An die Ungehörten und Ungesehenen – an meine Geschwister,

dieser Text ist an all jene, denen ein Leben lang eingeredet wurde, sie seien nicht jüdisch, weil angeblich der falsche Elternteil jüdisch ist oder sie in ihrer Praxis den deutschen Ansprüchen nicht genügen. Jenen, die mit dem Unwort „Vaterjüdin*jude“ aufgewachsen sind, und jenen, die nur Weihnachten feiern. Deren jüdische Identität dank nicht-jüdischer Deutungshoheit oft einem Scherbenhaufen gleicht.

Ich weiß, dass ihr den ganzen Scheiß abbekommt, den diese Gesellschaft für Jüd*innen bereithält; aber nicht die Chance, den Schutz und den Halt in den lebendigen, kräftigen und verbindenden Wurzeln des Judentums findet, weil andere euch dieser konsequent beschneiden. Ich sehe, wie das Aufwachsen in Deutschland uns allen die Sprache raubt, euch sogar aberzogen wird, euch selbst beim Namen zu nennen; zu sagen, wer ihr (auch) seid. Wie euer Schweigen oft nicht mal mehr eine Frage des Trauens, sondern des Könnens geworden ist, weil ein nicht-jüdisches Außen euch von klein auf die Legitimität abgesprochen hat, als Jüd*innen zu existieren. Antisemitismus bedeutet, Gojim* glauben, es sei ihr Recht zu fragen, welches Elternteil jüdisch ist. Antisemitismus bedeutet, sie glauben, es sei ihr Recht, unser Jüdischsein infrage zu stellen. Antisemitismus bedeutet, sie glauben, es sei ihr Recht, Beurteilungen zum vermeintlichen Grad des Jüdischseins unserer Person abzugeben. In NS-Manier, nach Halb, Voll, Viertel oder aufgrund von Haltungsnoten in der Praxis. Und wir sind in ihre antisemitische Selbstverständlichkeit hineingeboren. Ihr Antisemitismus ist unsere Normalität und wenn wir nicht von jüdischer Gemeinschaft umgeben sind, die uns erzählt, wer wir sein können, ist es ein Wunder, wenn ein Teil in uns nicht an der Masse zerschellt, die bestimmt, wer wir nicht sein dürfen. Die so vielen von uns abspricht, sich bei eigenem Namen zu nennen.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Wir leben als Jüd*innen in einem Land, in dem das florierende jüdische Leben vernichtet wurde, und wir leben in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft, die nach wie vor alle Weichen dafür setzt, dass kein selbstbewusstes und selbstständiges Judentum nachwachsen kann, in dem sie sich nach wie vor die Deutungshoheit über uns vorenthält und jüdisches Leben nur in Relation zu sich selbst existieren lässt. Und ich weiß, jüdische Anbindung ist eine Ressource. Und ich weiß, jene von euch, die diese nicht haben, sind dieser Deutungshoheit in der Regel schutzlos ausgesetzt. Ohne Alternativen und mit voller Wucht. Und wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann wissen wir, dass auch in unseren wenigen Strukturen, in den Gemeinden und Organisationen, diese ständige Außen- und Fremddefinition, das Verfügen über jüdische Identität und der äußere Druck, was jüdisch sein darf, nicht nur Spuren hinterlässt, sondern auch sie auch mitformt. Diese Gesellschaft lässt uns nicht einfach sein; sie lässt keinen Raum, dass jüdische Kultur hier nachwachsen kann; sie versucht, sich einen jüdischen Ziergarten heranzuzüchten. Und sie glaubt, das Recht zu haben, zu entscheiden, wer von uns darin wachsen darf und wer nicht.

Dieser Text ist an all jene, die gelernt haben, dass sie angeblich nicht jüdisch sind; die gelernt haben, dass ein Teil von ihnen nicht existiert, weil ein Außen es ihnen abspricht,  weil angeblich das falsche Elternteil jüdisch ist, oder sie in ihrer Praxis den deutschen Ansprüchen nicht genügen. Und ich schreibe ihn für euch, weil ich das Gefühl der Isolation kenne, ein Gefühl, das so viele von uns kennen, und ich mir vorstellen kann, wie viel größer es sein muss, wenn man stumm und namenlos – noch unexistenter, als Jüd*innen ohnehin schon sind – gemacht wird. Ich sehe, wie viele von euch sich unberechtigt fühlen, auch nur zu denken, wer ihr vielleicht (auch) seid. Und weil wir alle in der gleichen falschen Normalität aufwachsen, hört ihr uns oft nicht sagen, was ihr hören solltet. Und wir sollten nicht aufhören, es uns zu sagen, bis wir es fühlen und atmen und an Generationen weitergeben können, um sie nicht auch in dieser Gesellschaft verloren gehen zu lassen, wie so viele von uns es sind:

I see you. Ich nenne dich bei deinem Namen, laut und klar und ohne Zweifel in meiner Stimme. Ich reiche dir meine Hand in Solidarität. Du bist nicht allein mit dieser Unsicherheit und dem Gefühl, nicht zu dürfen. Wenn du es nicht aussprechen kannst, ist es okay, ich weiß trotzdem, wer du (auch) bist. Wenn du es nicht aussprechen kannst, aber brauchst, dass endlich jemand dich beim Namen nennt, spreche ich es für dich aus. Wenn du es aussprechen willst, aber nicht kannst, weil du hören musst, wie dich jemand ohne Zweifel beim Namen nennt, einmal, zweimal, achtmal, werde ich es für dich wiederholen, so oft du es brauchst, bis du es selbst kannst. Ich werde ihn flüstern oder schreien oder dir einfach solidarisch zunicken, was immer du brauchst. Du brauchst nichts wissen, nichts können, nichts wollen. Dein Jüdischsein ist nicht irrelevant, wenn es dir wichtig ist. Es kann dir wichtig sein ohne jeden Grund oder aus jedem, der es ist. Du musst das gegenüber niemandem rechtfertigen. Dein Jüdischsein ist nicht irrelevant, wenn es dir wichtig ist, egal, was es in deinem Alltag bedeutet; egal, wie es in deiner Familie (nicht) verhandelt wird. Die Legitimität deines Jüdischseins ist nicht an eine Praxis, an eine Sprache oder ein Land geknüpft. Du bist genug und ich weiß, dass du da bist und dass du nicht sicher bist, ob du dich angesprochen fühlen darfst, but it’s meant for you!

*Gojim ist eine jiddische Bezeichnung für nicht jüdische Menschen