint am 19. Februar im Sammelband „Texte nach Hanau“ herausgegeben von „Stolzeaugen.books“. Stolzeaugen.books ist Deutschlands erste BiPoC-Verlagsgesellschaft. Sie bieten Menschen, die durch Rassismus diskriminiert werden, eine Stimme. Das Kernteam der Verlagsgesellschaft Stolzeaugen.books UG besteht ausschließlich aus MIRE (MIRE=Menschen mit Intersektionalitäts- und Rassismuserfahrung). Gesellschafter*in ist Holla e.V., das Zentrum für intersektionale Gesundheit, in Köln. Die Gründungskosten wurden von einem internationalen Preis für rassismuskritische Mädchenarbeit, den Holla in 2020 erhalten hat, beglichen.
Tuana Aynal ist in Frankfurt am Main geboren und wuchs abwechselnd in Frankfurt und in Istanbul am Bosporus auf. Schon damals fragte sie sich: Was bedeutete Deutsch-Sein und war sie es? Sie sollte sich entscheiden – so wie bei der Staatsbürger*innenschaft: Frankfurt oder Istanbul – Deutschland oder Türkei? Heute studiert und lebt sie in Berlin und thematisiert Fragen zur Identität in der Uni, in Gesprächen und in Gedichten.