TEXT: Debora Antmann
ILLUSTRATION: El Boum

Ich war neulich in Hengameh Yaghoobifarahs wundervollem Podcast „Auf eine Tüte“ zu Gast und habe eine für mich bittere Wahrheit ausgesprochen: Ich habe Angst, dass in zehn, zwanzig, dreißig Jahren niemand mehr weiß, wer ich bin. Und diese Angst ist nicht nur meinem Narzissmus geschuldet, sondern auch eine logische Folge der Arbeit, die ich mache.

Mein Gefühl von Heimatlosigkeit und Dissonanz in dem, was mein queeres und feministisches zu Hause sein sollte, war für meine Professorin ein alter Hut. Wie selbstverständlich schleuderte sie mir den Namen „Schabbeskreis“ entgegen und erwähnte, dass die das ja schon in den Achtzigern lauthals kritisiert hätten. Mein ausdrucksloser Blick verriet ihr, dass ich keine Ahnung hatte, wovon sie redete, und so entstand mein erster Forschungsauftrag für ein Buch. Aber ich war nicht die Einzige, die keine Ahnung hatte, wer oder was der lesbisch-feministische Schabbeskreis war. Niemand in meinem Umfeld, egal, ob aus dem aktivistischen oder aus dem akademischen Umfeld hatte jemals von diesem Schabbeskreis gehört. Keine einzige Suchmaschine spuckte auch nur ein Ergebnis aus – das war 2013 –, heute ist das zum Glück anders. In Archiven fand ich vage Spuren, einschlägige Literatur zu Intersektionalität verlor kein Wort zu der aktivistischen Gruppe, die laut und präsent aus jüdischer Perspektive das universelle „Wir“ der Frauen- und Lesbenbewegung infrage stellte. Also führte ich Interviews und siehe da: Ich fand keine frauenbewegten und antirassistischen Aktivist*innen der Achtziger, die nicht wussten, wer der Schabbeskreis war und was er gemacht hat. Zu viel Reaktion löste die reine Anwesenheit der Schabbeskreis-Frauen, die für jüdische Sichtbarkeit und später gegen Antisemitismus in der Frauen- und Lesbenbewegung standen, aus. Der Schabbeskreis prägte Debatten um Intersektionalität genauso laut und widerständig mit, wie es bspw. die Krüppellesben, ADEFRA oder die Proll-Lesben taten. Der Unterschied: Schaut man in Basisliteratur zu Intersektionalität wie z. B. in Walgenbach etc., dann stehen diese und andere wichtige Akteur*innen der Achtziger und Neunziger dort als Grundsteinleger*innen der intersektionalen Debatten in Deutschland drin, aber der Schabbeskreis? Fehlanzeige. In dem einen oder anderen Werk werden am Rande in völliger Anonymität Jüdinnen als Teil der Bewegung erwähnt.

Hengameh hat mich gefragt, ob ich durch meine Community schneller Zugriff auf diese „Legacy“ jüdischer Bewegungsgeschichte hatte oder ob ich in die Archive musste. Ich bin Hengameh im Nachhinein sehr dankbar für diese Frage, denn ich WAR das Schabbeskreis-Archiv, bis das FFBIZ dankenswerterweise all die gesammelten Materialien, wie Flyer und Workshopmaterial, Protokolle, Rohschriften von Texten, falsche Bärte und Pejes – alles, was ich von den ehemaligen Schabbeskreis-Mitgliedern bekommen konnte und sich in meinem Arbeitszimmer gestapelt hat, bei sich im Archiv aufgenommen hat. Der Schabbeskreis wurde namenlos gemacht und aus Bewegungsgeschichte rausgeschrieben und es hat mich viel Zeit und Energie, Arbeit und Verzweiflung gekostet, sie überhaupt wieder zum Begriff zu machen, damit eine ganze Generation sie wieder in Bewegungsgeschichte einschreiben kann. Damit unsere aktivistischen Roots nicht verschwinden.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

 

Es ist eine lange Tradition, Jüd*innen aus der Geschichte rauszuschreiben. Aus der deutschen Frauen- und Bewegungsgeschichte sowieso. Aber auch global gesehen. Ein populäres Beispiel sind die Stonewall Riots 1969 und die immense Beteiligung jüdischer Aktivist*innen. Es ist wichtig zu betonen, dass die Stonewall Riots nicht von weißen schwulen Männern getragen wurden. Es ist also eine queer-aktivistische Tradition zu sagen, wer die Aktivist*innen tatsächlich waren: Schwarze Dragqueens und trans* Personen sowie Dragqueens und trans* Personen of Color. Was nicht erzählt wird: wie wichtig Jüd*innen in der Gay Liberation Front waren, welch immense Rolle sie in Bezug auf die Mobilisierung und Politisierung nach dem 28. Juni gespielt haben.

Meine Angst, dass in zehn, zwanzig, dreißig Jahren also niemand mehr weiß, wer ich bin, obwohl ich so viel meiner Lebensenergie darauf verwende, Strukturen, Räume, Gedanken und Luft zu schaffen, in denen wir existieren können, ist nicht nur die Angst vor der Erschütterung meines Geltungsbedürfnisses. Es geht nicht darum, wer ICH bin. Wenn ich sage, dass ich Angst habe, dass in zehn, zwanzig, dreißig Jahren niemand mehr weiß, wer ich bin, worin meine Arbeit besteht, dann meine ich damit, dass meine größte Sorge ist, dass Bewegungsgeschichte das tut, was sie immer getan hat: die jüdischen Stimmen, die Bewegungsgeschichte mitgestalten, rauszuschreiben. Ich bin Teil eines jüdischen Bewegungskanons und was ist, wenn in zehn, zwanzig, dreißig Jahren wieder niemand weiß, dass es uns gab? Wenn wir – mit Glück – eine namenlose Randbemerkung werden? Wenn die Erzählung von Bewegungsgeschichte das tut, was sie immer getan hat: uns Kontinuitäten zu verwehren, weil unsere Geschichten nicht erzählt werden? Ich erhebe keinen Anspruch auf Zeitlosigkeit. Wahrscheinlich sind meine Texte 2050 an Albernheit kaum zu übertreffen, aber ich weiß, dass ich in den letzten zehn Jahren Jüd*innen berührt habe, dass ich Gedankenräume geschaffen und erweitert habe und Möglichkeiten jüdischer Identität greifbarer gemacht habe – zumindest für ein paar Menschen. Und das hat Relevanz. Ich schreie meine bedingungslose Solidarität mit Jüd*innen seit zehn Jahren in den deutschsprachigen Orbit und ich glaube, manchmal ist Leuten nicht bewusst, wie einsam diese Arbeit am Anfang war. Ich war da vor den Keshets * und Rainbow Chawurahs **, vor den Telegrammgruppen und sogar vor den desintegrativen Kongressen. Ich habe für queere jüdische Geschichte und Wissen, für jüdische Wirklichkeiten und Legitimität eingestanden, wo es keine Community gab, wo für alle die Isolation noch viel größer war als jetzt – zehn, acht, sechs Jahre später, weil es einfach NICHTS gab. Umso wohltuender ist es heute, Teil eines Kanons zu sein. Umso schmerzhafter wäre es, wenn schon eine Generation später alle Spuren von uns von anderen – von Nicht-Jüd*innen überschrieben worden wären. Wir müssen uns unsere Geschichte(n) gegenseitig erzählen!

Es gibt diese Drohung: Das Internet vergisst nichts und vielleicht ist das für die jüdische Bewegung ein Glück. Vielleicht ist das der Schlüssel für unsere Kontinuität. Und trotzdem, an die unter euch, die schon Professor*innen sind oder es noch werden: Wenn in dreißig Jahren ein*e Student*in vor euch steht und von jüdischen Struggles erzählt, dort, wo eigentlich das queere oder feministische Zuhause sein sollte, vielleicht könntet ihr dann sagen: Schau mal in dieses antiquierte Archiv namens Internet, in den 2020ern gab es diese schrullige lesbisch-jüdische Aktivistin, die in ihren Texten immer so unverhältnismäßig viel geflucht hat. Vielleicht heitert dich das auf. Dorothea Altmann oder Amtmann oder so …

Ich würde mich freuen :)

 

*Keshet Deutschland hat sich 2018 gegründet und ist ein Verein für jüdische LGBTIQ und Allies, der sich für LGBTIQ-Rechte in den Gemeinden einsetzt.

**Rainbow Chawurah hat sich 2016 zusammengefunden und war (seit Ende 2017 inaktiv) eine jüdische queere Gruppe mit Schwerpunkt Empowerment und religiöse Praxis aus queerer Perspektive.