Von Arpana Berndt

TW: Sexualisierte Gewalt

„Was muss ich tun, damit es mir wieder gut geht?“, habe ich mir gedacht und gewünscht, dass es das Erste gewesen wäre, woran ich gedacht hätte. Aber die letzten Stunden hatte ich gar nicht gedacht. Das hatten andere für mich übernommen: Mir etwas zum Anziehen gegeben, mich ins Krankenhaus gefahren, der fremden Person neben mir im Krankenhauszimmer erzählt, was passiert sei, die daraufhin fragte: „War sie betrunken?“ Ich habe ihr Gesicht vergessen und auch das der vielen Ärzte.

„Was muss ich tun, damit es mir wieder gut geht?“, hatte ich das erste Mal gedacht, als sie vorschlugen, Anzeige zu erstatten. Gesichter vergessen, Kontrolle zurück ewinnen, selbst bestimmen, wie es weitergeht, Essen finden, das nach Zuhause schmeckt. Anzeige zu erstatten würde heißen, wieder mit fremden uniformierten Menschen reden, nicht zu wissen, wie sensibel, verständnisvoll sie sind und nicht zu wissen, ob sie den Täter für den Täter halten oder das Opfer. Anzeige zu erstatten würde heißen, sein Gesicht wieder zu sehen, das ich schon vergessen habe, und einen Namen zu kennen, der nachklingen würde. Es würde auch heißen, das an dem Ort, an dem alle gerne reden, alle über mich reden würden. Und es hieße auch, sich die nächsten Wochen, Monate, Jahre ständig verteidigen zu müssen.
„Aber hast du nicht Angst, dass er dasselbe mit einer anderen macht?“, fragten sie und übertrugen mir die Verantwortung für sein Handeln auf.

Arpana Aischa Berndt

ist Autorin und in der politischen Bildungsarbeit tätig. Sie studiert Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus und beschäftigt sich in ihrer Abschlussarbeit mit Horror und Empowerment. In ihren Workshops behandelt sie Fragen zu Allyship, Allianzen und Rassismuskritik. Auf Instagram ist sie unter @a_aischa zu finden. Foto: cv studio berlin

„Was muss ich tun, damit es mir wieder gut geht?“ Den Ort verlassen, an dem alle gerne reden: dass es definitiv Alkohol, nicht K.o.-Tropfen gewesen seien. Dass dies nun einen Schatten auf die ganze Veranstaltung werfe, als bereuten sie es, mich eingeladen zu haben und nicht einen Vergewaltiger. Und ich bekomme für einen kurzen Moment sogar ein schlechtes Gewissen, für den Schatten, der sich über alles legte.
Ich ziehe für ein paar Wochen zu einem Freund, der keine Fragen stellt, aber immer wieder meine Hand hält, und eine neue Freundin drückt meine Hand, als ich die Testergebnisse vom Arzt öffne. Andere Freund*innen gehen einfach, oder ich bitte sie darum.

Ich merke schnell, dass ich ganz genau weiß, was ich tun muss, damit es mir besser geht. Darüber sprechen finde ich okay[1], doch die Reaktion vieler Menschen unerträglich.  Ich stelle fest, dass es für viele Menschen schlimmer ist, wenn sexualisierte Gewalt angesprochen wird, als dass sie passiert. Und gleichzeitig: Niemand will drüber sprechen, aber jede*r hat was dazu zu sagen. So denke ich für einen kurzen Moment, ich wäre allein, obwohl mir gleichzeitig klar war, dass ich es nicht bin.

Sobald Menschen in meinem Umfeld oder in der Öffentlichkeit über sexualisierte Gewalt sprechen wird mir erneut sichtbar, dass Menschen nicht nur ähnliches erleben, sondern exakt der gleichen Reaktion, den gleichen Worten, denselben Mechanismen ausgesetzt sind: Wenn du sofort Anzeige erstattest, wird gefragt, welche Kleidung du anhattest, wie viel du getrunken hast, warum du nicht einfach „Nein“ gesagt hast.
Wenn du erst Jahre später die Gewalt ansprichst, wird der Grad der Gewalt mit der Anzahl der Jahre, die du geschwiegen hast, relativiert. Nach dem Motto: Wenn du so lange Schweigen konntest, kann es nicht so schlimm gewesen sein.
Oder: Warum zerstörst du die Stimmung, willst du nur die Aufmerksamkeit? So oder so, es wird dir signalisiert: Mach das mit dir aus, finde du für dich einen Umgang damit, aber in deinem stillen Kämmerchen. Sei nicht laut, sprich nicht öffentlich, verbreite keine unangenehme Stimmung. Wer behauptet, dass Menschen nur der Aufmerksamkeit wegen über sexualisierte Gewalt sprechen, negiert, dass das Ansprechen mit noch mehr Gewalt und psychischem Stress einhergeht und du dich in dieser ständigen ermüdenden Verteidigungshaltung befindest.

„Was muss ich tun, damit es mir wieder gut geht?“ – und ich weiß, dass der individuelle Umgang mit sexualisierter Gewalt kompliziert ist und in einem System stattfindet, dass dir signalisiert, dass weder Fürsorge noch öffentliches Sprechen oder rechtliche Schritte gegen Täter einzuleiten, der angemessene Umgang ist.

[1] Vorausgesetzt, ich kann entscheiden mit wem und wann ich sprechen möchte. Gespräche über sexualisierte Gewalt können natürlich nur mit einer Sensibilität für mein Gegenüber stattfinden, denn vielleicht hat meine Gesprächspartner*in einen anderen Umgang damit.