Missy Magazine 02/21, Literaturrezis, Wie die Gorillas

Wie die Gorillas
Haare, die aus allen Körperteilen sprießen, Pickel, Übergewicht – das Verhältnis zum eigenen Körper und den Körpern anderer ist ein Thema, das zu umschreiben oft schwerfällt. Es ist peinlich, fühlt sich falsch an – so, als sollten diese Dinge nicht ausgesprochen, vielleicht nicht einmal gedacht werden. Esther Becker hat sie aufgeschrieben und erzählt pointiert mit dezentem Humor eine Geschichte, die vielen jungen Frauen längst bekannt ist: Der gesellschaftliche Druck, der auf ihnen lastet, zieht sich qualvoll durch alle Aspekte ihres Lebens. In ihrem Debütroman beweist Esther Becker einen außergewöhnlichen Blick auf Menschen und ihre Unsicherheiten. „Wie die Gorillas“ liest sich wie ein Gedankenfluss, es plätschert und springt zwischen Orten, Personen und Gefühlen. Was ziellos scheint, führt den*die Leser*in geradewegs durch das frühe Leben der Protagonistin – von den Ängsten der frühen Pubertät bis zur zaghaften Selbstfindung des jungen Erwachsenenalters, von Dingen, die Mädchen nicht erlaubt sind, zu Dingen, die von Frauen erwartet werden. Fühlt man sich beim Lesen zuweilen ertappt oder schmerzlich erinnert, so beruhigt es umso mehr, seine eigenen Zweifel abgebildet zu sehen. Sind die Erzählungen von Unsicherheit und Selbsthass zeitweise schwer zu ertragen, so versöhnen uns die kleinen Momente weiblicher Solidarität und Freundschaft. Was bleibt, ist die Wut, dass wohl noch weitere Generationen junger Frauen diesen anstrengenden Kampf kämpfen werden müssen, und die Hoffnung, dass Beckers Zeilen es für einige von ihnen ein wenig leichter machen. Ida Schelenz

Esther Becker „Wie die Gorillas“ Verbrecher Verlag, 160 S., 19 Euro

 

 

Missy Magazine 02/21, Literaturrezis, Im Park der prächtigen Schwestern

Im Park der prächtigen Schwestern
Die junge trans Frau Camila zieht es im Roman der argentinischen Autorin Camila Sosa Villada zum Studium und für mehr Freiheiten in die Stadt Córdoba. Erdrückend war ihr Leben in der Provinz, stigmatisiert und ausgegrenzt, selbst von der eigenen Familie. „Im Park der prächtigen Schwestern“ geht sie nachts anschaffen und findet eine Wahlfamilie aus Sexarbeiter*innen. Als im Dickicht des Parks ein Baby gefunden wird, rückt diese Wahlfamilie noch enger zusammen. Doch die Solidarität zwischen den trans Frauen wird zunehmend brüchig, während sie versuchen, trotz sexueller Gewalt, Transfeindlichkeit und HIV-Infektionen zu überleben. Der Roman knüpft an die latein- amerikanische Tradition des magischen Realismus an und verwebt indigene Magie mit christlichem Volksglauben. Der Bezug auf die Defunta Correa, eine von der katholischen Kirche nicht anerkannte Heilige, deren Brust selbst nach ihrem Tod ihren Säugling ernährt, ermöglicht Sosa Villada, ideale Weiblichkeitsvorstellungen zu hinterfragen. Im märchenhaften Stil kann sie von einer Vielzahl von Transformationen erzählen, ob von einem Geschlecht zum anderen oder gar zu einer Vogelfrau. Manche dieser Verwandlungen geschehen unfreiwillig und allmählich, andere sind hart erkämpft. Holle Barbara Zoz

Camila Sosa Villada „Im Park der prächtigen Schwestern“ Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp, 220 S., 14,95 Euro

 

 

Missy Magazine 02/21, Literaturrezis, Du bist dran

Du bist dran
Innerhalb kürzester Zeit verflechten sich die drei Erzählperspektiven in „Du bist dran“ zu einem festen Tau, das ordentlich an gesellschaftlichen Normen rüttelt. Dafür holt Mieze Medusa drei Protagonist*innen auf die Bühne, die unterschiedlicher nicht sein könnten. So gewinnt der Roman nicht nur auf Handlungs-, sondern auch auf Erzählebene eine erfrischende trilaterale Struktur. Während die Storyline des ITlers Eduard mit einer finsteren „GRM“-Ästhetik kokettiert, wirft jene der jungen Agnesa nämlich mit Popkulturreferenzen um sich und die 69-jährige Felicitas zitiert akademische Werke rund um Feminismus und linkes Gedankengut. Aufgesetzt oder willkürlich wirken die Handlungsstränge dank diegetischer Zusammenhänge und Mieze Medusas ausgeprägtem Feingefühl für das Schaffen von Intimität jedoch nicht. Diesen Welten kreierenden Umgang mit Sprache konnte die Autorin neben ihren Prosatexten als erfolgreiche Slammerin und Rapperin längst beweisen. In „Du bist dran“ begleiten die Leser*innen nun Eduard, Felicitas und Agnesa auf sehr gegensätzlichen Pfaden, begegnen der Angst vorm Altern, vorm eigenen Körper, vor digitaler Überwachung. Doch am Ende eint die Außenseiter*innen mehr, als man vermuten möchte: die Suche nach dem eigenen Platz in dieser hochkomplexen Welt. Julia Köhler

Mieze Medusa „Du bist dran“ Residenz Verlag, 256 S., 22 Euro

 

 

Missy Magazine 02/21, Literaturrezis, Mars

Mars
Künstliche Intelligenz, Sehnsucht, Flucht, Klone, Verbannung und immer wieder das Schreiben und der Tod – all das verbindet Asja Bakić in „Mars“ zu einem grotesken, irritierenden und vollkommen einnehmenden Werk, welches zwar schon 2015 erschien, nun aber erst aus dem Kroatischen übersetzt wurde. In ihren Erzählungen lässt uns Bakić immer wieder in die abstrusen Gedankenwelten ihrer Protagonistinnen eintauchen, die sich in ihrer Absonderlichkeit gefühlt von Geschichte zu Geschichte steigern. So trifft die erste Protagonistin nach ihrem Tod auf zwei Sekretärinnen, die sie zum Schreiben zwingen, um wieder lebendig zu werden. Ein anderes Mal treffen zwei Mörderinnen aufeinander, versuchen Klone ihrem Erschaffer zu entkommen oder erkennt eine Schriftstellerin nicht, wer sie verehrt. In einer weiteren Geschichte bleibt es unklar, ob es sich einfach nur um eine merkwürdige Ménage- à-trois oder doch um Kannibalismus handelt. Immer wieder scheint die Handlung in eine Richtung zu gehen, nur um kurz vor dem Ende eine komplette Kehrtwende zu vollziehen. Auf jeder Seite merkt man, wie sehr Bakić es liebt, die Lesenden in die Irre zu führen. „Mars“ ist ein feiner, kleiner, fieser Band voller böser Kurzgeschichten, die einmal das Gehirn durchspülen. Ava Weis

Asja Bakić „Mars“ Aus dem Kroatischen von Alida Bremer. Verbrecher Verlag, 160 S.,
20 Euro

 

 

Missy Magazine 02/21, Literaturrezis, Mädchen, Frau etc.

Mädchen, Frau etc.
Weibliche und ganz besonders Schwarze Literat*innen werden schnell gefragt, ob ihre Werke autobiografisch seien oder sogar ob ihre Geschichten alle (Schwarzen) Frauen repräsentieren. Bernardine Evaristo gibt in ihrem achten Roman eine Antwort auf diese Beleidigungen, indem sie ein ganzes Kaleidoskop an Lebensverläufen Schwarzer Frauen in Großbritannien entwirft: Schauspieler*innen wie Amma und Dominique, die immer nur für Rollen als Hausangestellte, Kriminelle oder Prostituierte vorsprechen konnten. Generationskonflikte zwischen der peinlichen Mum Amma und ihrer Tochter Yazz, die findet, dass Mums „Frauenpolitik“ demnächst überflüssig sein wird, weil irgendwann eh alle nicht-binär sein werden. Dann noch einmal Dominique, Ammas Freundin aus wilden Theatertagen, die zu ihrer abstinenten, veganen, radikalfeministischen Lebensgefährtin in die USA zieht. Außerdem Carole, Bummi, LaTisha, Shirley, insgesamt zwölf Frauen, die sich untereinander kennen oder auch nicht – die vielleicht nur zufällig alle bei der Premiere von Ammas Theaterstück auftauchen. Jede Figur hat ein eigenes Kapitel erhalten, und jedes Kapitel bietet eine eigene Sprache, überraschende Lebensentscheidungen und Wendungen, während ganze Jahrzehnte vorüberziehen – ein umwerfendes Buch! Sylvia Köchl

Bernardine Evaristo „Mädchen, Frau etc.“ Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen, 512 S., 25°Euro

 

 

Missy Magazine 02/21, Literaturrezis,Kleine Fluchten

Kleine Fluchten
Die französische Künstlerin und Autorin Carole Fives legt mit „Kleine Fluchten“ erneut einen Kurzroman vor. Diesmal folgen wir einer allein- erziehenden Mutter durch ihren Alltag. Die Tage der Frau sind vor allem eines: frustrierend und nervenaufreibend. Geldsorgen, Überforderung, Einsamkeit – Probleme, die vielen Eltern bekannt sein dürften. „Die Mutter“ und „das Kind“ hangeln sich durch die Tage, die alle gleich sind und dementsprechend verschwimmen. Doch die Zeit vergeht: Das Kind bekommt einen Betreuungsplatz, die selbstständige Mutter neue Aufträge. Was gleich bleibt: Das Kind fragt unentwegt nach seinem Vater. Damit scheint sich die Mutter, die ausschließlich über diese Rolle benannt wird, mit so ziemlich allen Schwierigkeiten herumzuschlagen, die im Kontext von Familie auftauchen können. Irgendwann droht sogar die Pfändung. Die Leser*innen werden Zeug*innen dieses Scheiterns, von dem schnell klar ist, wer die Schuld daran trägt: Nicht die Mutter selbst, sondern eine Gesellschaft, in der Mütter von den Vätern der Kinder, ihrem Umfeld und dem Staat oft alleingelassen werden. Für alle, die von diesen Problemen wissen, bietet die Lektüre wenig Neues. Die nächtlichen Fluchten der Mutter aus der Wohnung gehen genauso emotionslos vorüber wie die täglichen Katastrophen. Mutter und Kind bleiben die Schablonen eines strukturellen Versagens. Linn Penelope Micklitz

Carole Fives „Kleine Fluchten“ Aus dem Französischen von Anne Braun. Zsolnay, 144 S., 19 Euro

 

 

Missy Magazine 02/21, Literaturrezis, Versprechen kann ich nichts

Versprechen kann ich nichts
Elisabetta Maiorano unterrichtet in einem Jugendgefängnis in Neapel Mathematik. Vor drei Jahren ist ihr Mann plötzlich verstorben und seitdem schließt sie tagtäglich ihre Einsamkeit und Trauer gemeinsam mit ihren Sachen in den Spind, bevor sie das Gefängnis betritt. Die Arbeit dort hat ihr, die sich so mutterseelenallein fühlt, das Leben gerettet. In dieser Stadt vor der Stadt kann sie sich von dem zermürbenden Leben, das ihr zugefallen ist, für einige Stunden befreien. Die Ankunft der 16-jährigen Rumänin Almarina gibt den beiden Biografien eine neue Wendung. Schritt für Schritt lässt Elisabetta die Trauer hinter sich und öffnet sich, aber auch Almarina schließt ihre Lehrerin ins Herz. Denn auch sie hat bereits sehr viel Leid erfahren und glaubt nun, dass Elisabetta ihr den Sinn in ihrem Leben geben kann, den sie braucht. Mutig wagen sie den Schritt in etwas, das eine Zukunft für beide werden kann. Valeria Parrella erzählt eine zarte Geschichte voller gewichtiger Botschaften. Sie vermittelt ein tiefes Bild vom Leben im Gefängnis, zeichnet leicht die Biografien der jugendlichen Inhaftierten nach und die Umstände, wie sie dort gelandet sind. Parrella hat eine sehr poetische Sprache gefunden, um die vielen Emotionen minimalistisch und sehr eindrücklich zu schildern. Es ist ein Buch voller Melancholie und Trauer, aber auch voller Hoffnung, das zeigt, dass man neue Schritte wagen sollte. Dieses kurze, aber sehr intensive Buch lässt eine*n sehr bewegt zurück. Nicole Hoffmann

Valeria Parrella „Versprechen kann ich nichts“ Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Carl Hanser Verlag, 138 S., 19 Euro.

 

 

Missy Magazine 02/21, Literaturrezis, Oksana, es reicht

Oksana, es reicht!
Rod, Oki Doki, kleine Idiotin, Konnikova – Oksana hat viele Namen. Bei ihrem richtigen nennt sie meist nur ihr Vater. Erst Faschismus, dann Kommunismus haben von der einst großen Familie mit jüdischen Wurzeln nicht mehr viel übrig gelassen. Mit ihren Eltern und Großmutter Baba verlässt Oksana zu Beginn der 1990er-Jahre die ukrainische Heimat gen USA – die Hoffnung auf ihren ganz persönlichen American Dream im Gepäck. Das hochintelligente, aber eben auch rebellische Mädchen will dazugehören und scheitert ein ums andere Mal an den Konventionen einer Gesellschaft, die sie bereits als Kind kritisch hinterfragt. Als dann auch noch der Vater stirbt, scheint die Zukunft der jungen Einwanderin alles andere als rosig. Maria Kuznetsovas Roman könnte düster und tragisch sein angesichts seiner Erzählung, doch stattdessen sprühen die Missgeschicke der Heldin nur so vor irrwitziger Komik – vor allem, weil es mit den zahllosen und dauerüberforderten Männern in ihrem Leben einfach nie so richtig klappen will. Selbst Kind ukrainischer Immigrierter und (genau wie die Protagonistin) ausgebildete Schriftstellerin ist Kuznetsova mit ihrem Debütroman eine eigentlich unmögliche und daher einzigartige Mischung aus deftigem Humor, melancholischer Wehmut und feinsinnigen Abstechern in die russische Literaturgeschichte gelungen. Lachens- und lesenswert! Judith Werner

Maria Kuznetsova „Oksana, es reicht!“ Aus dem Englischen von Andrea O’Brien. Rowohlt, 288 S., 22°Euro

 

 

Missy Magazine 02/21, Literaturrezis, Sister Outsider

Sister Outsider
Die deutsche Übersetzung der überragenden Essays Audre Lordes ist dringend und längst überfällig. Sie beginnt mit ihrer Schrift „Die Werkzeuge der Herrschenden werden das Haus der Herrschenden niemals einreißen“. Hier spricht Lorde US-amerikanische, weiße Feminist*innen direkt an und fragt sie, wie es sein kann, dass nur sie und eine weitere Schwarze Frau zu einer Konferenz über Rassismus und Sexismus eingeladen wurden. Das war 1979. Im Berlin der 1980er- Jahre spricht sie auch hier weiße Feminist*innen an, um ihnen zu sagen, dass Rassismus für sie ein Anliegen sein muss. Nur ein kurzer Blick in unsere Gesellschaft heute reicht, um zu sehen: Wir haben nichts gelernt. In Lordes Sätzen wird eine tiefgehende Weisheit spürbar, die geprägt wurde durch Erfahrung und ihre Fähigkeit, die leise Stimme in ihr zu hören, als Schwarze Mutter und als Poetin – eine Stimme, die in vielen steckt. Diese Stimme ist Teil einer Gefühlswelt, die in der Vergangenheit stets als Nebensache in die Knie gezwungen wurde. Lorde denkt in größeren Zusammenhängen und stellt auf eindringliche Art die Systemfrage. Ich bekomme Gänsehaut bei den starken Zeilen, die sie einst formuliert hat. Gänsehaut, weil sie mich betreffen, weil ihre Worte das Potenzial haben, mein Herz zu stärken und meinen Mut. Dank ihr wird die Stimme meiner inneren Poetin laut und sie sagt: Du kannst handeln. Michiko Wunderlich

Audre Lorde „Sister Outsider“ Aus dem Englischen von Eva Bonné & Marion Kraft. Carl Hanser Verlag, 256°S., 22 Euro, VÖ: 19.04.

 

 


Geschlecht und Geschlechterverhältnisse
Bei ihrem Anliegen, Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Bewegung zu bringen, legen die Autor*innen den Fokus auf den Dreiklang von Widerstand, Subversion und Solidarität. Wie sehen die Wechselbeziehungen dazwischen aus? Welche Widersprüchlichkeit birgt Widerstand? Welche Ambivalenz steckt in solidarischen Bündnissen, die als grundsätzlich erstrebenswert und notwendig erachtet werden? Bei aller Heterogenität feministischer Theorien und Praxen verbindet alle Beiträge die Annahme, dass ihr zu erforschender Gegenstand – also Geschlecht, Geschlechterverhältnisse und -differenz – einerseits als Konstruiertes gegeben ist, zugleich aber auch im feministischen Erkenntnisprozess konstruiert wird, dieser „mithin Teil hat an der Produktion der Unterscheidung nach Geschlecht“. Wichtig ist den Autor*innen zudem, ihre Fragestellungen aus einer dezidiert queerfeministischen Perspektive zu formulieren sowie feministische Theorie und Praxis zu verknüpfen. Auf dieser Basis werden so unterschiedliche Themenfelder wie die Herstellung von Gendernormen durch psychiatrische Diagnosen, queere Erinnerungspolitiken, widerständiger Witz als feministische Strategie, die „Zurichtung“ von Mädchen in der Heimerziehung oder die Chancen einer transkulturellen feministischen Solidarität auf höchst produktive Weise verhandelt. Carola Ebeling

Verena Sperk, Sandra Altenberger, Katharina Lux, Tanja Vogler (Hg.) „Geschlecht und Geschlechterverhältnisse bewegen. Queer/Feminismen zwischen Widerstand, Subversion und Solidarität“ transcript, 244 S., 40°Euro

Fragmente über das Überleben
In ihrem ersten Buch schreibt Elsa Fernandez über das Überleben. Es ist eins der wenigen wertvollen Bücher, die sich aus romani Perspektive dem Thema Gadje-Rassismus annehmen. Dieses Wort ist ein selbstgewähltes, dass das „Netz der Verleumdungen, Verleugnungen und Zuschreibungen und das Ausmaß der Gewalt beschreiben, die Rom*nja, Manouches, Sinti*zze, Kalé und andere romane Communitys erlebt und überlebt haben, erleben und überleben“. Das Besondere an dem essayistischen Werk ist einerseits die scharfe Kritik, die die Autorin an europäischen „Erinnerungskulturen“ formuliert. Nicht nur, dass der Pharrajmos als etwas Abgetrenntes von der aktuellen Verfolgung und Diskriminierung von romane Menschen verhandelt wird. Sie entlarvt auch die dafür verantwortliche Ignoranz und die ständig sich wiederholenden Unschuldsinszenierungen des hegemonialen Wissens gegenüber dem minorisierten Wissen, auf Seiten der POC. Zentral für das Buch ist, dass Fernandez genau das umkehrt. Sie lässt die Überlebenden sprechen, diejenigen, denen ihr Wissen immer wieder abgesprochen wird. Die Kapitel lassen sich unabhängig voneinander lesen und Fernandez lässt darin Überlebende verschiedenster rassistischer Verfolgungen miteinander in den Dialog treten. Rom*nja sprechen über die sogenannte zweite Verfolgung, als der Pharrajmos von den Täter*innen nicht als Genozid anerkannt wurde. Andererseits erhellt die Autorin neue Aspekte, wie die Überschneidungen von Antisemitismus und Gadje-Rassismus in der Dämonisierung und dem Othering am Beispiel der Wahrsagekunst. Hier wird deutlich, dass in der akademischen Welt – wie in der popkulturellen – Verfolgungen von romane Menschen und anderen POC ständig ausgeklammert werden. In diesem Buch aber nicht! Somi Dubuque

Elsa Fernandez „Fragmente über das Überleben“ Unrast. 179 S., 14 Euro

 Diese Texte erschienen zuerst in Missy 02/21.